Blaue Stunde
Samstag, 18. Mai 2019. Nach dem Rücktritt von Heinz-Christian Strache als Vizekanzler und FPÖ-Chef formiert sich vor dem Bundeskanzleramt eine immer größer werdende Demonstration. Kanzler Sebastian Kurz wollte nach der Veröffentlichung der „Ibiza“-Videos eigentlich schon um 13 Uhr vor die Medien treten.
Demonstranten fordern den Rücktritt der Regierung. Neuwahlen werden gefordert. Die blaue Stunde ist nah. Seit drei Stunden wartet hier alles auf Kanzler Kurz. Wird er die Koalition aufkündigen? Wird er mit Norbert Hofer weitermachen? Die Stimmung im Publikum ist aufgeladen und entschlossen. Sollte Kurz die Koalition mit der FPÖ nicht auflösen, wird es das Land wohl spalten.
Unter Journalisten stellt sich immer wieder Frage: Warum dauert das so lange? Warum lässt sich der Bundeskanzler so lange Zeit? Die Pressekonferenz wird immer weiter nach hinten verschoben. Immer mehr Polizei rückt indes an, eine regelrechte Menschenkette bildet sich. Unterschiedliche politische Gruppierungen treten auf. Von der Sozialistischen Jugend, den NEOS, die Kommunistische Partei tritt auf – pinke und grüne Transparente werden geschwenkt. In der vordersten Reihe hält jemand das Mitterlehner-Buch „Haltung“ in die Höhe. Die „Omas gegen Rechts“ treten auf.
Auf der anderen Seite typische Wiener Momente: Ein Fiaker und eine japanische Reisegruppe mit Rollkoffern wird durch die Demonstration und Polizei-Absperrung eskortiert, während es sich einige Demonstranten auf den Antiterror-Pollern gemütlich machen.
Die Neuwahl-Rufe werden indes immer lauter. Teilweise herrscht so ein Lärm, dass man die kämpferische Rede der SPÖ-Spitzenkandidatin für die EU-Wahl Julia Herr gar nicht wirklich hören kann. Unter Journalisten gibt es derweil immer haarsträubendere Gerüchte über weitere Videos. Es wird wohl auf Neuwahlen hinauslaufen, so die Meinung unter den Kolleginnen und Kollegen. Auch die Aufdecker-Journalisten von der „Süddeutsche Zeitung“ sind vor Ort. Das ganze Video wollen Sie aber aus Quellenschutzgründen nicht veröffentlichen.
Aus der spontanen Demonstration wurde im Laufe des Nachmittags eine regelrechte Volksfeststimmung. Nachdem klar wurde, das es erst am Abend ein Statement von Kanzler Kurz geben wird, stellen sich die Menschen auf einen längeren Tag ein. Essen wird verteilt, Musiker treten auf.