Brexit: Welche Entscheidungen jetzt anstehen
MITARBEIT: OTMAR LAHODYNSKY
Es ist vorbei, das Urteil klar: Die Briten wollen mehrheitlich raus aus der EU. David Cameron wird zurücktreten. Wer auch immer im Oktober neuer britischer Premierminister wird, muss harte Entscheidungen treffen. Doch welche? Was passiert, wenn ein Land austritt? Was würden Sie tun? Ihr Austritt beginnt mit folgenden zwei Optionen:
Sie wollen in bestmöglichem Frieden aus der EU ausscheiden, also leiten Sie das in Artikel 50 der Europäischen Verträge vorgesehene Ausstiegsszenario ein. Was dann passiert, lesen Sie bei ➡2.
Raus heißt raus - und zwar gleich! Sie lösen alle Verträge auf und berufen sich dabei auf das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge aus dem Jahr 1972. Gehen Sie zu ➡1.
1 Ins Ungewisse springen
Gratulation, Sie sind jetzt ein bisschen Grönland! Die dänischen Kolonie trat 1985 aus. Mit diesem Vorbild werden Sie aber nicht viel anfangen können. Die 55.000 Grönländer gehörten zur EG, die viel loser organisiert war. Trotzdem verhandelten sie insgesamt drei Jahre, bevor sie gingen.
Unter Völkerrechtsexperten ist umstritten, wie legitim die Cold-Turkey-Strategie des unilateralen Rückzuges ist. Das Argument: Hätten die Briten und die EU diese Möglichkeit vorgesehen, wäre sie festgeschrieben worden. Fest steht: In dieser Variante muss Brüssel nicht zwingend mit den Briten verhandeln, die völlig auf sich allein gestellt sind.
Viele Optionen haben Sie in diesem Fall nicht mehr, lesen Sie weiter bei ➡4.
2 Am Verhandlungstisch
Artikel 50 also - das bedeutet zwei Jahre Atempause. Konkret passieren nun zwei Dinge: Erstens läuft alles wie bisher. Das Land zahlt brav seine rund fünf Milliarden Euro netto im Jahr nach Brüssel, die Minister beraten über all die verhassten EU-Regeln mit, der britische EU-Kommissar für Finanzen bleibt im Amt, und britische Abgeordnete stimmen im EU-Parlament über alles ab.
Zweitens können Sie schon einmal damit beginnen, eine Armee von Rechtsberatern und Lobbyisten anzuheuern und das 120 Diplomaten starke Korps in Brüssel massiv aufzustocken. Dort sitzen Sie dann der EU-Kommission gegenüber, die sich mit Ihnen auf eine Ausstiegsvereinbarung einigen muss. Artikel 50 benachteiligt die Briten massiv: Am Ende stimmen die EU-Länder ohne Sie über den Text ab, das EU-Parlament kann ein Veto einlegen - wie auch bei zukünftigen Deals, die Sie anstreben.
Die Masse von Agenden, die nun zu verhandeln sind, ist kaum überschaubar. Ihre Unterhändler müssen darüber feilschen, ob Sie Tausende EU-Normen übernehmen wollen oder wie künftig Arztkosten von 1,5 Millionen in EU-Ländern lebenden Briten verrechnet werden. Es geht um Visa, Niederlassungsbewilligungen und die Arbeitserlaubnis auf dem Kontinent. Das komplizierte EU-Budget muss entwirrt und ein Ersatz für die britische Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr gefunden werden. Die 27 EU-Länder setzen Sie unter Druck: Man will die Abtrünnigen, so schnell es geht, zu Beobachtern ohne Stimmrecht machen.
Ihre größte Baustelle ist jedoch der europäische Binnenmarkt. Zwar gehen die meisten Exporte Ihres Landes in die USA (rund 90 Milliarden Pfund im Jahr 2014). Dahinter folgen aber drei EU-Länder, die zusammengenommen wichtiger sind (Deutschland, Niederlande und Frankreich, insgesamt mehr als 100 Milliarden Pfund). In den vergangenen Jahren haben auch die Briten daran gearbeitet, alle auf einen Nenner zu bringen; nun stehen sie einem Haufen bürokratischer Details gegenüber - von Konsumentenschutzregeln bis zu Zöllen, die man ihnen umhängen könnte. Dass man Ihnen entgegenkommt, ist unwahrscheinlich: Erstens ist die EU sauer, zweitens muss Brüssel hart sein, um die Nationalisten von FPÖ bis Front National abzuschrecken. Drittens haben sich die Briten im EU-Rat selbst geschadet: Ohne ihre Stimmen kann der protektionistische Block nun eine schmale Mehrheit bilden.
Sie geben Ihr Bestes und oft klein bei. Nach zwei Jahren nehmen Sie den Vertrag, den Ihnen die EU hinhält, auch wenn er Sie viel kostet. ➡5
Was die EU Ihnen vorlegt, ist nicht gut genug. Denn Sie zahlen fast so viel wie vorher, selbst Ihre Grenzen würden mit dem Deal nicht wirklich dichter. Sie wollen ablehnen. ➡4
Zwei Jahre sind Ihnen zu wenig Zeit, es ist noch zu viel offen. Sie fragen die EU, ob sie vielleicht länger verhandeln können als vorgesehen. ➡3
3 Auf Zeit spielen
Auch die Kanadier brauchten sieben Jahre, um sich mit der EU über Freihandel zu einigen; selbst Mexiko (vier Jahre) und Südkorea (drei Jahre) schafften es nicht in den zwei Jahren, die Ihnen laut EU-Recht bleiben. Nur: Sie müssen in Brüssel auf den Knien rutschen, damit man Ihnen verlängerte Verhandlungen gewährt, denn diese müssen einstimmig beschlossen werden. Dafür steht nirgendwo geschrieben, wie lange die neuen Runden dauern dürfen. Entscheiden müssen Sie sich am Ende trotzdem.
Sie sind jetzt zufrieden und bereit, das EU-Ergebnis anzunehmen. ➡5
Das funktioniert für Sie noch immer nicht, Sie lassen es doch lieber bleiben. ➡4
4 Einmal ohne alles
Wie auch immer Sie hier gelandet sind, es hätte besser laufen können. Zwischen den Briten und der EU ist es aus, das ist sicher, aber sonst nicht viel. Die Probleme, die zu verhandeln wären, sind virulent: Rund eineinhalb Millionen Briten leben in rechtlich unklarem Status in EU-Ländern. Zu Hause müssen Sie wiederum entscheiden, wie sie die drei Millionen EU-Bürger - darunter auch Ärzte, Manager und Studenten - auf der Insel bürokratisch behandeln wollen. Dazu drohen Zölle, Handelsbarrieren und Rechtsstreitigkeiten. Sie stehen einem Haufen ungelöster Fragen gegenüber, während das Pfund ins Bodenlose stürzt und an der Börse innerhalb von Sekunden Milliarden vernichtet werden. Ohne EU soll das Bruttoninlandsprodukt in nur vier Jahren um drei Prozent niedriger liegen, errechnete die OECD. Einige internationale Unternehmen wollen ihre Werke von der Insel auf den Kontinent retten; der italienische Autohersteller Fiat hat bereits vor dem Referendum angekündigt, ein Traktorenwerk in die Nähe von Graz zu übersiedeln.
Die einzigen Regeln, die für Großbritannien noch gelten, stehen in Papieren der UN oder der Welthandelsorganisation. Es sind Minimalstandards, so etwas wie der unterste Boden des völkerrechtlichen Vertragswerkes. Wenn die Briten effizient, billig und ohne Zölle wirtschaften wollen, brauchen Sie mehr, viel mehr. Dafür müssen Sie nun mit mehr als 100 Ländern einzeln verhandeln (wenn Sie Glück haben, redet die EU noch mit Ihnen). Noch dazu müssen Sie hoffen, dass Donald Trump in den USA die Wahlen gewinnt, denn nur er hat angeboten, eher früher als später mit Ihnen zu reden.
Wenn es nicht ohnehin schon passiert ist, droht Ihr Land nun endgültig zu zerbrechen: Die Schotten drängen auf Unabhängigkeit. Die Nordiren sehnen sich nach Irland und fühlen sich verlorener denn je. Zwar hat Ihr Land am Ende noch alte Bande zum vergangenen Empire, nämlich über den Commonwealth. Dass Kanada, Australien und ein paar karibische Inseln die Briten zu alter Größe bringen, ist aber höchst fraglich. Was aus Ihnen wird, steht in den Sternen. Fest steht: Zurück können Sie nicht. Das Referendum von 23. Juni 2016 ist zwar nicht bindend, eine weitere Abstimmung kommt jedoch aus politischen Gründen nicht infrage.
5 Ohne Rosenkrieg geschieden
Sie haben das Ganze hinter sich gebracht wie eine Trennung, nach der man sich in die Augen sehen kann und die Besuchszeiten für die Kinder geregelt hat. Ihr Modell sieht vermutlich aus wie jenes von Norwegen (das über die EWR automatisch alle Regeln für den Binnenmarkt übernimmt) oder jenes der Schweiz (die jeden Vertrag einzeln beschließen muss). Die Briten dürfen Autos, Finanzprodukte oder Rinder auf dem Kontinent verkaufen. Die Grenzen sind offen, die Polizei kooperiert weiter gut, die Armeen reden via Nato miteinander.
Ihr Land zahlt jetzt ein paar Milliarden Euro nach Brüssel, um dabei sein zu dürfen. Sie haben aber keine Stimme mehr, ihre in den 1980er-Jahren erstrittenen Rabatte und Ausnahmen gibt es nicht mehr, die 73 britischen EU-Parlamentarier sind genauso heimgekehrt wie Ihr Kommissar. Dafür werden Diplomaten, Anwälte und Lobbyisten gesucht: Mit deren Hilfe müssen die Briten sicherstellen, dass sie in der Welt gehört werden.
Jetzt sind nur noch ein paar Sachen offen. ➡6
6 Der letzte Schliff
Sie haben es also geschafft: Raus aus der EU und trotzdem noch irgendwie dabei. Nun müssen Sie sich um die letzten Formalitäten kümmern. Rund 50 Länder haben mit der EU Freihandelsverträge abgeschlossen, die Großbritannien nun noch einmal verhandeln muss. Sie müssen sich überlegen, ob die britischen Steuerzahler die Bauern (und die Queen) nun selbst mit Milliarden überhäufen sollen und wie viele Fische die Schiffe aus dem Meer ziehen dürfen. Die Europäischen Gerichtshöfe verhandeln noch ein paar Fälle mit britischer Beteiligung, die sich über Jahre hingezogen haben und für die nun die Rechtsgrundlage fehlt. Die Leave-Wähler forderten außerdem im Juni 2016, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verlassen, das können Sie jetzt auch angehen. Das ist zwar lange her, aber Austritte dauern eben etliche Jahre. Die EU-Fahnen im Land werden langsam eingemottet, und auch neue Reisepässe müssen bestellt werden. Auf den alten steht nämlich, dass die Briten zur Europäischen Union gehören.