„Liberale Bastarde!“

Der europäische Islam: „Liberale Bastarde!“

Christa Zöchling über den europäischen Islam, der weder rechten Politikern noch fundamentalistischen Muslimen ins Konzept passt.

Drucken

Schriftgröße

Ein Gespenst geht um in Europa. Es nennt sich „europäischer Islam“ oder „Islam europäischer Prägung“, manchmal auch salopp „Euro-Islam“. Es ist ein beliebtes Konferenzthema, doch wer es über den akademischen Diskurs hinaus ernst nimmt, wird belächelt und im besten Fall als Träumer hingestellt. Seine Anhänger müssen oft auch mit gehässigen Kommentaren rechnen, von offizieller islamischer Seite ebenso wie von Rechtspopulisten. Man schaukelt sich gegenseitig auf.

Vor einigen Tagen hat der freiheitliche Klubobmann Johann Gudenus die Debatte für beendet erklärt. Das Konzept des europäischen Islam sei „tot“, gestorben, begraben, nichts zu machen – so Gudenus sinngemäß in einer ORF-Debatte über das Kopftuchverbot für Kinder. Gudenus konnte in diesem Moment einen leisen Triumph nicht verhehlen. Hat er vielleicht sogar recht? Wie bestellt kam kurz danach die Ankündigung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, mit allen rechtlichen Mitteln ein Kopftuchverbot zu bekämpfen – in Kindergärten und Volksschulen.

Oft sind das Vereine, die stark an ihre Herkunftsländer – etwa Türkei, Ägypten, arabische Halbinsel – gebunden sind.

Der Göttinger Politikwissenschafter Bassam Tibi, der sich als Erfinder des Begriffs wähnt, gestand schon vor geraumer Zeit, er glaube nicht mehr an den europäischen Islam. Die Entwicklung gehe in die entgegengesetzte Richtung. In Europa habe sich der konservative Strang durchgesetzt. Gleichzeitig nimmt Tibi immer noch engagiert an der Debatte teil, zuletzt in der Diplomatischen Akademie in Wien. Er mahnt, der Zeiger stehe auf fünf vor zwölf, und sieht doch einen kleinen Hoffnungsschimmer.

Während die Mehrheit der Muslime in Europa immer säkularer wird, sich also weltlicher ausrichtet und mit der Religion ihrer Vorfahren zusehends pragmatisch umgeht (das belegen Studien in Deutschland und Österreich), wird eine Schicht von Funktionären, die im weitesten Sinn dem politischen Islam verpflichtet ist, jedoch immer lauter. Oft sind das Vereine, die stark an ihre Herkunftsländer – etwa Türkei, Ägypten, arabische Halbinsel – gebunden sind. Ihre Vertreter distanzieren sich zwar von Dschihadismus und Terrorismus, bestehen aber auf einem Verständnis religiöser Schriften, das nicht durch historische Interpretation aufgeweicht oder ausgedünnt werden dürfe, wie es heißt.

Sie stellen mehrheitlich die offiziellen Vertretungsorgane der Muslime in Europa. Von einer Debatte über einen europäischen Islam wollen sie nichts hören. Liberale Muslime werden von ihnen angefeindet und verhöhnt. Das hat der Religionspädagoge Ednan Aslan in Wien erlebt; so ergeht es der Rechtsanwältin Seyran Ateş, Mitbegründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin. Dort dürfen Frauen, auch ohne Kopftuch, und Männer gemeinsam in einem Raum zusammenkommen. Ateş selbst ist manchmal Vorbeterin. Sie erhält deshalb Morddrohungen und ist auf Polizeischutz angewiesen. Auch für ihren Mitstreiter Abdel-Hakim Ourghi ist die Situation gefährlich. Der Professor, der an der Universität Freiburg den Fachbereich Islamtheologie leitet, wurde mit Drohmails überschüttet: „Liberale Bastarde!“, „Abtrünnige!“ Die Moschee sei eine Verschwörung der Juden und des Westens, um die Muslime zu spalten. Reformislam habe nichts mit dem Islam zu tun: „Tötet die Liberalen, bevor sie sich vermehren!“

Die historischen Einflüsse des Islam in der Geschichte Europas sind kaum jemandem bewusst.

An der Al-Azhar-Universität in Kairo wurde im vergangenen Jahr eine Fatwa nicht nur gegen die Berliner Moschee, sondern gegen liberale Moscheegründungen insgesamt verhängt. Der Name der Berliner Moschee ist nicht zufällig gewählt. Ibn Rushd war ein islamischer Gelehrter in einer Zeit, in welcher der Islam selbstverständlich zum Geistesleben Europas gehörte: ein arabisch-spanischer Philosoph des 12. Jahrhunderts, der unter dem Namen Averroës bekannt wurde. Auch der Vater des Schriftstellers Salman Rushdie hatte in Verehrung dieser Tradition einst diesen Familiennamen gewählt. Salman Rushdie erfuhr später die Gewalt einer Fatwa am eigenen Leib.

In seiner Autobiografie „Joseph Anton“ beschreibt er die beiden Jahrzehnte, in denen er, gehetzt wie ein Wild, von einem Quartier ins andere gebracht wurde, von einem eisernen Ring treuer und absolut verschwiegener Freunde geschützt, die ihn in ihren Häusern, Bungalows und Apartments wohnen ließen. Wenige westliche Politiker stellten sich öffentlich auf Rushdies Seite (der damalige österreichische Kulturminister Rudolf Scholten gehörte dazu), und vielleicht war die mangelnde Solidarität der europäischen Öffentlichkeit mit dem in der gesamten islamischen Welt verfemten Schriftsteller der erste Sündenfall des Westens, ein großes Versäumnis.

Ein Kunstprojekt des haitianischen Konzeptkünstlers Jean-Ulrick Désert, der nach dem Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center mit seinem „Burqa Project“ darauf aufmerksam machte, dass der Islam schon lange zu unserer Welt gehört und dass es darauf ankäme, diese Welt gemeinsam zu verändern, hatte keine nachhaltige Wirkung. Die historischen Einflüsse des Islam in der Geschichte Europas sind kaum jemandem bewusst.

Wer heute auf Islamwebsites im deutschsprachigen Raum surft und sich die Fatwas anschaut, wird trübsinnig. Da werden Rechtsgutachten zu diversen Anfragen erstellt: ob man mit lackierten Nägeln beten dürfe (ja, wenn der Lack wasserlöslich ist) oder ob man einem Christen ein schönes Weihnachtsfest wünschen dürfe (ja, wenn er ein gutherziger Mensch ist).

Rechtspopulisten sehen in Muslimen gern eine nicht integrierbare, gefährliche und vor allem homogene Gruppe. Reformen würden das Bild nur stören.

Mouhanad Khorchide, der Leiter des Zentrums für islamische Theologie an der Universität Münster, sieht darin eine gefährliche Entwicklung. Mit Verboten und einem Reglement für den gesamten Alltag versuche der politische Islam, das Leben der Muslime zu kontrollieren, doch die Scharia sei ein menschliches Produkt, und der Koran müsse im historischen Kontext gelesen werden. „Da der Islam keine Kirche kennt, obliegt es dem Diskurs, zu bestimmen, welcher Islam sich in welchem Kontext durchsetzt. Deshalb ist die Frage nach dem europäischen Islam notwendig“, sagt Khorchide. Er wird dafür ebenso angegriffen wie sein Kollegen Ourghi in Freiburg, Ateş in Berlin, Aslan in Wien oder der Innsbrucker Religionspädagoge Zekirija Sejdini. Sie alle werden von offiziellen islamischen Vertretungen kaum unterstützt. Da die Glaubensgemeinschaften aber ein Mitspracherecht bei der Bestellung von konfessionsgebundenen Professuren haben (wie übrigens auch die katholische und evangelische Kirche), stehen diese immer auf einer prekären Basis. Die Betroffenen stellten in einem Sammelband des Integrationsfonds im vergangenen Jahr kluge und grundsätzliche Überlegungen zum europäischen Islam an. Man konnte bisher davon ausgehen, das sei Regierungslinie – die jetzt allerdings von den Freiheitlichen aufgekündigt wurde.

Die Debatte und ihre Wortführer benötigen einen Raum zu ihrer Entfaltung, keine verschämten Broschüren, die kaum jemand liest. Doch Rechtsparteien wollen diesen Raum nicht zugestehen. Warum wohl?

Ein Abgeordneter der AfD (Alternative für Deutschland), die man mittlerweile eine Bruderpartei der Freiheitlichen nennen darf, drückte das bei ihrem Programmparteitag im vergangenen Jahr recht unverblümt aus. „Wir wollen keinen Islam, egal welchen. Wenn wir keine Islamisierung wollen, dürfen wir auch keine Europäisierung des Islam fordern“, sagte der Islamwissenschaftler Hans-Thomas Tillschneider, ein besonders radikaler Rechter, der mit den Identitären sympathisiert.

So weit, so klar. Rechtspopulisten sehen in Muslimen gern eine nicht integrierbare, gefährliche und vor allem homogene Gruppe. Reformen würden das Bild nur stören.

Mit dem Alltagsleben der Muslime hat das freilich nichts zu tun. Nach Umfragen in Deutschland besucht heute nur noch ein Viertel der zweiten und dritten Zuwanderergeneration eine Moschee. „Wenn diese Tendenz anhält, steht in ein paar Jahren ein Gutteil der Moscheen leer“, sagt Khorchide.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling

war bis 2023 in der profil-Innenpolitik