Bürgermeister Robert Biedron
Stadtrevolte

Polen: Kann die urbane Opposition das Land verändern?

Polen: Kann die urbane Opposition das Land verändern?

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„Schließt eure Augen und stellt euch Polen vor“, sagt eine Stimme aus den Lautsprechern in das Dunkel des Saals hinein: „Das Polen eurer Träume, in dem ihr leben wollt. Ein Polen mit Visionen, vereint, gerecht und fair. Ein Polen, in dem alle gleich viel zählen.“

Der Konferenzsaal des Hotels „Mercure“ in Jelenia Góra ist bis auf den letzten Platz besetzt. Die Augen der Anwesenden sind geschlossen. Sie haben sich in der Kleinstadt an der polnisch-tschechischen Grenze versammelt, um gemeinsam mit einem Mann zu träumen: Er heißt Robert Biedroń (Foto), 42 Jahre alt, grau meliertes, struppig gegeltes Haar, Slim-Fit-Anzug. Bis vor Kurzem war er Bürgermeister einer anderen polnischen Kleinstadt: Słupsk, knapp 92.000 Einwohner. Er gilt als urban und progressiv, fährt Fahrrad und bekennt sich offen zu seiner Homosexualität. Biedroń ist das Gegenteil jenes Polen-Klischees, das mit erzkonservativen Werten und Katholizismus assoziiert wird.

Liberale Bürgermeister in Polens Städten

Das Licht im Konferenzsaal geht wieder an. Der Traum vom anderen Polen weicht der Realität. In dieser trauert das progressive Polen; Biedroń bittet um eine Schweigeminute: Mitte Jänner starb Paweł Adamowicz, der Bürgermeister von Danzig. Er wurde bei einer Charity-Veranstaltung auf der Bühne mit einem Messer niedergestochen und erlag am nächsten Tag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Auch Adamowicz galt in Polen als fortschrittsliebend und liberal – eine Symbolfigur für alles, was die regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS) nicht ist. „Er war ein Beispiel für andere Bürgermeister“, sagt Robert Biedroń: „Und auch für mich selbst.“

Trauerfeier für den am 19. Jänner getöteten Danzinger Bürgermeister

Kommenden Herbst wird in Polen ein neues Parlament gewählt, die Ausgangslage erscheint vorerst unverändert: Die PiS ist die Partei des ländlichen Raums. Der Widerstand lebt in den Städten. Dort werden oft liberale Bürgermeister gewählt, die sich vehement gegen den reaktionären Kurs der Regierung stemmen.

Der Tod des Danziger Bürgermeisters heizt die ohnehin angespannte Stimmung nun weiter auf. Kaum jemand hat sich so vehement in Wort und Tat gegen das politische Programm der PiS gewendet wie der 53-jährige Adamowicz, der bis zuletzt der Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, kurz PO) angehörte. Die PiS beschwört ein konservatives Familienbild?

Schriftstellerin Olga Tokarczuk: "Erstickende Atmosphäre aus Hass"

Adamowicz marschiert bei LGBT-Märschen mit. Jarosław Kaczyński, die graue Eminenz der PiS, behauptet, dass Ausländer „Cholera, Ruhr und alle Arten von Parasiten“ nach Europa einschleppen? Adamowicz gründet in Danzig das erste Integrationsprogramm für Migranten. Die Regierung versucht, die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen? Adamowicz lädt Vertreter des Verfassungstribunals nach Danzig ein, um ihr 30-jähriges Jubiläum zu feiern.

Nun versuchen die verfeindeten Lager Polens, seinen Tod zu deuten. Regierungsnahe Medien bemühen sich, die Tat als Einzelfall darzustellen; schließlich war bei dem Attentäter eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden. Die Opposition wiederum beharrt darauf, dass der Mord politisch gefärbt sei: Adamowicz galt regierungsnahen und rechten Medien als Zielscheibe. „Regenbogen-Präsident“ nannten ihn PiS-Anhänger höhnisch. In Polen herrsche „eine erstickende Atmosphäre aus Hass und emotionalen Schützengräben, in denen es nur Verräter oder Helden geben kann“, konstatierte die Schriftstellerin Olga Tokarczuk kürzlich in einem Kommentar in der „New York Times“.

Eine hohe Wahlbeteiligung schadet der PiS, weil dadurch vor allem ihre Gegner mobilisiert werden.

Gerade die Städte könnten für die kommenden Parlamentswahlen im Herbst 2019 aber entscheidend sein, sagt Aleks Szczerbiak, Politik-Professor an der University of Sussex. Während sich die PiS ihrer Stammklientel in den ländlichen Gebieten sicher sein kann, ist nicht ausgeschlossen, dass die urbanen Wähler am Ende zu den Königsmachern werden – dann nämlich, wenn die politische Stimmung in der aktuellen Polarisierung vollends überkocht und immer mehr traditionelle Nichtwähler in den Städten zu den Urnen strömen, um gegen PiS zu stimmen. „Eine hohe Wahlbeteiligung schadet der PiS, weil dadurch vor allem ihre Gegner mobilisiert werden“, sagt Szczerbiak. So war es jedenfalls bei den Kommunalwahlen im vergangenen Herbst, als eine Rekord-Wahlbeteiligung von 55 Prozent verzeichnet wurde und die Opposition alle größeren Städte gewinnen konnte.

„Dabei hat PiS vor einem Jahr extra eine breite Strategie entwickelt, um auch bei der urbanen Mittelklasse in den Städten punkten zu können“, sagt Szczerbiak. Mit dem ehemaligen Banker und Finanzberater Mateusz Morawiecki setzte sie einen Premier ein, der eher liberale Wähler ansprechen sollte. Bei den Kommunalwahlen schickte man dann mit Patryk Jaki eine der größten PiS-Nachwuchshoffnungen in das Rennen um den Warschauer Bürgermeister (profil 42/18). Doch das Kalkül ging trotz aller Bemühungen nicht auf: In Warschau setzte sich der liberale und recht farblose Kandidat Rafał Trzaskowski bereits im ersten Wahlgang überraschend klar durch (57 Prozent). Kurz: An den Städten beißt sich die PiS nach wie vor die Zähne aus.

PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski: Die Regierungspartei hat eine Strategie entwickelt, um auch bei urbanen Schichten zu punkten - bisher allerdings erfolglos.

Die hitzige Debatte nach dem Tod von Paweł Adamowicz kommt der Regierung daher denkbar ungelegen. „Das erzeugt eine Atmosphäre der moralischen Panik, in der viele Polen mobilisiert werden“, sagt Szczerbiak. In den jüngsten Umfragen sank die PiS zuletzt von 33 auf 30 Prozent, die Bürgerplattform PO liegt nur noch fünf Prozentpunkte dahinter.

Dieser Tod wird das gesamte öffentliche Leben in Polen verändern.

Vor der Fensterfront des Solidarność-Zentrums in Danzig liegen die Kräne und Industrieruinen der ehemaligen legendären Lenin-Werft. Hier formierte sich in den 1980er-Jahren der Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft. Das Zentrum, eine Mischung aus Museum, Gedenkstätte und Forschungseinrichtung, wurde 2014 errichtet und durch EU-Gelder mitfinanziert. Es war das Lebenswerk von Paweł Adamowicz.

Im dritten Stock des Gebäudes sitzt Basil Kerski; die Tränen haben seine Augen gerötet. Der Sohn eines Irakers und einer Polin wurde von Adamowicz zum Direktor des Zentrums ernannt – gegen den erbitterten Widerstand der PiS. „Dieser Tod wird das gesamte öffentliche Leben in Polen verändern“, sagt Kerski mit bitterem Ton. Dass es zu einer Aussöhnung kommt, glaubt er nicht. Im Gegenteil: Die Gräben würden nun immer tiefer, meint er. Die Spannung zwischen den Städten und der Zentralregierung sei durch diesen Mord erst recht entfacht worden: „Paweł Adamowicz war das Symbol der polnischen Oberbürgermeister gegen diese Regierung.“

Kerzen und Rosen in Danzig

Wer durch Danzig spaziert, kann mit freien Auge sehen, wie beliebt der ermordete Bürgermeister gewesen sein muss. In der Innenstadt gibt es kaum Auslagen, in denen nicht ein Bild oder zumindest eines seiner Zitate hängt. An vielen Ecken der Altstadt wurden Kerzen und Rosen niedergelegt. Bis zu sechs Stunden standen manche Danziger an, um dem verstorbenen Bürgermeister an dessen Sarg die letzte Ehre zu erweisen. „Wenn sich ein führender Politiker hinstellt und klipp und klar sagt, dass dieser Weg wichtig ist, dann löst das auch etwas in den Bürgern aus“, sagt die Aktivistin Marta Siciarek, die mit Adamowicz das Modell zur Integration von Migranten entwickelt hat. Erst im vergangenen Herbst wurde der damals 53-jährige Adamowicz mit 65 Prozent für eine zweite Amtszeit bestätigt.

Als der Bürgermeister begraben wurde, waren es sechs Kollegen aus liberal regierten Städten – unter anderem Warschau –, die seinen Sarg in die Danziger Marienkirche trugen. Etliche Fernsehsender schalteten live zu. „Mit Adamowicz haben wir einen wichtigen Kompass in der politischen Landschaft verloren“, sagt Rafał Trzaskowski, Bürgermeister von Warschau: „Wir wollten damit unsere Solidarität zeigen und sein klares Bekenntnis zur regionalen Selbstverwaltung ehren.“

Warschauer Bürgermeister Rafal Trzaskowski. Die Städte sind in Polen ein natürliches Gegengewicht zur Zentralregierung

Hohe Unabhängigkeit der Städte

Polnische Bürgermeister besitzen besonders große Autonomie – vor allem die „Prezydenty miasta“, die sogenannten „Stadtpräsidenten“ in Kommunen mit mindestens 100.000 Einwohnern. Nirgendwo sonst in den osteuropäischen EU-Mitgliedsländern sind die Städte politisch und fiskalisch so unabhängig wie in Polen. Das macht sie zu einem natürlichen Gegengewicht zu denen, die in der Hauptstadt an der Macht sind. Zwar hat die PiS schon versucht, „das hohe Niveau der lokalen Autonomie in den vergangenen drei Jahren zu beschneiden“, sagt Zselyke Csaky von Freedom House – etwa durch Reformen im Bildungssystem oder bei der Infrastruktur. Dennoch können fast alle der 107 polnischen Stadtpräsidenten heute der Opposition zugerechnet werden. „Außerdem ist Polen groß genug, um bedeutende regionale Machtzentren auszubilden“, so Csaky.

Dass diese anders ticken als der Rest des Landes, zeigt sich auch in Słupsk, wo Robert Biedroń im Jahr 2014 zum Bürgermeister gewählt wurde. In einer seiner ersten Amtshandlungen ließ er in seinem Kabinett das Porträt von Papst Johannes Paul II. abhängen, der in Polen wie ein Nationalheiliger verehrt wird. Er wolle die „Trennung zwischen Kirche und Staat“ betonen, erklärte Biedroń. Als eine Lehrerin vor ihren Schülern gegen Flüchtlinge wetterte, lud er eine syrische Familie in die Schulklasse ein, die von ihrer Flucht erzählte. Als die PiS damit begann, die polnische Justiz umzukrempeln, ließ Biedroń in jeder Schule die Präambel der polnischen Verfassung aufhängen, „im Willen, Bürgerrechte immer zu achten“, wie es in dem Schriftstück heißt. Während Polen politisch immer weiter nach rechts gerückt ist, regierte Biedroń seine Stadt mit einem Mix aus linker Sozial- und grüner Umweltpolitik.

„Die Menschen suchen nach einer Alternative“

Nun plant er das kleinstädtische Modell in ganz Polen zu verbreiten: Im Herbst startete Biedroń eine landesweite Bewegung. In ersten Umfragen kommt sie bereits auf acht bis neun Prozent. Hat er keine Angst, dadurch zur Zielscheibe im Krieg zwischen Liberalen, Progressiven und Konservativen zu werden – oder, wie sein Vorbild Adamowicz, gar tätlich angegriffen zu werden? Biedroń wischt die Fragen mit einer Handbewegung weg. Zwar wurde er in seiner Zeit als Parlamentsabgeordneter in Warschau von Unbekannten verprügelt. Doch selbst nach dem Mord an seinem ehemaligen Amtskollegen bleibt er zuversichtlich. „Die Menschen haben genug von diesem polnisch-polnischen Krieg“, sagt Biedroń: „Sie suchen nach einer Alternative.“