71. Filmfestspiele in Cannes: Die Preise
Es ging, wie so oft, bei der Preisverleihung ein wenig unerwartet zu. Eine „Spezialpalme“, erstmals in der Geschichte dieses Festivals verliehen, wurde am Samstagabend in Cannes zusätzlich zum Hauptpreis vergeben: an jenen Film, der mit keinem anderen in Konkurrenz treten konnte, weil er formal und intellektuell nach ganz eigenen, eben unvergleichlichen Gesetzen verfertigt war – an „Le livre d’image“, Jean-Luc Godards jüngste Erkundung des Zusammenhangs von (Kino-)Poesie und Geschichte, einen Film, dessen grundlegender Pessimismus nur von seiner (ganz und gar nicht „altmeisterlichen“) gedanklichen und audiovisuellen Originalität übertrumpft wurde.
Die eigentliche Hauptauszeichnung der 71. Filmfestspiele in Cannes, die Palme d’or ohne den Zusatz „Spécial“ ging ebenfalls an einen souveränen, über alle Stil- und Ideologiefragen erhabenen Film: an „Shoplifters“, inszeniert von dem japanischen Seelenforscher Hirokazu Kore-eda (im Bild), der mit seinen feinfühligen, aus dem Leben gegriffenen Familienstudien auch als Nachlassverwalter seines großen Landsmanns Yasujiro Ozu gilt. Fünf Mal trat Kore-eda seit 2001 bereits im Wettbewerb von Cannes an, erstmals gewann er diesen nun auch – mit einer klug konstruierten Erzählung von Kinder- und Eltern-Bindungen, die auch ohne Blutsverwandtschaft diesen Namen verdienen.
Über den Grand Prix, den die Jury an Spike Lees Seventies-Pop-&-Politics-Melange „BlacKkKlansman“ verliehen wurde, konnte man besser streiten. Bei allem Unterhaltungswert und politisch gutem Willen mutete der Film zwischen Lustspiel und Lehrstück dann doch etwas überfrachtet an. Es schien, als sei die von Cate Blanchett geleitete Jury mit der Gießkanne über das Wettbewerbsangebot dieses Jahres gegangen: Zum besten Regisseur kürte man den Polen Pawel Pawlikowski für sein tatsächlich kühl kontrolliertes Musiker-Melodram „Cold War“, mit dem Spezialpreis der Jury würdigte man leider Nadine Labakis manipulatives Straßenkinderdrama „Capharnaüm“ aus Beirut – und damit eine Sonderform des zeitgenössischen Kinokitsches, den Ultrarealismus der verrissenen und verwackelten Kamera, des verbissen mobilisierten Pathos und der kleinstteiligen Montagen. Als beste Schauspieler erkannte man Samal Yeslyamova (für ihre Darstellung einer illegalen Kirgisin im kalten Moskau in Sergej Dvortsevoys „Ayka“) sowie den Italiener Marcello Fonte, der in Matteo Garrones zwiespältiger Gewaltfabel „Dogman“ mit großer Energie einen bedrängten und ausgebeuteten Hundesitter darstellt.
Den Drehbuchpreis teilte man schließlich auf jene beiden Filme auf, die man anderswo offenbar nicht unterbringen konnte – auf Alice Rohrwachers virtuose – von der Cannes-Jury unterschätzte – Subproletariats-Parabel „Lazzaro felice“ und Jafar Panahis in aller Stille hochkomplexes iranisches Road-Movie „Three Faces“.