Filmkritik: Alfonso Cuaróns Netflix-Produktion „Roma“

„Roma“ ist mit einer Woche Vorsprung im Kino gestartet. Der Besuch lohnt sich.

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Einen solchen Film hatte man Alfonso Cuarón nicht mehr zugetraut. Die Werke des Oscarpreisträgers schienen tief in Hollywoods Produktionslogik aufgegangen zu sein – von seiner Eintragung in die „Harry Potter“-Filmserie (2004) über die Endzeittristesse in „Children of Men“ (2006) bis zu seiner starbesetzten Academy-Award-Weltraumoper „Gravity“ (2013). Wie gut er als Regisseur und Autor tatsächlich ist, führt er erst jetzt vor: mit einem schwarzweißen, stark autobiografisch getönten Autorenfilm, der bei den Festspielen in Venedig heuer den Goldenen Löwen holte: „Roma“ erzählt von den frühen 1970er-Jahren in Mexico City, geht von Ereignissen aus, die in einem großbürgerlichen Haushalt stattfinden, aber bald weitere Kreise ziehen. Cuarón war zum Zeitpunkt der Erzählung, die der Film wiedergibt, neun Jahre alt; Mexico City ist seine Geburtsstadt.

Doch nicht das Kind, das der Regisseur damals war, ist das Zentrum der Erzählung, sondern eines der indigenen Hausmädchen seiner Familie, Cleo – introvertiert, aber berührend dargestellt von der Laiendarstellerin Yalitza Aparicio. Der Titel des Films steht für Colonia Roma, einen Distrikt der mexikanischen Hauptstadt. „Roma“ erstattet zunächst Bericht von zwei sich entziehenden Vätern: Der wohlsituierte Hausherr verlässt seine Familie, und auch Cleo wird, weil sie schwanger ist, von ihrem Freund im Stich gelassen.

„Roma“ ist kein Film für den Wohnzimmerbildschirm

Aber der Film hat einen politischen Kern, nicht nur in seiner differenzierten Abhandlung historischer mexikanischer Klassenverhältnisse: Die aufwendig und bildgewaltig inszenierte Story läuft auf eine Szene zu, in der die laufenden Studentenrevolten von Regierungstruppen blutig niedergeschlagen werden – auf das Corpus-Christi-Massaker, das im Juni 1971 die Welt erschütterte. Ehe „Roma“ ab Ende dieser Woche auf Netflix abzurufen sein wird, ist der Film nun schon im Kino zu begutachten; es lohnt sich, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen: „Roma“ ist kein Film für den Wohnzimmerbildschirm.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.