Kern als EU-Kommissionspräsident: Wunschdenken oder reale Chance?
Christian Kern als EU-Kommissionspräsident? Eine Nominierung durch die europäischen Sozialdemokraten vorausgesetzt, könnte Kern versuchen, Europas Konservativen den EU-Spitzenposten wegzuschnappen. In Wiener Regierungskreisen wird das freilich als reines Wunschdenken abgetan.
Nach der Papierform spricht einiges für den SPÖ-Chef. Er aus einem kleinen EU-Staat, das sich seiner Brückenbauerfunktion in der Europäischen Union rühmt. Zudem gilt der ehemalige Manager auch akzeptabel für die liberale und gemäßigte Konservative. Im Vergleich zu den bisher bekannten EU-Spitzenkandidaten hat er vor allem einen großen Vorteil: Er ist - wie Amtsinhaber Jean-Claude Juncker - ehemaliger Regierungschef und hat damit einen großen Startvorteil in jenem Gremium, das den EU-Kommissionspräsidenten nominiert: Dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs.
Ende September hatte er in Tallinn bei seinem letzten EU-Gipfel vor der Nationalratswahl, als die Niederlage gegen Herausforderer Sebastian Kurz (ÖVP) fest zu stehen schien, scherzhaft gesagt: "Wenn die österreichische Population aus den 28 Staats- und Regierungschefs bestehen würde, würden wir eine deutliche absolute Mehrheit erzielen."
Das Europaparlament ist freilich fest entschlossen, nur einen der "ihren" Kommissionspräsident werden zu lassen. Führende Europaparlamentarier haben in jüngster Zeit klar gemacht, dass das im Jahr 2014 erstmals angewandte Spitzenkandidatensystem für sie in Stein gemeißelt ist. Chef der Brüsseler Behörde muss demnach jedenfalls eine Person werden, die sich bei der Europawahl als europäischer Spitzenkandidat präsentiert hat.
EU-Mandatare der Europäischen Volkspartei (EVP), deren Position als stärkste Kraft im Europaparlament wohl ungefährdet ist, räumten dabei auch die Möglichkeit ein, dass sich im Europaparlament eine andere Mehrheit formieren könnte. "Es ist ja auch in Österreich schon vorgekommen, dass der Zweite dann Kanzler wurde. Ich glaube, Schüssel hieß er", sagte ein führender deutscher Christdemokrat kürzlich bei einer EVP-Tagung in Wien.
Keine Unterstützung von der ÖVP
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) pocht dagegen auf den Anspruch der mandatsstärksten Kraft. Auf die Frage nach einer Unterstützung Österreichs für Kern sagte er am Mittwoch nach dem Ministerrat, der Kommissionspräsident werde von der stärksten Fraktion gestellt und er gehe nicht davon aus, dass es sich dabei um die Sozialdemokraten handeln werde.
Aus ÖVP-Kreisen hieß es zur APA, dass es für Kern keine Unterstützung geben wird. In diesem Zusammenhang wurde auch auf Artikel 17 des EU-Vertrags verwiesen, wonach die Mitglieder der EU-Kommission auf Vorschlag der jeweiligen Regierung nominiert und bestellt werden. Allerdings gilt für den Posten des Kommissionspräsidenten ein anderes Verfahren: Dieser wird vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit nominiert und dann vom Europaparlament gewählt, ein einzelnes Land hat hier also kein Vetorecht.
Einer aktuellen Wahlprognose der Seite "Pollofpolls.eu" liegt die EVP bei 185 der 705 Mandate. Die Sozialdemokraten kommen auf 146 Mandate, könnten aber bei einem Bündnis mit den Liberalen (71 Mandate) oder der in mehreren Staaten entstehenden Macron-Liste (59 Mandate) die Konservativen überrunden. Liberalen-Chef Guy Verhofstadt sagte am Mittwoch in Wien gegenüber der APA, dass an einer Kooperation mit Macron gearbeitet werde. Freilich distanzierte er sich - ähnlich wie zuvor schon Macron - vom Spitzenkandidatensystem und bezeichnete es als "fake democracy". Auch müsste Kern beim Liberalen-Chef wohl noch Überzeugungsarbeit in eigener Sache leisten. "Ich kenne ihn nicht", sagte der belgische Ex-Premier auf Frage der APA.
Eine Spitzenkandidatur Kerns könnte auch den Kritikern des wahrscheinlichen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber Auftrieb geben. Schon bisher war dem EVP-Fraktionschef seine mangelnde Regierungserfahrung und seine Herkunft aus dem größten EU-Staat Deutschland vorgehalten worden. Die Kandidatur eines österreichischen Ex-Kanzlers gäbe diesen Argumenten zusätzliches Gewicht und könnte die Chancen von Webers EVP-internen Kontrahenten wie dem finnischen Ex-Premier Alexander Stubb erhöhen. Kern selbst müsste sich im Fall des Falles freilich Weber als Kontrahenten wünschen, würde ihm der CSU-Politiker doch die Möglichkeit eröffnen, in Deutschland auch jene CDU-Wähler anzusprechen, denen die bayerische "Schwesterpartei" mittlerweile verhasst ist.
Deutliche Signale Kerns Richtung Europa
So überraschend Kerns Schritt am Dienstag kam, so deutlich waren in den vergangenen Monaten seine Signale in Richtung Europa. So kündigte er bereits im Mai an, dass die SPÖ eine führende Rolle innerhalb der europäischen Sozialdemokratie spielen und auch den Nominierungsparteitag im Dezember ausrichten werde. Schon damals gab er als Marschrichtung vor, was ihn am Dienstag seinen eigenen Wechsel nach Brüssel begründen ließ. Der Spitzenkandidat der EU-Sozialdemokraten müsse "eine starke europäische Persönlichkeit sein, die zeigt, dass wir für ein Anti-Orban-Europa stehen, für ein offenes, pluralistisches und liberales Europa", sagte Kern Ende Mai dem "Standard".
Sich selbst explizit aus dem Spiel nehmend, betonte Kern damals, dass der Spitzenkandidat ein "europapolitisches Schwergewicht" sein müsse und richtete seinen Blick dabei auch auf "Regierungschefs". "Ich bemühe mich gerade, dass wir einen geeigneten Kandidaten finden, der nicht ich bin", sagte er.
Kern wurde Ende Mai auch von Macron in Paris empfangen, zeigte sich auf APA-Anfrage aber äußerst zugeknöpft zum Inhalt des Gesprächs. Allerdings ließ Kern durchblicken, dass er mit Macron auch über die Europawahl gesprochen habe. "Was nach der Europawahl passiert, lässt sich extrem schwer sagen", bilanzierte der SPÖ-Chef damals. Eine Einschätzung, die heute wohl zutreffender ist als damals.
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