Die seltsame Stille, wenn Kinder ausziehen
Beinahe zärtlich streicheln Sie über die Harry-Potter-Bände auf dem Bücherregal. Sie sind nahezu irritiert: Plötzlich finden Sie Ihre Klamotten mit einem Griff in Ihrem Kasten. Vorsichtig schaben Sie die festgeklebten Bowie- und Bilderbuch-Poster von der Wand. Sie erinnern sich mit Schaudern an die zig Diskussionen mit der Brut, wie man die so anbringt, dass die Wandfarbe unbeschädigt bleibt. Sie realisieren plötzlich, dass Sie diese Gespräche nie wieder führen werden müssen. Eine bislang unbekannte Gefühlsmischung aus Melancholie und Erleichterung macht sich in Ihnen breit. Willkommen im "empty nest"!
Besatzungsmacht im Wohnzimmer
Die Zahl jener Eltern beziehungsweise AlleinerzieherInnen, die sich mit dem Studienbeginn im Herbst in Österreich an die Konfliktleere und Stille ohne Immerhast-du-nie-Vorwurfssalven in ihren vier Wänden gewöhnen mussten, ist statistisch nicht erfasst. Im Schnitt zieht jeder siebente Studienbeginner aus den Bundesländern nach Wien; 2001 war es noch jeder fünfte, was mit dem erweiterten Angebot an Fachhochschulen in den Landeshauptstädten zu begründen ist. Das Durchschnittsalter der Kinder bei ihrem Auszug aus dem Elternhaus ist in Österreich gesunken: Lag der Altersschnitt 2016 noch bei 25,5 Jahren, ist er jetzt auf 25,2 gesackt. Europaweit sind die hartnäckigsten Nesthocker auf der erzkatholischen Mittelmeerinsel Malta zu finden, die Nation mit den frühesten Unabhängigkeitsbestrebungen (im Alter von 21 Jahren) und den ohnehin auch sonst gesellschaftspolitisch innovativsten Konzepten ist Schweden. Statistiken sind Ihnen aber in diesen Momenten der neuen Leere völlig egal. Schließlich haben Sie "ein privates Weltereignis" zu bewältigen, wie Alfred Polgar das nannte.
Ich habe diese Lebenszäsur schon vor einem Jahr, also eigentlich zwei Jahren hinter mich gebracht: das stufenweise Adaptionsprogramm half bei der Situationselastizität. Nach seinem Studienabschluss war das damals 23-jährige Kind auf Weltreise gegangen; "on tour" im peruanischen Regenwald fand es über Skype einen Job in Berlin, und seither ist es jetzt einmal weg. Klar - anfangs Weltuntergang, Einsamkeitsattacken, kleine Tränenüberschwemmungen im Supermarkt, als man ein überschaubares Häufchen an Lebensmitteln in seinen Wagen schaufelte. Wie schön war es doch gewesen, früher ganze Rinderhälften in Begleitung von diversem Junkfood für eine Meute von Kindern, die angeblich "eh gleich wieder gehen" anzukarren, die sich in meinem eigenen Wohnzimmer wie eine Besatzungsmacht gebärdeten und mich dabei wie eine Naturkatastrophe behandelten - mühsam, aber unausweichlich.
Die post-Exodus-Verklärung
Womit wir schon bei einem ganz wesentlichen Punkt der Bewältigungsstrategie gelandet sind: die post-Exodus-Verklärung, die man sich am besten gleich abschminken soll. Beim Reality-Check wird Ihnen plötzlich klar: So toll, wie man sich das Zusammenleben allein zu Haus im Nachhinein ausmalt, war es tatsächlich nie. Gemeinsame Mahlzeiten mit liebevollen Undwie-war-dein-Tag-Schatzi-Konversationen konnte man sich in der Regel pinseln. Meist löffelte das Kind ein Curry, das es sich aus irgendeinem Bobo-Bezirk mitgebracht hatte ("Deine schmecken einfach nie so"), vor einem kleinen Apple-Monitor, in dem die 48. Staffel von "Friends" oder "Gossip Girl" flimmerte.
In Berlin, erzählte das Kind unlängst, fast vorwurfsvoll, gäbe es ganze Selbsthilfegruppen für verlassene Mütter und Väter, die therapeutisch durch das Tretminenfeld der neuen Sinnleere und Nutzlosigkeit begleitet werden. Die am meisten durch das "empty nest"-Phänomen in Mitleidenschaft gezogene soziologische Gruppe sei, so die Initiatorin Bettina Teubert im "Tagesspiegel", die der Vollzeitmütter und Hausfrauen: "Viele realisieren erst zu dem Zeitpunkt des Auszugs ihrer Kinder die ganze Tragweite. Nämlich, dass sie keinen Job und keine Hobbys haben, weil sich bis dahin ihr ganzes Leben um die Versorgung der Kinder und Familie gedreht hatte." Wenig überraschend und wie auch bei Scheidungen "stürzen Hausfrauen ins sichere Verderben", wie das einmal eine renommierte Wiener Scheidungsanwältin bei einem Hintergrundgespräch beschrieb. Beim Auszug der Kinder nur seelisch, im Fall von Beziehungskatastrophen zusätzlich auch finanziell.
Gefährlich, aber keine Zerreißprobe
Tatsächlich beweisen weltweit mehrere neue Studien, dass der Auszug der Kinder "ihre Eltern weit weniger belastet, als sich das manche meiner Studenten eigentlich wünschen würden", erklärt die US-Universitätsprofessorin für Verhaltenspsychologie Karen L. Fingerman, Autorin des Buches "Mothers and Their Adult Daughters: Mixed Emotions, Enduring Bonds","was auch mit einem erfüllten Berufs-und Sozialleben, vor allem bei Frauen zusammenhängt". Die Recherchen in diversen US-Wissenschaftsmagazinen lassen sich auf folgende neue Erkenntnis herunterbrechen: Die Populärpsychologie mit ihren Dutzenden Lebensratgebern zeichnete in den letzten Jahrzehnten "ein weitaus düstereres Bild, wie Menschen im leeren Nest depressiv herumlungern, als es der Realität entspricht", so die US-Psychologin Helen DeVries, die das Thema zu ihrem Spezialgebiet gemacht hat.
Der Mythos vom Kinder-Exodus als häufige Zerreißprobe für Langzeitbeziehungen muss im Zuge dieser Forschungen auch neu überdacht werden. Zwar bedeute diese Periode eine Gefahrenzone, aber nur dann, so der legendäre, inzwischen verstorbene dänische Familientherapeut Jesper Juul in seinem letzten Buch "Liebende bleiben", wenn Eltern es verabsäumt haben, neben der Familie als eigenständiges Paar zu existieren. Oft sei bei "empty nest"-Trümmerfeldern die Trennung nur noch so lange hinausgeschoben worden, bis "die Kinder weggehen". Der Modedesigner Wolfgang Joop, so erzählte er in einem profil-Interview, ging sogar so weit, dass er "erst homosexuell wurde, als die Kinder aus dem Haus waren".
"Immer rufst du nie an"
Im Jahr zwei nach dem Abgang meiner Tochter muss ich mich gar nicht mehr zwingen, sie einmal eine Woche lang nicht zu kontaktieren. Bloß keine Telefonate, die mit Sätzen wie "Immer rufst du nie an" beginnen. Vorwürfe, das weiß man aus der eigenen Biografie, vergällen einem jede Form von Kontakt. Telefonieren ist bei den Twentysomethings sowieso total "old school". Meist flitzen zwischen meiner Tochter und mir ohnehin nur ein paar What'sApp-Nachrichten hin und her oder wir ergötzen uns gemeinsam an ein paar abartigen Instagram-Postings aus dem besser entfernten Bekanntenkreis.
Tatsächlich führen wir heute, bei unseren in etwa allmonatlichen Begegnungen, die Gespräche, die ich mir früher immer so sehr gewünscht hätte. Zwanglos, voller beidseitigem Interesse, was im Leben des anderen gerade abgeht. Früher kamen wir im Druck der Alltagsroutine so außer Atem, dass uns manchmal erschreckend wenig zu sagen blieb.
Die Freiheit genießen lernen
Ich bin inzwischen voller Mitgefühl für die vielen betagten Mütter in Südeuropa, deren scheidungsverwaiste Söhne neuerdings wieder ins Hotel Mama pilgern, weil sie sich die Mieten nach ihren Trennungen und wegen der Unterhaltszahlungen nicht mehr leisten können. Was für eine grausame Zeitmaschine, in die sie so wieder steigen müssen. Der Luxus, entscheiden zu können, wie gefüllt der Kühlschrank sein kann oder darf, ist eine Form von Freiheit, die entlastend wirkt. In manchen Belangen muss man diese Freiheit erst genießen lernen. Seit mein Kind weg ist, wache ich jeden Morgen Punkt sieben Uhr auf.
Während ihrer zwölfjährigen Schulzeit hätte ich dieses Kunststück gerne besser draufgehabt.