Eiserner Vorhang: Picknick an der Grenze

Vor 30 Jahren verschwand der Eiserne Vorhang an der Grenze zu Ungarn. Es war das Vorspiel zum Fall der Berliner Mauer.

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Das Denkmal steht unbeachtet in einem Wald nordwestlich von Sopron (Ödenburg) auf der Bécsi utca (Wiener Straße). Kein einziges Schild weist den Weg. Im Restaurant Arcus, wo der Waldpfad startet, weiß niemand von einem nahen historischen Monument zur Grenzöffnung 1989. Der Gedenkstein, den die EU-Vertretung in Wien 2004 zum EU-Beitritt Ungarns an der Grenze bei St. Margarethen am falschen Ort aufgestellt hatte, wurde 2012 von der Bezirksbehörde Soprons einige Kilometer weiter südlich auf eine Waldlichtung verlegt.

Auch hier verlief der Eiserne Vorhang zwischen Ungarn und Österreich bis zum Jahr 1989. Und an dieser heute kaum besuchten Stelle fand am 27. Juni 1989 ein geschichtsträchtiger symbolischer Akt statt: Die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn durchschnitten den Stacheldrahtzaun. "Es ist das am besten versteckte Denkmal", scherzt der Militärhistoriker Erwin Schmidl. Und er nennt einen Grund für das Versteckspiel: Gyula Horn war zwar Reformkommunist, blieb in Ungarn als Mitglied der kommunistischen Häschertrupps, die nach dem Aufstand 1956 auch Folter anwandten, jedoch verhasst. Zuerst verschwand nur das angeklebte Foto, dann das ganze Denkmal. Dabei hatte die Zeremonie vor 30 Jahren erhebliche politische Folgen. Die Fotos und TV-Bilder gingen um die Welt und vermittelten den DDR-Bürgern knapp vor den Sommerferien den Eindruck, dass in Ungarn ein Tor in den Westen geöffnet worden sei. Der darauffolgende Zustrom von DDR-Bürgern nach Ungarn, vor allem zum ungarischen Teil des Neusiedler Sees, war weit stärker als sonst.

Tatsächlich hatte die ungarische KP-Regierung schon Ende 1988 den Beschluss gefasst, die Grenzanlage vom sowjetischen Typ "SZ-100" abzubauen. Denn seit Anfang 1988 hatten alle Ungarn das Recht auf Reisen ins "kapitalistische Ausland". Die mit sowjetischen Bestandteilen ausgerüstete Grenzanlage mit elektrischen Zäunen und tiefen Gräben war teuer und fehleranfällig. Sogar der Stacheldraht konnte nur noch gegen Devisen im Westen nachbestellt werden. Die letzten Minen waren schon 1971 beseitigt worden.

Die Regierung von Károly Németh beschloss deshalb den Abbau der Grenzanlagen entlang der 350 Kilometer langen Grenze zu Österreich und dem damaligen Jugoslawien. Sicherheitshalber wurde in Moskau bei Kreml-Chef Michail Gorbatschow nachgefragt. Er hatte nichts gegen den Abbau: Er wolle mit dem Westen neue Beziehungen aufbauen, und da hätten Grenzzäune keinen Platz mehr, meinte er.

Die ungarische Regierung informierte Bundeskanzler Franz Vranitzky, der das Projekt nicht für besonders wichtig hielt. Im geheimen Bericht des ungarischen Außenministeriums an das Politbüro der ungarischen KP wurde darauf hingewiesen, dass "die Beseitigung der technischen Grenzsperren auch Probleme für Österreich durch Terroristen, Drogenschmuggler und illegale Einwanderer aus Drittstaaten" mit sich bringen könnte.

Am 2. Mai 1989 lud die ungarische Regierung westliche Medien ein, den Abbau der Grenzanlagen bei Hegyeshalom zu verfolgen. "Ich war sicher, dass meine Bilder tags darauf auf den Titelseiten der wichtigsten in-und ausländischen Zeitungen abgedruckt würden", dachte der Wiener Fotoreporter Bernhard Holzner. Er wurde enttäuscht: Niemand schien sich für den Abbau eines Teils jener Grenze zu interessieren, die seit 1945 Europa in zwei Hälften geteilt hatte. Holzner, der Außenminister Alois Mock bei vielen Missionen begleitete, beschwerte sich im Außenministerium, dass der historische Grenzabbau medial unbemerkt vonstatten ging. Und er schlug eine Inszenierung vor: Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege sollten symbolisch den Grenzzaun durchschneiden.

Mock und sein Pressesprecher Gerhard Ziegler sagten zu. Doch einige hohe Beamte warnten vor dem Festakt: Warum sollte ein österreichischer Außenminister einen Grenzzaun durchtrennen, den Österreich gar nicht mitaufgebaut hatte? Erst am 27. Juni traten Mock und Horn mit Gefolge vor Dutzenden Journalisten im Waldstück bei Klingenbach vor ein Stück des noch vorhandenen Grenzzaunes und kappten hintereinander die Drähte. Horn beschwerte sich später belustigt, dass ihm eine stumpfe Drahtschere ausgehändigt worden sei, während Mock die Drähte problemlos kappen konnte. Überdies war der Grenzabbau schon so weit fortgeschritten, dass ein Stück des Originalzauns eigens für den Festakt wieder aufgebaut werden musste. Doch die Fotos wurden zur Ikone, und die TV-Szenen im westdeutschen Fernsehen sahen in der Deutschen Demokratischen Republik, wo gerade die Feiern zum 40. Jahrestag ihrer Gründung bevorstanden, viele ausreisewillige Bürger. Doch paradoxerweise wurden nach dem Abbau der Grenzanlagen die Streifen der schwer bewaffneten ungarischen Grenzsoldaten verschärft. Es galt noch immer Schussbefehl.

Auf den Campingplätzen am südlichen Ende des Neusiedler Sees und am Plattensee warteten Tausende DDR-Urlauber auf ihre Chance zur Flucht in den Westen. Bei Fertörákos wiesen Ungarn, die auch über die Kontrollgänge der Grenzer Bescheid wussten, vielen DDR-Bürgern den Weg über die grüne Grenze nach Österreich. Ende Juni 1989 hatten ungarische Oppositionelle des Demokratischen Forums und von Fidesz einen Plan. Ein kleines Team rund um die Architektin Mária Filep bereitete ein Fest für Ungarn und Österreicher an der Grenze vor. Als Schirmherren für das "Paneuropäische Picknick" wurden Otto Habsburg und der ungarische Reformkommunist Imre Pozsgay gewonnen. Eine Wiese bei Sopronpuszta auf der über 40 Jahre lang gesperrten Straße nach St. Margarethen wurde als Veranstaltungsort ausgewählt. Zweisprachige Plakate wurden gedruckt, die erforderlichen Genehmigungen bei Behörden eingeholt.

Abermals wurde die sowjetische Botschaft in Budapest informiert, doch es gab keine Einwände. Premierminister Miklós Németh erklärte später, er habe ausloten wollen, wie die sowjetische Führung reagieren würde. Hätte Moskau die in Westungarn stationierten sowjetischen Soldaten alarmiert?"Es war ein Wunder, dass damals alles unblutig ablief", erklärte Németh nach der Wende.

Kaum jemand hatte an die Zehntausenden DDR-Urlauber gedacht, die dieses Fest zur Flucht nutzen könnten. Die deutschsprachigen Einladungen zum Picknick mit einer kleinen Orientierungskarte waren über Nacht hinter die Windschutzscheiben Tausender Trabis und Wartburgs auf den Campingplätzen rund um den Plattensee gesteckt worden. Wer die Aktion durchführte, ist bis heute ungeklärt. Eine Spur führt zum westdeutschen Geheimdienst BND.

Vielleicht aus Angst vor Zwischenfällen entschieden sich beide Schutzpatrone gegen eine persönliche Teilnahme und schickten nur Vertreter: Habsburg seine Tochter Walburga, Pozsgay einen Sekretär.

László Nagy, einer der Hauptorganisatoren, wusste nichts von möglichen Partycrashern aus der DDR und erinnert sich an die Vorbereitungen der Grillparty mit Speck, Kartoffeln und Wein: "Jeder Teilnehmer sollte ein Stück von den Resten des Grenzzauns abzwicken und mit nach Hause nehmen dürfen. Außerdem wollten wir mit der symbolischen Grenzöffnung Oppositionellen in anderen kommunistischen Staaten Mut machen, ähnliche Aktionen zu planen. Warum nicht auch am Checkpoint Charlie im geteilten Berlin?"

Fast wäre die Party noch an den österreichischen Behörden gescheitert, die erst sehr spät eingeschaltet wurden. Der damalige Bürgermeister von St. Margarethen, Andreas Waha, nannte den ungarischen Gästen die für Genehmigungen zuständigen Behörden. In Ungarn war die Öffnung der Grenze, die nur mehr aus einfachem Drahtverhau bestand, für genau drei Stunden genehmigt worden. Der erfahrene Grenzwache-Offizier Árpád Bella erklärte seinen fünf Beamten den Dienstplan. Sie sollten beim alten hölzernen Grenztor, dessen verrostetes Vorhangschloss erst aufgebrochen und durch ein neues ersetzt werden musste, den österreichischen Gästen provisorische Sichtvermerke ausstellen. Bella gegenüber profil: "Man hat mir nichts von einem möglichen Ansturm von DDR-Flüchtlingen berichtet. Aber wie hätten wir zu sechst auch Hunderte Menschen aufhalten sollen? Da hätte leicht eine gefährliche Panik entstehen können." Bella wies seine Grenzsoldaten an, keinesfalls von ihren Waffen Gebrauch zu machen, obwohl es damals noch immer den Befehl gab, auf Flüchtende zu schießen. "Ich habe meinen Leuten gesagt, dass wir in Richtung Österreich blicken sollten und hinten keine Augen haben."

Knapp vor 15 Uhr, als prominente Festgäste noch in einem Hotel in Sopron an einer Pressekonferenz teilnahmen, stürmten Hunderte DDR-Bürger zu Fuß an den verdutzten Grenzwachen vorbei nach Österreich. Die Menschen marschierten bei sommerlicher Hitze die sieben Kilometer lange Straße bis nach St. Margarethen, wo Einheimische ihnen spontan Essen und Getränke reichten. Die westdeutsche Botschaft in Wien wurde verständigt, die Busse ins Burgenland schickte. Noch am selben Tag wurden die DDR-Bürger -zwischen 600 und 800 Personen -in ein westdeutsches Lager gebracht.

Die DDR-Behörden reagierten erbost und verlangten von den ungarischen Genossen die Auslieferung der in Ungarn weilenden ostdeutschen Urlauber. Doch Ungarn wollte der Genfer Flüchtlingskonvention beitreten. Und bei einem Geheimtreffen auf Schloss Gymnich bei Bonn hatte Bundeskanzler Helmut Kohl den ungarischen Regierungsvertretern finanzielle Hilfe zugesichert. Noch setzten ungarische Sicherheitsbehörden auf Härte. Die Arbeitermiliz wurde alarmiert. Und plötzlich wurden Autos mit DDR-Kennzeichen auf der Straße nach Sopron (Ödenburg) nicht mehr durchgelassen. In Kophaza war Ende August ein Bus mit DDR-Bürgern von Milizen gestoppt worden. Von einem nahen Feld einer Kolchose stürmten ungarische Bauern mit Mistgabeln auf die verdutzten Beamten zu und wollten die Freilassung der Ostdeutschen erzwingen. Grenzoffzier Bella konnte die gefährliche Situation entschärfen. Wegen seines besonnenen Einsatzes beim Picknick war gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Am 11. September 1989 beschloss die ungarische Regierung, alle DDR-Bürger nach Österreich ausreisen zu lassen. An die 100.000 Personen nutzten diese Möglichkeit. Der Druck auf das DDR-Regime verstärkte sich, bis am 9. November die Berliner Mauer fiel. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl betonte später, dass "der erste Stein aus der Berliner Mauer in Ungarn herausgebrochen wurde".

VERANSTALTUNG: 17. Juni um 17 Uhr Wachauarena Melk: Salongespräch des Alois-Mock-Instituts: Grenzen überwinden-30 Jahre, nachdem der Vorhang fiel. Podiumsdiskussion mit Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, Zeithistoriker Stefan Karner, profil-Redakteur Otmar Lahodynsky und Zeitzeugen.