Der Beruf des Landarztes stirbt aus

Auf dem Land stehen immer mehr Ordinationen leer. Gemeinden suchen verzweifelt Hausärzte und schrecken dabei vor unkonventionellen Maßnahmen nicht zurück.

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"Wie in Wien ist es hier natürlich nicht", sagt Syrus Nikou und zuckt mit den Schultern. Der Gemeindearzt aus Gresten im niederösterreichischen Bezirk Scheibbs sitzt in seiner Praxis und philosophiert über die Gründe, warum sich kaum noch jemand für den Medizinerjob auf dem Land findet. "Wir haben kein Kino und kein Nachtleben. Die Möglichkeiten sind beschränkt." Außerdem wollten sich Junge den Stress einer Einzelpraxis einfach nicht mehr antun.

Seit zwei Jahren ist Nikou ganz auf sich allein gestellt. Der zweite Kassenarzt im Ort ging damals in Pension, bis heute steht die Ordination leer. Nikous Patientenkartei erhöhte sich schlagartig von 900 auf 1600, das Privatleben wurde in Mitleidenschaft gezogen. "Mein Laufband verstaubt im Keller, und ich schaue schrecklich aus", feixt der Landarzt und klopft sich zum Beleg auf den Bauch.

Dass sich für die Stelle in Gresten demnächst jemand interessiert, darf bezweifelt werden. Auf der Website der Ärztekammer findet man Dutzende Ausschreibungen für freie Kassenarztstellen; teilweise bleiben die Praxen über zwei Jahre unbesetzt. Noch vor einigen Jahren gab es ein Gerangel um freie Stellen, heute ist man froh, wenn überhaupt Bewerbungen eingehen. Aktuell suchen 60 Gemeinden einen Arzt. Die Zahl mag mickrig wirken im Verhältnis zu den 3795 Kassenstellen in ganz Österreich, doch der Mangel an Hausärzten wird virulenter. Das erklärt auch die Panik bei politischen Entscheidungsträgern. Bürgermeister setzen professionelle Personalrecruiter ein und sind bereit, viel Geld in die Hand zu nehmen. Auch Landespolitiker und Krankenkassen spüren den Druck aus der Bevölkerung und schnüren ein Paket nach dem anderen. Doch meist sind die Maßnahmen nicht viel mehr als Symptombekämpfung. Stirbt der Landarzt aus?

150 Kilometer Fahrt

In Gresten hat Doktor Nikou vor zwei Wochen Unterstützung bekommen: Die Landesklinikenholding stellt für einen Tag in der Woche zwei Spitalsärzte ab, die in Nikous Ordination aushelfen. Das Land lässt sich die medizinische Krisenintervention einiges kosten, die Holding zahlt den Aushilfsärzten ein 15. Monatsgehalt. Leicht war die Suche nach freiwilligen Spitalsärzten trotzdem nicht. Einer von ihnen fährt aus Korneuburg ins 150 Kilometer entfernte Gresten. Gut für ihn: Die Fahrt zählt zur Arbeitszeit.

Nikou und sein Assistent sind voll des Lobes für das Projekt. Der junge Arzt kann ohne Risiko Ordinationsluft schnuppern - und er entlastet den etablierten Kollegen. Eine Woche zuvor zeigte sich allerdings die Schwäche des Systems: Wegen eines Krankheitsfalls in der Korneuburger Klinik musste der Jungarzt seinen Assistenzeinsatz absagen.

Anspruch auf die interimistischen Landärzte haben alle niederösterreichischen Gemeinden, die ein Jahr oder länger nach einem Mediziner suchen. Die "Landarztgarantie" wurde von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) im Wahlkampf im Jänner zugesagt. Allein: Die Aushilfe ist nur auf ein Jahr befristet -und damit alles andere als nachhaltig. Neben Gresten erfüllen drei weitere Gemeinden alle Kriterien für den Arztersatz. Doch für keine dieser Kommunen gibt es bisher eine Lösung. "Bei uns ist Feuer am Dach. Das letzte Gespräch war vor der Landtagswahl, seither ist nichts passiert", ärgert sich der Bürgermeister aus Groß-Siegharts im Waldviertel.

Der Engpass an Medizinern wirkt auf den ersten Blick paradox, verfügt Österreich doch über eine der höchsten Ärztedichten Europas. Aber der Beruf des Allgemeinmediziners gilt nicht mehr als attraktiv, die Jungen drängen in Fachrichtungen oder zur Wahlarztpraxis. Schätzungen der Ärztekammer zufolge werden 60 Prozent aller derzeit tätigen Kassenärzte bis zum Jahr 2030 in den Ruhestand treten. Wer wird folgen?

Wettbuhlen um Ärzte

Um die wenigen Bewerber für Kassenstellen entwickelt sich schon heute ein Wettbuhlen. "Arzt oder Ärztin für Allgemeinmedizin dringend gesucht! HAUS-APOTHEKE MÖGLICH!!!", schreibt etwa die steirische Gemeinde Dechantskirchen auf ihrer Website. Der Bevölkerung ist es egal, dass formell die Ärztekammer mit der Gebietskrankenkasse über Vertragsvergaben und Honorare entscheidet. Greifbar sind nur die Bürgermeister - und deren Wahlchancen sinken, wenn der Gemeindearzt fehlt. In Ärztekreisen erzählt man sich von Kommunen, die bereit sein sollen, den Medizinern Privathäuser zu errichten.

So weit wollte Herbert Ollinger nicht gehen. Der Bürgermeister im oberösterreichischen Neumarkt suchte zwei Jahre einen Nachfolger für seine Praxis. Er engagierte einen Headhunter, der sogar in Tschechien und Ungarn Ärzte ködern sollte -vergeblich. So mancher Arzt nutzte die Situation schamlos aus. "Einer wollte zwei Millionen Euro als Gegenleistung von der Gemeinde. Das ist schon sehr dreist", erzählt Ollinger. Schließlich biss doch noch eine Ärztin an - das neu errichtete Gesundheitszentrum und ein Mietzuschuss von 100.000 Euro, gestreckt auf zehn Jahre, waren Anreiz genug.

In Niederösterreich und Oberösterreich ist die Lage bereits prekär: 11 beziehungsweise 14 Ordinationen stehen hier leer. Die Kärntner Krankenkasse lobt vorsorglich einen "Landarztbonus" aus: Ab Sommer gibt es jährlich 8000 Euro extra für Landärzte ohne Hausapotheke.

Denn Stellen mit Hausapotheke sind leichter zu vermitteln, sie werfen mehr Ertrag ab. Ausschlaggebend dafür ist, dass im Umkreis von vier Kilometern keine klassische Apotheke ihren Standort hat - der Gebietsschutz soll die Pharmazeuten vor zu viel Konkurrenz durch die Ärzte schützen. So manche Landordination ist allerdings ohne angegliederte Hausapotheke nicht rentabel -diese macht knapp die Hälfte des Umsatzes eines Hausarztes aus. Da zahlt es sich aus, kreativ zu werden: In Niederösterreich und Oberösterreich haben zwei Ärzte ihre Praxen umgesiedelt - sie ordinieren nun vier Kilometer außerhalb der Ortschaft, in Containern auf der grünen Wiese. Der Kunstgriff erlaubt es ihnen, nebenher eine Apotheke zu betreiben.

Flexibilität und Familienfreundlichkeit

Geht es den Medizinern also nur ums Geld? "Die Y-Generation denkt anders", meint Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres: "Die sind nicht mehr nur auf Job und Geldverdienen aus. Der Freizeitwert tritt in den Vordergrund. Ich finde das gar nicht böse, dass die sich um Kinder und Familie kümmern wollen." Wer sich unter Jungmedizinern umhört, dem wird tatsächlich viel von "Work-Life-Balance" erzählt, von Flexibilität und von Familienfreundlichkeit - auch deshalb, weil es immer mehr Frauen in die Medizin zieht. Der Partner einer Ärztin findet auf dem Land kaum Jobs. Also bleiben beide lieber in der Stadt.

Eine Ordination auf dem Land ist eine Entscheidung fürs Leben. Meist sind hohe Ablösen an den Vorgänger zu bezahlen - oder eigene Geräte zu beschaffen. Kaum einer stemmt das ohne Kredit. "Das wirtschaftliche Risiko ist den Jungärzten viel zu hoch", glaubt Patientenanwalt Gerald Bachinger. Die aktuelle Krise ist aus seiner Sicht "nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was auf uns zukommt".

Bachinger redet seit Jahren einem neuen Versorgungsmodell das Wort: Primärversorgungseinheiten. Hinter dem sperrigen Begriff versteckt sich ein Modell, mit dem andere Länder gute Erfahrungen gemacht haben. Im oberösterreichischen Haslach gibt es ein Pilotprojekt. "Wir decken hier seit Jahresbeginn die ganze Palette der Gesundheitsberufe ab - von Diplomkrankenschwestern, Diätologen, Psychologen, einem Sozialarbeiter und einer Hebamme", erklärt Erwin Rebhandl. Der Allgemeinmediziner stand zuvor 35 Jahre allein in der Praxis. Jahrelang wollte sich kein Nachfolger für die zweite Kassenarztstelle in der Gemeinde finden. Erst als Rebhandl mit der Gemeinde eine Gruppenpraxis zu planen begann, waren zwei Wahlärzte aus Linz bereit, auf die Kassenstelle zu wechseln. Die wöchentliche Arbeitszeit von Rebhandl hat sich von 55 auf 35 Stunden reduziert. Das Risiko teilen die Mediziner durch drei, für die Patienten haben sie nun fünf Tage die Woche geöffnet. "Wir mussten die Geräte nicht mehrfach anschaffen, und wenn einer auf Urlaub gehen will, geht das zu dritt viel einfacher." Rebhandl will bald in Pension gehen. Eine Kollegin soll bereits ihr Interesse an seiner Stelle bekundet haben. Der Pilot in Haslach zeigt auch: Geld ist nicht alles. Rebhandl: "Wir teilen das Einkommen jetzt durch drei, das vorher zwei hatten."

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.