Christian Petzold: "Manchmal ist es sehr schön, nicht frei zu sein"
profil: Ihnen wird nachgesagt, dass Sie sich und Ihr Team während der Dreharbeiten mit Kinoabenden in Stimmung bringen. Wie haben Sie sich auf „Transit“ vorbereitet? Christian Petzold: Das stimmt, ich mache dann auch kleine Vorlesungen. Ich wollte ja mal Lehrer werden. Diesmal habe mich für New Hollywood entschieden – ein Kino in der Krise, das gerade neu erfunden wird. Der erste Film war dann Mike Nichols’ „Die Reifeprüfung“. Nichols wurde 1931 in Berlin geboren und ist mit seinen Eltern nach der Reichspogromnacht über Marseille nach Amerika geflohen. Er hat dann mit Filmen wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ das Hollywood-Kino neu erfunden. Flüchtlinge, die aus Krisen kommen und etwas neu erfinden, das passte perfekt zu der Geschichte, die wir mit „Transit“ erzählen wollten.
profil: Ihr Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der Autorin Anna Seghers, die vor den Nazis nach Mexiko geflüchtet ist. Warum haben Sie die Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg ins heutige Marseille transferiert? Petzold: Eine klassische Literaturverfilmung hatte ich mit meinem Filmpartner Harun Farocki bereits in Planung. Das ging uns aber bereits nach kurzer Zeit auf die Nerven. Sie müssen wissen: „Transit“ war unser gemeinsames Lieblingsbuch. Als Harun starb, ging ich mit meinem Sohn und dem ersten Manuskript im Gepäck auf eine ausgedehnte Amerika-Reise. Er hatte den Film „Boyhood“ gesehen und wollte so eine Vater-Sohn-Reise mit mir machen. Nachts schrieb ich dann immer an dem Script. In der Wüste ist mir dann die Festplatte durchgeschmort, ich hatte sie im Auto liegen gelassen. Backups gab es nicht. Da war nichts mehr zu retten. Ich habe in diesem Moment eine unfassbare Erleichterung gespürt.
profil: Sie konnten endlich neu beginnen? Petzold: Ich hasse ja solche Literaturverfilmungen. Die Laborsituation, in der die Welt von damals rekonstruiert wird, interessiert mich nicht. Das sind keine schönen Filme. Die sind nur dafür gemacht, um Leute ins Kino zu locken, die das Buch gelesen haben und den Stoff nun überprüfen möchten. Ich gehe ja nicht ins Kino, um etwas zu überprüfen. Vielmehr interessiert mich die Ungleichzeitigkeit dieser Welt. Das ist wie eine Stadt, sie besteht aus alten und neuen Häusern, aus alten und neuen Familien. Plötzlich wusste ich, dass der Stoff in der Gegenwart spielen muss.
profil: Auch die Geflüchteten in Ihrem Film haben keine Vergangenheit und keine Zukunft. Sind sie Gefangene im Hier und Jetzt? Petzold: Bei Flüchtlingen denkt man ganz materiell, nimm nur das Nötigste mit, was du eben tragen kannst. Auf der Flucht kann man nicht viele Erinnerungen mitnehmen. Erinnerungen machen dich schwer, sentimental, langsam und melancholisch. Der Flüchtling darf nicht über seine Mama nachdenken, nicht an das Kinderzimmer oder den Ort, den er so geliebt hat. Das ist nur Ballast. Er darf nicht mehr fühlen, darf keine Vergangenheit mehr haben. Er darf aber auch nicht zuviel von der Zukunft träumen. Diese Menschen hängen in einem Transit-Übergangsraum herum. Das Großartige an Anna Seghers’ Roman ist, dass sie diesen Raum, der keine Bedeutung hat, zum Nährboden für gute Geschichten gemacht hat.
profil: Auch Georg, Ihre Hauptfigur, gespielt von Franz Rogowski, muss erst wieder lernen, empathisch zu sein, neue Beziehungen aufzubauen, sich zu verlieben. War das Ihre Intention? Petzold: „Transit“ ist ein klassischer Entwicklungsroman. Georg lernt in diesem komprimierten Transitraum in kürzester Zeit loyal zu sein, sich zu verantworten, Liebe zu geben und zu empfangen – und die Schmerzen, die damit verbunden sind. Ich persönlich empfand vor allem Liebe zu Georg. Ich hatte zum ersten Mal in meinen Filmen eine Figur, in der ich Teile von mir selbst wiederentdecken konnte. Als Regisseur hat mich diese Entwicklung leidenschaftlich begleitet.
profil: Die Geflüchteten in Ihrem Film, vor allem Rogowskis Filmpartnerin Paula Beer, streifen wie Gespenster durch die Stadt. Warum werden sie von den Bewohnern gar nicht wahrgenommen? Petzold: Ich wollte den Flüchtling nicht ausstellen. Sie sind ja da, mitten unter uns, aber wir sehen sie nicht. Sie können schreien, bluten, urinieren und werden dennoch nicht gesehen. Diese Fähigkeit des Wegschauens, die unsere Gesellschaft kultiviert hat, diesen Tunnelblick, den wir entwickeln und Flüchtlinge zu Gespenstern werden lässt, das wollte ich zeigen.
profil: In Ihrem Film spielen Sie mit Verfremdungseffekten. Obwohl Ihr Film in der Gegenwart spielt, gibt es keine Mobiltelefone. Wollten Sie die Zuseher in die Irre führen? Petzold: Im Film ertrage ich keine Smartphones. Sie lassen eine Erzählung viel zu schnell altern. Mein Sohn, der heute 17 ist, hat mir erklärt, dass sich die Modelle so schnell ändern, auch in der Werbung so gegenwärtig sind, dass ein veraltetes Handy einen Film sofort in einer gewissen Zeit verankert. Kommt der Film endlich in die Kinos, ist er auch schon wieder alt. Somit war klar: Smartphones kommen komplett raus.
profil: Sie wollten vermeiden, dass Ihr Film einer genauen Zeit zuzuordnen ist? Petzold: Flüchtlinge sind ein ewiges Thema – das sollte der Film widerspiegeln. In meinem Film können noch Pässe gefälscht werden, der Schriftsteller hat eine Reiseschreibmaschine, es gibt nur die Schiffspassage über den Atlantik. Gleichzeitig fahren in Marseille moderne Autos herum, Polizisten tragen schutzsichere Westen. Diese Vermischung von Zeit und Raum fand ich spannend.
Als Regisseur ist man bei Dreharbeiten die ganze Zeit damit beschäftigt, anderen die Angst zu nehmen.
profil: Ist Ihr Film ein Statement zu aktuellen Flüchtlingsbewegungen? Petzold: Es gibt eine Szene im Film, in der Georg eine Mutter mit ihrem Sohn besuchen will. Als er ankommt, sind bereits neue Flüchtlinge in der Wohnung, Mutter und Sohn sind weg. Für ihn ist das ein Schock. Diese Tür ist aber auch der Blick von der alten Flüchtlingsgeschichte in die Gegenwart. Dank Büchern wie „Transit“ gibt es heute einen Asylparagraphen, der Länder wie Deutschland und Österreich dazu verpflichtet, die nächsten paar hundert Jahre Flüchtlinge aufzunehmen. Einen Film über die aktuelle Krise wollte ich aber nicht drehen.
profil: Hatten Sie nie Angst, Ihr Herzensprojekt in den Sand zu setzen? Petzold: Angst habe ich keine mehr. Das soll nicht großkotzig klingen, aber wenn ein Projekt scheitert, hat einem die Angst davor auch nicht genützt. Als Regisseur ist man bei Dreharbeiten die ganze Zeit damit beschäftigt, anderen die Angst zu nehmen. Man kommt also gar nicht dazu, viel über die eigenen Ängste nachzudenken.
profil: Sie haben mehrere Teile der Krimireihe „Polizeiruf 110“ inszeniert. Was kann man von TV-Serien für das Kino lernen? Petzold: Nach meinen Filmen „Barbara“ und „Phoenix“ hatte ich die Sehnsucht, bereits bestehende Figuren weiterzudrehen – mich mit ihnen in ein Verhältnis zu setzen. „Polizeiruf 110“ hat mir richtig gut getan. Vor dem Film läuft die Tagesschau, danach Anne Will und es gibt einen furchtbaren Jingle am Anfang. Als Künstler ist man bei einem solchen Projekt nicht frei. Aber manchmal ist es sehr schön, nicht frei zu sein.
Interview: Philip Dulle