Weinstein-Prozess als Stresstest für #MeToo
Müsste man für eine Netflix-Gerichtsserie eine „Advocata diaboli“ casten, dann würde die 44-jährige Donna Rotunno das Rennen machen: die Beißkraft eines Pitbulls, elegante Coolness im Auftreten und eine nahezu lupenreine Erfolgsquote als Strafverteidigerin von Sexualstraftätern. In ihrer Heimatstadt Chicago läuft sie unter dem Spitznamen „Missis Anti-#MeToo“. Einen Tag vor ihrem Schlussplädoyer am vergangenen Donnerstag im Prozess gegen Harvey Weinstein hatte seine Strafverteidigerin Rotunno der „New York Times“-Reporterin Megan Twohey ein Interview gegeben, das Sprengkraft besaß. War doch Twohey eine der Reporterinnen, die im Oktober 2017, nahezu zeitgleich mit dem Journalisten Ronan Farrow, Weinsteins sexuellen Machtmissbrauch öffentlich gemacht und damit die #MeToo-Bewegung ins Rollen gebracht hatte.
Am Ende des Gesprächs fragte Twohey Rotunno, ob sie je in ihrem eigenen Leben sexuellen Übergriffen ausgesetzt war: „Nein, niemals. Ich habe mich nie auch nur ansatzweise in solche Situationen begeben.“ Als sie mit der Frage nachhakte, ob die Opfer also eine Teilschuld treffe, konterte die Anwältin: „Wenn Sie als Frau einem Mann in sein Hotelzimmer folgen, bedienen Sie damit eine Alltagskultur, die genau solche Übergriffe fördert.“
Ihre Antworten spiegelten auch die Taktik wider, die sie seit Anfang Jänner im New Yorker „Supreme Court“ benutzt und die auch ihr Schlussplädoyer bestimmte: Sukzessive hatte sie die Behauptungen der Hauptzeuginnen zerpflückt oder mit widersprüchlichen Aussagen ehemaliger Wegbegleiterinnnen schwer angeschlagen und in ihren gefürchteten Kreuzverhören die ihrer Causa zuträglichen Antworten bekommen. Ja, beide Hauptzeuginnen, die über Weinsteins Schicksal entscheiden werden, hatten gehofft, mit seiner Hilfe Karriere zu machen. Beide erwiesen sich auch in ihrer Glaubwürdigkeit keineswegs als tragfähige Säulen für die Staatsanwältin Joan Illuzzi-Orbon, deren Curriculum Vitae durch den Freispruch Dominique Strauss-Kahns ohnehin schon bekleckert wurde. Sowohl die Friseurin Jessica Mann als auch Mimi Haleyi, eine frühere Produktionsassistentin in der Weinstein Company, hatten nach Weinstein-Erlebnissen mit „Vergewaltigung, sexueller Nötigung“ und „predatory sexual assault“, was im österreichischen Strafgesetzbuch mit der „Verletzung sexueller Selbstbestimmung“, so der Wiener Anwalt Franz Stefan Pechmann, korrespondiere, Kontakt mit Weinstein. Die traumatisierenden Erlebnisse beider Frauen im Vorfeld deckten sich dramaturgisch: Haleyi sagt, sie wurde von ihrem damaligen Boss 2006 zu „oralem Sex“ im Kinderzimmer in dessen New Yorker Wohnung gezwungen und später in einem Hotel vergewaltigt. Mann und Haleyi schilderten unter Tränen die Nötigung zu oralem Sex und Vergewaltigungen 2013 in Hotels in Manhattan und Beverly Hills.
"Fahr die Schlampen-Strategie"
Der spätere Kontakt beider Frauen nach den Gewaltvorfällen manifestierte sich nicht nur im freundschaftlichen bis liebevollen Mailverkehr, wo sich Sätze wie „lots of love“ oder „zu schade, dass wir uns verpasst haben“ fanden, sondern auch in nachgewiesenen späteren sexuellen Begegnungen mit dem „Predator“, so ein gängiger Terminus der #MeToo-Bewegung für den Aggressor, der mit Raubtier zu übersetzen ist. Die in Kürze erwartete Urteilsverkündung der Geschworenen wird somit auch zum Stresstest für die #MeToo-Bewegung. Sollte Harvey Weinstein, der im Extremfall mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe (in Österreich bei Vergewaltigung maximal 15 Jahre) rechnen muss, das Gericht dennoch als freier Mann verlassen, wird das ein massiver Faustschlag für die #MeToo-Bewegung sein. „Müsste ich Weinstein verteidigen“, analysiert der bekannte New Yorker Opfer-Anwalt Ari Wilkenfeld den Prozess in „Variety“, „würde ich mir auch sagen: Fahr die Schlampen-Strategie. Das ist doch der Klassiker: Die Opfer werden entweder als mental instabil oder als promisk vorgeführt: Wir nennen das im Berufsjargon die Nuts-oder-Sluts-Methode.“
Wie würde sich ein solches freundschaftliches Einvernehmen mit einem früheren Vergewaltiger in der österreichischen Rechtspraxis auswirken? „Juristisch betrachtet, darf ein späteres Einvernehmen ein vorangegangenes Delikt von jeder Art von Gewalt keinesfalls mindern“, so die Wiener Scheidungsanwältin Andrea Wukovits, „doch der Strafbestand und der volle Beweis der Schuld muss durch Indizien nachgewiesen werden. Ich habe den Eindruck, dass die Richter im Falle von Scheidungsverfahren jede sexuelle Thematik meiden wie der Teufel das Weihwasser.“
„Meiner schon länger zurückliegenden strafrechtlichen Erfahrung nach“, so die Wiener Scheidungsanwältin Helene Klaar, „wird jegliches scheinbares Einvernehmen mit dem Täter zu seinen Gunsten gewertet.“
Die „Täter-Opfer-Umkehr“, auch „bekannt unter victim-blaming“, sei eine klassische Verteidigungsstrategie in Strafverfahren bei sexueller Gewalt, erzählt Michaela Egger, Leiterin des Gewaltschutzzentrums in St. Pölten. „Ein Kontakt nach einer angezeigten Strafrat ist ein gefundenes Fressen für die Gegenseite.“ Egger begrüßt ein zunehmendes Verständnis für „schonende oder auch kontradiktorische Vernehmungen“, wo zum Schutz des Opfers die Einvernahme per Video und in einem gesonderten Raum passiere, „um die direkte Konfrontation mit dem Täter zu vermeiden.“
"Trauma-Bonding“
Rotraud Perner ist sowohl Juristin als auch Sexual- und Psychotherapeutin. Dass Opfer von Vergewaltigern noch einmal sexuellen Kontakt mit ihrem Aggressor haben, mag für Außenstehende „irrational“ wirken, ist jedoch unter dem Begriff „Trauma-Bonding“ kein unbekanntes Phänomen: „So versuchen Opfer, sich den eigenen Willen zurückzuerobern und den demütigenden Akt ungeschehen zu machen. Besonders in einem Naheverhältnis zum Täter, im Job oder innerhalb der Familie, kommt das häufig vor.“ Juristisch betrachtet seien solche späteren Verbindungen jedoch „der sichere Weg in die Chancenlosigkeit. Unsere Richter und Staatsanwälte haben leider überhaupt keine Ausbildung, um da differenzieren zu können.“
Wiener Rechtsanwälte, die auf die Verteidigung von Sexualstraftätern spezialisiert sind, wie Franz Stephan Pechmann oder Christoph Naske, fordern in jedem Fall „ein vermehrtes Hinzuziehen von Aussage-Psychologen, die in der Lage sind, erlebnisbasierte Erinnerungen von Pseudo-Erinnerungen“ (Pechmann) zu unterscheiden. Dass die #MeToo-Welle die Rechtsprechung feministisch gefärbt habe, verneint Naske: „Das fing schon viel früher mit dem neuen Opferschutz und der kontradiktorischen Vernehmung an.“ Prinzipiell sei es aber sehr schwierig, „Vergleiche zwischen dem amerikanischen und unserem Rechtssystem zu ziehen.“
Warum im Fall Weinstein von den mehr als 90, oft sehr prominenten betroffenen Frauen im aktuellen Prozess nur zwei über dessen Schicksal entscheiden werden, ist so zu erklären: Viele Fälle sind verjährt, hatten nicht im Staat New York stattgefunden, oder es waren bereits Millionen geflossen, um die Frauen zur Unterzeichnung von Verschwiegenheitserklärungen zu bringen. „Es geht hier nicht um einen Beliebtheitswettbewerb oder Moralfragen. Dass Weinstein ein Sünder ist, ist nicht Ihr Thema“, lautete Rotunnos Appell an die Geschworenen. „Es geht einzig und allein darum, ob er ein strafrechtlich relevantes Verbrechen begangen hat.“
Im Interview mit der „New York Times“ hatte Rotunno im Vorfeld erklärt, dass „ein Mann im heutigen Amerika“ ohne „eine schriftliche Einwilligung“ mit keiner Frau mehr ins Bett gehen solle. Eine Ansicht, die auch Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin der „Autonomen Frauenhäuser“, teilt: „Es ist furchtbar, dass das im 21. Jahrhundert noch notwendig ist. Aber ich bin auch für das schwedische Modell mit einer Unterschrift als Beweis der Einvernehmlichkeit, um einer einseitigen Lustbefriedigung vorzubeugen.“