Wiki-Wars: Was Politiker auf Wikipedia schönen lassen
Der Wikipedia-Autor Benqo verfügt entweder über viel Tagesfreizeit - oder er hat einen äußerst kulanten Chef. Seit Jahresbeginn nahm Benqo nicht weniger als 1200 Änderungen an Wikipedia-Artikeln vor, meistens ging es dabei um innenpolitische Themen. Benqos Wissen ist breit gefächert: Fast im Alleingang legte er noch während des Nationalratswahlkampfs 2017 den Beitrag zur Silberstein-Affäre an, der mit knapp 130 Einzelverweisen recht ausführlich geriet. Mehrmals täglich bearbeitet er Artikel von österreichischen Spitzenpolitikern; eine gewisse Schlagseite ist dabei nur schwer zu übersehen. Beim Eintrag über Kanzler Sebastian Kurz lieferte sich Benqo in den vergangenen Monaten erbitterte Bearbeitungskriege mit anderen Autoren. Wann immer der Lebenslauf um eine kritische Passage ergänzt wurde, war Benqo als einer der Ersten zur Stelle -und löschte den gesamten Absatz. Journalistische Kommentatoren, die Kurz eine Nähe zum Rechtspopulismus nachsagen, wollte Benqo partout nicht zitiert sehen. Seine Schönfärbungsversuche brachten ihm in der Community bereits den Ruf als "Biografie-Weißwäscher" ein.
Benqo ist einer von 5200 aktiven Autoren in der deutschsprachigen Version der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Ob hinter den Accounts umtriebige Privatpersonen oder professionelle Auftragsschreiber stecken, bleibt ein Geheimnis. Jeder kann die Beiträge des Open-Source- Lexikons umschreiben und ergänzen - anonym. Diese Offenheit ist zugleich die größte Schwäche des nichtkommerziellen Wissensportals. Damit wird Wikipedia anfällig für Manipulationen von Unternehmen und Interessensgruppen. Ein Wikipedia-Administrator und Mitarbeiter des österreichischen Trägervereins äußert nun erstmals offen den Verdacht, dass Parteien zunehmend versuchten, die Enzyklopädie für ihre politische PR zu missbrauchen. Ein Blick in die öffentlich einsehbaren Bearbeitungsverläufe der Politiker-Einträge nährt diese Vermutung.
Wikipedia wird sicher unterschätzt, was die Online-Reputation von Politikern angeht
"Wikipedia wird sicher unterschätzt, was die Online-Reputation von Politikern angeht", sagt der Wiener PR-Berater Yussi Pick. "Wenn man den Namen eines Politikers googelt, ist Wikipedia einer der ersten Einträge, und die Leute vertrauen darauf, weil sie dort auf unabhängige Informationen hoffen. Das ist ein relevanter Kanal, um Meinungshegemonie herzustellen." Belastbare Zahlen zum Image von Wikipedia erhob der Verband der Kommunikationsagenturen für Deutschland: Demnach vertrauen 66 Prozent der deutschen Nutzer auf die Qualität des Wissensportals, während es bei Facebook (32 Prozent) nicht einmal halb so viele sind.
Für Pressesprecher von Ministern und Nationalratspräsidentinnen gehört es inzwischen zur Routine, regelmäßig den Wikipedia-Eintrag ihrer Chefs zu checken. Und manche dürften es nicht nur beim Check belassen, sondern auch ein wenig nachhelfen. Es ist schließlich ein Unterschied, ob im Artikel über FPÖ-Innenminister Herbert Kickl dessen Auftritt beim rechtsextremen Kongress "Verteidiger Europas" in Oberösterreich erwähnt wird oder nicht und ob der Kongress als "rechts","rechtsextrem" oder "rechts bis rechtsextrem" bezeichnet wird. Alle drei Versionen fanden sich zwischenzeitlich in Kickls Wikipedia-Eintrag. Im Bearbeitungsverlauf offenbart sich eine hitzige Debatte zwischen den Autoren, ein Kampf um die politische Deutungshoheit . Für Kulanz mit Kickl plädierte etwa der auffallend aktive Wikipedia-Autor Pappenheim, der die kritische Kongresspassage im Unterkapitel "Politische Positionierung" einfach eliminierte. Aktuell steht dort zu lesen: "Im Zuge der Regierungsbildung mit der ÖVP im Jahr 2017 gab Kickl an, Politik zu machen, um die Gesellschaft fairer zu machen." Das klingt besser als ein Treffen mit Rechtsextremen.
Es ist auch ein Unterschied, ob die SPÖ-eigene Nachrichtenseite "Kontrast" als "Blog" oder "Parteiorgan" definiert wird. Vorläufig hat sich die aus SPÖ-Sicht freundlichere Variante durchgesetzt. Dass Mitarbeiter der Zweiten Nationalratspräsidentin Doris Bures, SPÖ, den Wikipedia-Eintrag ihrer Chefin bearbeiteten, ist zumindest sehr wahrscheinlich. "Ende 2016 organisierte sie einen Staatsakt. Hintergrund der Veranstaltung waren die Missbrauchsfälle in staatlichen und kirchlichen Kinderheimen", stand da bis zum Sommer des Vorjahres. Von der IP-Adresse des Parlaments aus fügte ein anonymer Autor dem Bures-Eintrag hinzu: "Infolge des Staatsaktes verabschiedete der Nationalrat das Heimopferrentengesetz, das vorsieht, ehemaligen Heimkindern eine zusätzliche monatliche Rente in Höhe von 300 Euro zukommen zu lassen." Dass das Gesetz vom damaligen Sozialminister und Bures-Parteifreund Alois Stöger auf den Weg gebracht wurde, wird nicht erwähnt.
Bearbeitungen von PR-Agenturen und Pressesprechern sind auf Wikipedia zwar erlaubt. Wer jedoch gegen Bezahlung editiert, müsste dies laut Regelwerk transparent machen. Und genau das passiert so gut wie nie - schließlich würden die Autoren damit ihre Glaubwürdigkeit in der Community aufs Spiel setzen.
"Die Parteien machen sehr professionelles Online-Marketing. Mein Eindruck ist: Das ist auch in der Wikipedia angekommen", sagt der langjährige Wikipedia-Autor Manfred Werner. Er schreibt seit 2004 ehrenamtlich an Beiträgen mit, zählt zum ausgewählten Kreis von 180 Administratoren im deutschsprachigen Raum und ist auch für den österreichischen Trägerverein des Online-Lexikons, Wikimedia, tätig.
Sie versuchen, alles, was irgendwie negativ ist, herauszuhalten. Das passiert besonders in den Artikeln über Kurz, Strache, Hofer und Kickl.
Zu den gängigsten Methoden der Schönfärbe-Kampagnen zählt, Kritik und Skandale aus den Artikeln zu löschen, abzuschwächen oder - wenn das am Widerstand der anderen Autoren scheitert - möglichst weit nach unten zu verschieben. Je länger ein Wikipedia-Artikel ausfällt, desto wichtiger erscheinen Politiker oder Sachverhalte. Durch tagesaktuelle Zeitungsberichte lassen sich die Einträge beliebig aufblähen.
"Es fällt auf, dass manche Autoren echt viel Zeit haben, sofort reagieren und so lange diskutieren, bis ihre Meinung durchgesetzt wird. Sie versuchen, alles, was irgendwie negativ ist, herauszuhalten. Das passiert besonders in den Artikeln über Kurz, Strache, Hofer und Kickl. Dieselben Autoren, die dabei auffallen, sind sehr fleißig , bei ihren politischen Konkurrenten möglichst viel Kritisches unterzubringen", erzählt Werner. Bei analogen Stammtischen der Online-Community hat er die betreffenden Autoren noch nie gesehen.
Die Statistik deckt sich mit Werners Befund : Ein durchschnittlicher Wikipedia- Artikel wird 29 Mal bearbeitet. Bei politischen Einträgen gibt es deutlich mehr Kontroversen. Der Eintrag über Bundespräsident Alexander Van der Bellen wurde seit Mai 2015 insgesamt 970 Mal editiert , jener über Sebastian Kurz sogar 1022 Mal. Die "Edit Wars", wie Wikipedianer ausufernde Bearbeitungskriege nennen, haben solche Ausmaße erreicht, dass Kurz' Artikel bis Mai 2019 für Korrekturen von Autoren gesperrt wurde. Nur Admins können bis dahin Änderungen vornehmen.
Ganz aussperren kann Wikipedia die anonymen Autoren nicht. Ohne die Ehrenamtlichen wäre die kostenfreie Enzyklopädie undenkbar - allein in der deutschen Version stehen inzwischen über zwei Millionen Artikel zur Verfügung, die meisten davon unumstritten. "Ja, die Plattform ist offen für Manipulationsversuche", sagt der Organisationsforscher Leonhard Dobusch von der Universität Innsbruck: "Umgekehrt gilt: Die Wahrscheinlichkeit, systematische Manipulationsversuche aufzudecken, ist aufgrund der Transparenz der Plattform groß." Eine Gefahr sieht Dobusch im sinkenden ehrenamtlichen Engagement: "In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der aktiven Wikipedianer im deutschsprachigen Raum halbiert. Wer viel Tagesfreizeit hat, ist da im Vorteil."
Wikipedia kann jedenfalls Fakten schaffen. Diese Erfahrung mussten mehrere deutsche Medien im Jahr 2009 machen, darunter auch so renommierte wie das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jakob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg: So heißt der frühere CSU-Wirtschaftsminister mit vollem Namen. Ein Scherzbold fügte Guttenbergs Wikipedia-Eintrag damals den Vornamen Wilhelm hinzu. Mehrere deutsche Medien tappten in die Falle - sie kopierten den Namen aus dem Online-Lexikon.