"Little Joe" in Cannes: Jessica Hausner kämpft um die Goldene Palme
Der Begriff, den sie für ihren gegenwärtigen Gesamtzustand findet, lässt einen gewissen Leistungsdruck ahnen. „Superturbo-Stress“ bedeutete es für sie, die wochenlange Feinabstimmung zu besorgen, abwechselnd an der Tonmischung und der Farbkorrektur. Jessica Hausner legt gerade letzte Hand an einen Film, an dem sie – von der Recherche bis zur Montage – vier Jahre lang gearbeitet hat. Trotzdem sitzt sie entspannt, freundlich lächelnd in ihrem Büro im 2. Wiener Gemeindebezirk. Von Nervosität keine Spur. Sie habe allerdings das Gefühl, sich nach Monaten in dunklen Schneideräumen in ein lichtscheues, unterirdisches Wesen verwandelt zu haben, lacht sie.
Genmanipulations-Schocker
Das Ergebnis ihrer Bemühungen wird in wenigen Tagen zu begutachten sein: Am Freitagnachmittag dieser Woche wird der Genmanipulations-Schocker „Little Joe“ im Wettbewerbsprogramm des bedeutendsten Festivals der Welt, der Filmfestspiele in Cannes, gezeigt werden. Jessica Hausner tritt damit – übrigens als erste österreichische Regisseurin in der Geschichte des Festivals – gegen die globale Regie-Elite an, gegen US-Superstars wie Quentin Tarantino, Jim Jarmusch und Terrence Malick, aber auch gegen das belgische Brüderpaar Dardenne, den Spanier Pedro Almodóvar und den Briten Ken Loach. Die Reise nach Cannes ist für die Wienerin fast schon Routine, doch die Einladung für den Wettbewerb um die Goldene Palme ist für sie ein Debüt. „Endlich lassen sie dich bei den Erwachsenen mitspielen“, habe eine Freundin unlängst zu ihr gesagt.
Mit dem Festival an der Croisette pflegte Hausner von Anfang an beste Beziehungen: 1999 wurde ihre noch an der Wiener Filmakademie hergestellte 45-Minuten-Skizze „Inter-View“ (mit dem jungen Händl Klaus in der Hauptrolle) im Nachwuchsprogramm „Cinéfondation“ gezeigt. Und seit ihrem 2001 veröffentlichten Langfilmdebüt, dem Teenagerdrama „Lovely Rita“, wurden Hausners Werke stets in der renommierten Cannes-Nebenreihe „Un certain regard“ gezeigt: der konzeptuelle Alpenschocker „Hotel“ (2004) ebenso wie die eigenwillige Heinrich-von-Kleist-Suizidstudie „Amour fou“ (2014). Einzig Hausners Wunderheilungsfabel „Lourdes“ feierte 2009 beim Filmfest in Venedig Premiere.
Um die Zahl fünf kreist die Karriere der Regisseurin aktuell. „Little Joe“ ist ihr fünfter Spielfilm, und Hausner wird ihre fünfte Weltpremiere in Cannes absolvieren. Seit 2004 legt sie außerdem exakt alle fünf Jahre eine neue Inszenierung vor. „Das ist mein Fünfjahresplan“, stellt Jessica Hausner, 46, im profil-Gespräch fest. „Es ist ein guter Zeitrahmen für mich: Ein Jahr nimmt die Nachbetreuung des jeweils aktuellen Films in Anspruch, mit Interviews und Festivalreise. Danach wird ein Jahr lang recherchiert, eines fällt für das Schreiben und die Finanzierung an, und in den verbleibenden zwei Jahren wird vorbereitet, gedreht und geschnitten.“
Erste englischsprachige Arbeit
Vor fünf Wochen erst konnte sie den Cannes-Delegierten eine Rohfassung von „Little Joe“ vorführen. Die Entscheidung der Festivalleitung, den Film in den – aus 21 internationalen Werken zusammengestellten – Wettbewerb zu nehmen, folgte wenige Tage später. Jessica Hausner schreibt und koproduziert ihre Filme, als Teil des Wiener Produktionsunternehmens Coop99, stets selbst. Im Zuge ihrer künstlerischen Globalisierung wurde auch die Produktionstätigkeit komplizierter: Nach dem in Frankreich gedrehten Film „Lourdes“ ist „Little Joe“ nun ihre erste englischsprachige Arbeit, eine österreichisch-britisch-deutsche Koproduktion. Hausner begreift sich als europäische Autorenfilmerin. Tatsächlich hat sie nie Filme über Österreich gedreht; ihr Schaffen schien, auch wenn es hierzulande entstand, über das Hiesige stets hinauszudenken. Nun versucht sie, nicht zuletzt aus der Erfahrung heraus, dass ihre Filme im Ausland oft erfolgreicher waren als in Österreich, für einen deutlich größeren Markt zu produzieren.
Für „Little Joe“ rekrutierte sie ein vornehmlich britisches Schauspielteam: Emily Beecham, Ben Whishaw und Kerry Fox tragen den Film, der um die Folgewirkungen einer giftigen, im Labor gezüchteten Pflanze kreist. „Emily, Ben und Kerry haben eine unglaubliche Feinheit im Schauspiel“, sagt Hausner: „In meinen Filmen gibt es immer eine ganz klare Inszenierung. Das ist eine Choreografie, fast wie ein Ballett. Sie wird mit den Schauspielern trainiert. Wir planen jede Bewegung voraus. Das schränkt die Darsteller zunächst natürlich ein. Umso dringender brauche ich Leute vor der Kamera, die sich in einem derart strengen System nicht eingeengt fühlen, trotzdem ihre eigene Kunst entfalten können, ihre Rollen spielen und natürlich bleiben, sogar überraschend sind. Darauf muss ich hoffen. Sie dürfen sich von der Rigorosität meiner Inszenierung nicht irritieren oder hemmen lassen. Sie müssen in gewisser Weise dagegen sogar angehen. Das ist entscheidend. Denn wenn die nur machen, was ich vorgebe, wird Cannes: Jessica Hausner kämpft um die Goldene Palmees fad.“
Jessica Hausner stammt aus einer künstlerisch hochbegabten Familie: Ihre Halbschwester Xenia ist eine bekannte Malerin, ihre Schwester Tanja eine gefragte Kostümbildnerin. Der Einfluss ihres Vaters, des Wieners Rudolf Hausner (1914–1995), eines zentralen Vertreters des Phantastischen Realismus, und ihrer Mutter Anne, die ebenfalls Malerin ist, habe zur Berufswahl seiner Töchter wohl beigetragen: „Tanja und ich mussten uns schon als Kinder ständig mit bildender Kunst und visuellen Fragen auseinandersetzen. Wir machten keine Urlaube am Strand, sondern Ferien in Museen. Wir fuhren dann etwa drei Tage in den Prado, nicht irgendwohin ans Meer. Wir arbeiteten uns langsam durch die Säle. Mein Vater konnte auch eine Stunde vor einem Gemälde stehen, das ihn interessierte; er hat es uns erklärt, die Kompositionen erläutert oder die Ereignisse im Bild erzählt. Wir haben uns das halt angehört, in der Hoffnung auf spätere spannendere Freizeitgestaltung, aber so kam die Kunst in uns hinein.“
Ihr sei bereits als Teenager klar gewesen, dass sie Künstlerin werden musste, sagt Jessica Hausner heute. Xenia und Tanja dagegen studierten erst einmal Jus, vielleicht auch als Reaktion auf die Künstlereltern. „Ich wollte diesen Umweg nicht gehen“, sagt die Regisseurin. Eine Zeit lang sei es jeden Abend zu Familienstreitereien gekommen, weil Jessica glühender Joseph-Beuys-Fan war – die Antithese zum Kunstverständnis Rudolf Hausners. Das Kino aber habe er geliebt, „insbesondere Akira Kurosawa, der ja auch von der Malerei kam, und die Filme Ingmar Bergmans.“ Sie habe das Kino als Kind zumindest spannender gefunden als die Museumsgänge mit ihrem Vater.
Das Streben nach Perfektion
Eine Perfektionistin sei sie, vielleicht auch dieser Kunsterziehung wegen, meint Jessica Hausner: „Leider. Weil die Dinge ja nie perfekt werden. Und das Streben danach macht alle wahnsinnig. Es geht aber nicht anders.“ Sie arbeite daran, „ein wenig lockerer zu werden“, und ein wenig sei ihr das auch schon gelungen. Man müsse sich eben der Tatsache stellen, „dass Filme nicht perfekt sein können“. Um diese aber in Richtung Perfektion treiben zu können, schreckt sie auch vor Dutzenden Wiederholungen einer Einstellung nicht zurück. „20 Takes sind bei mir ganz normal. Und manche meiner Einstellungen sind sehr kompliziert, können Kamerafahrten mit Dialogen sein und mit Darstellern, die sich in verschiedenen Richtungen durchs Bild bewegen. Für dieses Ballett brauche ich oft auch 30 Takes.“
Die purpurrote Blume, die eine – von Emily Beecham gespielte – Pflanzenforscherin im Glashaus entwickelt, soll Glücksgefühle auslösen. Im halbwüchsigen Sohn der Züchterin scheint die Topfpflanze andere Veränderungen hervorzurufen. Er wird seiner Mutter zunehmend fremd. Die „Wirklichkeit“ ist in Jessica Hausners Filmen ungewiss, die „Wahrheit“ stets in Zweifel zu ziehen. „Little Joe“ ist auch ein Film über Familie und Distanzierung. „Es geht um die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind, um das Gefühl, dass diese Nähe ein Vexierbild ist – so sehr, dass man plötzlich den Eindruck haben kann, man kenne den anderen gar nicht. Winzige Veränderungen an jemandem, den man gut zu kennen glaubt, sind eben schon unheimlich. Aber im Unheimlichen steckt ja auch das Heimelige; das Bekannte wird einem plötzlich fremd.“
Hausner bezeichnet „Little Joe“ als Psychothriller. Es gehe „um psychologische Phänomene, um Einbildung und sich verselbstständigende Verschwörungstheorien“. Ob auch das Label Science-Fiction auf „Little Joe“ passen wird, will die Künstlerin dem Publikum überlassen: „Eigentlich erzähle ich in meinen Filmen immer Märchen. Und die könnten vor oder nach unserer Zeit spielen. Ich unterhalte eine augenzwinkernde Beziehung zum Genre Science-Fiction. Man kann das sehen, die Ironie teilt sich mit.“
Zu den Ambivalenzen, Rätseln und Geheimnissen, die Jessica Hausner gern betont, gehört die untergründige Komik, die – wie in „Amour fou“ und „Lourdes“ – auch „Little Joe“ durchdringen soll. Politisch sei der Film zudem: „Meine Wissenschafterin ist eine Art Frankensteinfigur. Sie erfindet eine Pflanze, die sie nicht mehr kontrollieren kann.“ So handle die Story ihres Films auch von wissenschaftlicher Verantwortung und dem bodenlosen Anspruch auf Wahrheit, den akademische Sichtweisen oft erheben.
"Ich hätte gerne einen artifiziellen Himmel in Dauerblau gehabt"
Gedreht wurde vergangenes Jahr in Liverpool, Krems und Wien; einen der zentralen Schauplätze, das Glashaus, fand man in Schönbrunn. „Wir überlegten lange, ob es nicht sinnvoller sei, im Studio zu drehen. Je künstlicher es wird, desto lieber ist es mir ohnehin. Ich hätte gerne einen artifiziellen Himmel in Dauerblau gehabt.“ Aber das sei lichttechnisch extrem schwer herzustellen – oder zu teuer für das Budget, das sich auf etwas mehr als vier Millionen Euro belief.
Fünf Monate lang dauerte allein die Schnittarbeit. Von den 120 Minuten der Rohversion auf 100 zu kürzen, dabei entstehe für sie der Film erst. Das sei der letzte und entscheidende Schritt. „Es geht darum, von einer für mich unerträglichen Fassung zu einem Film zu kommen, der wirklich klar ist und nicht redundant, der in sich geschlossen ist.“ Eine assoziative Linie führt übrigens von „Little Joe“ zurück zu der US-Nachkriegs-Avantgardistin Maya Deren. Denn die Musik des japanischen Komponisten Teiji Ito (1935–1982), der für Deren einst Soundtracks schrieb, ist auch in Hausners Film zu hören – Ballettmusik, die Ito 1972 komponierte. So sei die traumartige Wirklichkeit der streng choreografierten Filme Derens, vielleicht unbewusst, in ihren Film gekommen, sagt Hausner.
Seit „Inter-View“ schon arbeitet sie mit ihrer Schwester, der Kostümbildnerin Tanja Hausner, und dem Kameramann (und Coop99-Kollegen) Martin Gschlacht; die Ausstatterin Katharina Wöppermann ist seit „Lovely Rita“ in ihrem Team, die Cutterin Karina Ressler seit „Hotel“. Hausner braucht diese Stabilität unbedingt. Es sei für sie undenkbar, ohne ihre Schwester oder Gschlacht zu arbeiten. „Es geht um eine gemeinsame Sprache. Tanjas Einfluss wurde im Lauf der Jahre übrigens immer wichtiger. Ihre visuellen Ideen prägen die Grundästhetik meiner Arbeit. Die mintgrünen Kittel, die als Uniformen im Glashaus verwendet werden: Das war unsere erste Entscheidung in ,Little Joe‘.“ Um solche Setzungen herum werde dann weitergebaut, etwa mit einem Firmenlogo in Türkis, das sich plangemäß damit ein bisschen schlägt.
„Meine Filme werden zunehmend ästhetisch“, erklärt Hausner noch: „Ihr künstlicher Look wird immer stärker, auch aufdringlicher. Ich hab da, gemeinsam mit Tanja und Martin, eine unheimliche Lust entwickelt, immer noch einen Schritt weiter zu gehen.“ Ihr Grundgedanke sei es stets, auf die Ästhetik aufmerksam zu machen. „Mir ist es wichtig, deutlich gestaltete Filme zu machen, mit digital behandelten Farben. Das wird nicht versteckt, im Gegenteil, das knallt heraus und schreit: Dies ist ein Film!“