Integration: Verrät Kurz seine Politik von früher?

Integration: Verrät Sebastian Kurz seine Politik von früher?

Mit einer brandneuen Form von Integrationspolitik startete Sebastian Kurz einst durch. Heute ist er Bundeskanzler und steigt auf die Bremse.

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Murat sitzt konzentriert vor dem Übungsheft und überprüft mit den Fingern seine Rechenergebnisse. Als es kurz vor 15 Uhr zur Pause läutet, springt er auf und plaudert mit den anderen Kindern. Als der Neunjährige vergangenen Herbst das erste Mal ins Lerncafé der Caritas in Wien-Favoriten kam, brachte er kaum ein Wort heraus. Acht Monate später ist aus dem schüchternen Murat, dessen türkischstämmige Eltern selbst mit der deutschen Sprache kämpfen, ein vorbildlicher Schüler geworden, der nachfragen kann, wenn er bei einer Hausübung nicht weiterweiß. Türkisch, Deutsch, beides spricht er fließend. Rund 15 Mädchen und Buben schwirren durch den Lehrraum, wo zwischen Buntstiften und Zeichenpapier Getränke und geschmierte Brote bereitstehen. Es dauert nur Sekunden, bis sich die Kinder nach der Pause unaufgefordert zurück an die Tische setzen. Dort warten Studierende, Berufstätigte und Pensionisten, die bei Hausaufgaben helfen, mit den Kindern für Prüfungen üben und an Deutschkenntnissen arbeiten. Die kostenlose Lern- und Nachmittagsbetreuung steht zwar grundsätzlich allen Kindern zwischen sechs und 15 Jahren aus sozial schwachen Familien offen, doch 90 Prozent haben so wie Murat Migrationshintergrund. Die einen sind bereits in Österreich geboren, andere erst vor ein paar Jahren ins Land geflüchtet.

Juni 2011: Nur zwei Monate nach seiner Ernennung zum Staatssekretär für Integration gibt der damals 24-jährige Sebastian Kurz 200.000 Euro an Starthilfe für die ersten Lerncafés frei. Es sollen 54 in ganz Österreich werden. Zum Fototermin hat Kurz Caritas-Präsident Franz Küberl geladen. Perfekte Inszenierung war ihm schon damals wichtig. „Es ist mir selten so leicht gefallen, freundlich zu sein“, spielt Küberl bereitwillig mit. Kurz überreicht ihm zwei symbolische Lerntafeln und spricht seinen Satz, der in den Folgejahren zu seiner Trademark wird: „Integration durch Leistung.“

Lerncafés. 800 Kinder stehen auf der Warteliste. Aber die Förderung wird gekürzt.

Heute ist Kurz Kanzler und der Caritas das Lächeln vergangen. Generalsekretär Bernd Wachter beklagt bei den Nachhilfestätten Einschnitte von rund 15 Prozent durch die Kurz-Regierung. „In den Lerncafés findet wirklich Integration statt. 2017 schlossen 95 Prozent der Besucher das Schuljahr positiv ab, und auf der Warteliste stehen weitere 800 Kinder und Jugendliche. Wenn hier gekürzt wird, dann ist das Sparen am falschen Ort.“ Der wahre Hammer für Opposition und NGOs ist aber das Aus für das verpflichtende Integrationsjahr, das Flüchtlinge durch intensive Deutschkurse, Arbeitstrainings und Coachings rasch aus der Mindestsicherung führen sollte. „Wir haben gerade erst 60 Arbeitstrainings in Pflegeheimen organisiert, und nun wird das 2019 wieder eingestampft? Das ist doch Unsinn“, ärgert sich Wachter.

Mit pragmatischem Zugang brach der Staatssekretär und spätere Integrationsminister Sebastian Kurz die verkrustete Ausländer-Debatte ein Stück weit auf. Die FPÖ verlor ihr Monopol aufs Reizthema. Er tingelte mit Vorzeige-Migranten wie Moderatorin Arabella Kiesbauer durch Brennpunktschulen; applaudierte beim Redewettbewerb „Sags Multi“ Kopftuch-Mädchen, die in perfektem Türkisch und Deutsch rührende Geschichten erzählten; war stolz über seinen „bunt durchmischten“ Freundeskreis; öffnete Ausländern den Zugang zur Freiwilligen Feuerwehr. Dann kam die Flüchtlingswelle. Seither geht es Kurz nur noch ums Abschließen – der Balkan-Route, des Sozialsystems, der christlich-abendländischen Kultur. Die Schubumkehr sicherte ihm das Kanzleramt. Doch sein altes Thema wird er auch dort nicht los, denn Integration ist heute zentraler denn je. Die meisten Flüchtlinge bleiben und mischen sich mit früheren Migranten, die nie wirklich angekommen sind. Deswegen ist die Frage umso drängender: Taucht der „alte“ Kurz wieder auf oder hat er seine Mission von damals versenkt?

Geht es nach der FPÖ, ist Integration eine reine Bringschuld der Zuwanderer.

„Wir müssen bei allen kulturellen Herausforderungen Vielfalt auch als Chance begreifen.“ – „Wichtig ist es, Motivation zu schaffen und Vorurteile abzubauen“ – „Es geht nicht darum, woher jemand kommt, sondern was jemand leistet.“ Auf solche Sätze, die Kurz einst wie selbstverständlich über die Lippen kamen, wurde im Regierungsprogramm mit der FPÖ ostentativ verzichtet. Integration firmiert unter „Ordnung und Sicherheit“. Das Kapitel liest sich wie ein Generalverdacht gegenüber allem Fremdem. Die Integrationsagenden sind zu Außenministerin Karin Kneissl gewandert, die auf einem blauen Ticket sitzt und somit eine Bremse beim Thema eingebaut hat. Vielmehr muss sie im eigenen Haus die Fremdenrechtsnovelle von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) verteidigen. Denn ihr Völkerrechtsbüro hält Teile davon für menschenrechtswidrig. So sollen etwa für jugendliche Straftäter im Asylrecht dieselben Konsequenzen gelten wie für Erwachsene – vom Ausschluss aus dem Familienverfahren über Verlust des Aufenthaltsrechts bis hin zur Abschiebung. Kritisiert wird außerdem, dass selbst aussichtsreiche Asylwerber keinen Rechtsanspruch auf Sprachkurse mehr haben sollen.

Geht es nach der FPÖ, ist Integration eine reine Bringschuld der Zuwanderer. „Da braucht man nicht mit Millionen hinterherrennen und sagen: Bitte, bitte integriert euch doch“, brachte Generalsekretär Harald Vilimsky die blaue Formel einst auf den Punkt. FPÖ-Regierungskoordinator Norbert Hofer sieht Asyl immer nur auf Zeit: „Ich verstehe nicht, warum es in dem Bereich überhaupt Integrationsbemühungen gibt.“

Erst als Kurz die Flüchtlingskrise als sein Ticket ins Kanzleramt begriff, krallte er sich das Thema.

Dennoch: Die harte Seite, die der Kanzler nun mit der FPÖ auslebt, ist nicht rein dem Koalitionspartner geschuldet. Sie war bei ihm lange vor der Flüchtlingswelle vorhanden. Schon 2012 beklagte er die Zuwanderung ins Sozialsystem, wollte die Mindestsicherung kürzen, warnte vor Parallelgesellschaften, vor der Öffnung des Arbeitsmarktes für Asylwerber, forderte höhere Strafen für Schulschwänzer.

Dieser zweite Teil seiner Integrationsgeschichte fiel in der Euphorie über ein moderateres Gegengewicht zur FPÖ nur nicht so auf. Auch deswegen, weil Kurz stets den „good cop“ spielte. Den „bad cop“ überließ er der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Heikle Fragen zu Asyl und Flucht leitete er zu ihr um. Erst als er die Flüchtlingskrise als sein Ticket ins Kanzleramt begriff, krallte er sich das Thema.

Vom Integrations-Brain hinter Sebastian Kurz zum Bildungsminister: Heinz Faßmann

Ein weiterer Beleg für die Kontinuität seiner Politik ist sein Expertenrat für Integration, der nach wie vor aktiv ist. Der damalige Staatssekretär schaffte es, renommierte Experten um sich zu scharen und sie bis heute zu halten. Hätte Kurz seine politische Herkunft als Kanzler ausradiert und der FPÖ das gesamte Feld überlassen, wären die Parteilosen längst abgesprungen. Doch Kurz konnte den Leiter des Expertenrates, Heinz Faßmann, gar als Bildungsminister gewinnen. „Mit Genugtuung kann ich feststellen, dass die Vorschläge des Expertenrates nicht wie üblich bürokratisch entsorgt wurden, sondern Eingang in die Politik fanden“, freute sich Faßmann im Integrationsbericht 2015. Heute setzt der ehemalige Vize-Rektor der Uni Wien mit Deutschklassen und Bildungspflicht Reformbrocken um, die lange im Expertenrat gewälzt wurden. Kurz verteidigt er gegen Vorwürfe, die Politik von früher zu verraten: „Der politische Transporteur einer neuen Integrationspolitik, Sebastian Kurz, hat heute eine neue Rolle angenommen. Er ist breiter aufgestellt und muss die Interessen auch jener übernehmen, die sich durch die Zuwanderung nicht mehr heimisch oder fremd fühlen.“

Mehr Bauchweh haben die renommierte Migrationsforscherin Gudrun Biffl und der kurdisch-stämmige Soziologe Kenan Güngör. „Eine gewisse unaufgeregte Sachlichkeit und Nachhaltigkeit ist wichtig, deswegen habe ich für weitere fünf Jahre im Rat unterschrieben“, sagt Biffl. „Aber derzeit wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und man vergisst, dass der Großteil der Migranten für Österreich ein Gewinn ist.“ Auch Güngör hadert mit der „zunehmend restriktiveren“ Integrationspolitik: „Ich gehöre aber nicht zu denen, die als Erste das Schiff verlassen, wenn es schwierig wird. Falls sich der Expertenrat mittelfristig in die Bedeutungslosigkeit verliert und als Feigenblatt instrumentalisiert wird, werde ich meine Mitwirkung überdenken müssen.“

Kein Feigenblatt. Soziologe Kenan Güngör bleibt im Experten-Rat für Integration - aber mit Bauchweh

Das Integrationsjahr hätte Flüchtlinge rascher aus der Mindestsicherung geführt, ist Biffl überzeugt. „Wenn man Integration nicht ernst nimmt, passiert genau das, wovor die FPÖ warnt: Die Menschen verharren im Sozialsystem.“

Als Außenminister der rot-schwarzen Vorgänger-Regierung hatte Sebastian Kurz das Gesetz über das Integrationsjahr nach schwedischem Vorbild 2017 mitunterschrieben – aber nur unter der Bedingung eines Burka-Verbots. Der Bann der Vollverschleierung überlebte den Regierungswechsel. Es war die perfekte Mitgift für die Hochzeit mit den Blauen. Das Integrationsjahr passte hingegen nicht ins Beziehungsschema. Es läuft 2019 aus. „Geld hat kein Mascherl. Es wird weiterhin für jeden anerkannten Flüchtling Deutschkurse und Wertekurse geben. Laut Integrationsgesetz ist der Bund verpflichtet, diese zu finanzieren“, sagt Susanne Raab. Sie ist Leitern der Sektion Integration, die von Kurz nun zu Karin Kneissl gewandert ist. Sie versichert: „Das Thema Integration ist medial vielleicht weniger präsent als früher, das heißt aber nicht, dass nichts passiert – im Gegenteil.“

Kurz ist weiterhin der Alte, rede aus Rücksicht auf den Koalitionspartner nur nicht mehr so laut über Integration: Das ist die Sichtweise all jener, die an die Linie von früher glauben wollen. Doch je länger der Bundeskanzler schweigt, desto rascher wird die Erzählung von „Integration durch Leistung“ in Vergessenheit geraten. Denn selbst die härtesten Kritiker seiner Politik attestieren ihm, zumindest einen neuen Ton in die Debatte gebracht zu haben. Und dieses Klima war Basis für Lerncafés, Integrationsbotschafter, Expertenräte. „Die positiven Veränderungen im Integrationsklima innerhalb der letzten fünf Jahre machen deutlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, meinte er noch 2015.

Mahnerin. Migrationsexpertin Gudrun Biffl: "Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet."

„Migration ist gegenwärtig fast schon ein politisch toxisches Thema geworden“, sagt Faßmann. So verkrustet sich wieder das alte Österreich-Bild, dem die FPÖ anhängt. „Österreich ist kein Einwanderungsland“, so steht es im Parteiprogramm. Die Realität: Österreich ist beim Migrationsanteil endgültig an der EU-Spitze angelangt. Die FPÖ kann diese Realität ausblenden, für die Wirtschafts- und Europapartei ÖVP wäre das lächerlich. Deswegen wollte Kurz schon als frischgebackener Staatssekretär seiner Partei „die Scheinwerfer von den negativen auch auf die positiven Beispiele der Migration lenken“. Heute führt wieder der Boulevard die Regie und leuchtet die bedrohliche Seite der Zuwanderung grell aus. Ohne die Gegenerzählung von früher. Kurz’ früheres Ziel, „Menschen in die Mitte der Gesellschaft zu holen“, wäre auch mit einer härteren Integrationspolitik vereinbar – wenn man Integration ernst nimmt. Oder man gibt sich der FPÖ-Illusion hin, dass sich der Flüchtlingsstrom umkehrt und die Kinder der Gastarbeiter gleich mitwandern.

Syliva Hochstöger graut davor. Mit ihrem Mann betreibt sie im oberösterreichischen Dorf Pabneukirchen eine Dachdeckerei, Spenglerei und Kfz-Werkstatt. Für sie wird es jedes Jahr schwieriger, Lehrlinge zu finden. „Wir bekommen maximal eine Bewerbung im Jahr, fertig ausgebildete Fachkräfte gibt es sowieso nicht“, sagt sie. „In der Ausbildung von Asylwerbern habe ich eine echte Chance für unseren Betrieb gesehen.“ Hochstöger spricht inzwischen in der Vergangenheitsform. Seit September 2016 bildet sie den heute 23-jährigen Shaffi S. aus Afghanistan in ihrem Betrieb aus. Sie könnte nicht zufriedener mit ihm sein, sagt sie. Aber auch Shaffi, der im Herbst 2014 nach Österreich geflüchtet ist, erhielt im vergangenen November – nach drei Jahren im Asylverfahren – in erster Instanz einen negativen Bescheid. Der Afghane steht vor dem Abschluss seines zweiten Berufsschuljahres. Wenn er abgeschoben wird, „war alles umsonst“, sagt Hochstöger: „Die Mühe, die viele Energie, und natürlich auch das Geld, das in Shaffis Ausbildung investiert wurde.“

Der frische Wind von damals, den Kurz dann 2011 als Staatssekretär nutzte, weht ihm dieses Mal ins Gesicht.

Von 2015 bis Ende März 2018 wurden österreichweit rund 1300 Lehrlings-Beschäftigungsbewilligungen für Asylwerber erteilt, das ist in Mangelberufen erlaubt. Knapp 500 davon allein in Oberösterreich, wo der Fachkräftemangel besonders akut ist. Hunderte – vorrangig Afghanen – stehen nun vor der Abschiebung direkt vom Arbeitsplatz. Dagegen hat sich österreichweit eine Bewegung ausgehend vom grünen Landesrat Rudi Anschober gebildet. Seine Petition „Ausbildung statt Abschiebung“ zählt inzwischen mehr als 50.000 Unterstützer, darunter Hunderte Klein- und Mittelbetriebe, aber auch millionenschwere Unternehmen wie der oberösterreichische Fenster- und Türenproduzent Josko. Prominenteste Neuzugänge: der Industrielle Hans Peter Haselsteiner sowie Ex-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP). Auch der Verein Wirtschaft für Integration unter der Schirmherrschaft von Raiffeisen unterstützt die Petition. Der Verein wurde 2008 gegründet und war maßgeblich am neuen Zugang „Integration durch Leistung“ beteiligt. Der frische Wind von damals, den Kurz dann 2011 als Staatssekretär nutzte, weht ihm dieses Mal ins Gesicht. Denn als Bundeskanzler und Partner der FPÖ ist er strikt gegen jede Aufweichung des Asylrechts.

Anschober hingegen fordert, die Abschiebung nach deutschem Vorbild zumindest für die Dauer der Lehre auszusetzen. „Dann kehrt dieser Mensch wenigstens mit einer guten Ausbildung zurück“, gibt er sich pragmatisch. Die Wirtschaftskammer Österreich geht einen Schritt weiter und schlägt ein Ausbildungsvisum über die „Rot-Weiß-Rot“-Karte vor. Selbst Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung, sprach sich Mitte Mai im Interview mit der „Kronen Zeitung“ für das deutsche Modell aus und plädiert: Die „Migrationsphobie“ im Land gelte es „abzubauen“.

Der alte Kurz würde sich angesprochen fühlen.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.