Großbaustelle Wohnen
Der Gedanke, dass sie sich ihre 90 Quadratmeter große Wohnung im Wiener 7. Bezirk einmal nur mehr schwer leisten würde können, wäre der 59-jährigen Angestellten Karin S., die in der PR-Branche ein Gehalt von 2400 Euro netto bezieht, früher nie gekommen. Karin zählt zu jenem Mittelstandssegment, das in den Aufschwungsjahren beruflich Fuß fasste und durchaus in der Lage war, damals Ersparnisse anzusammeln. Die explodierenden Energiekosten und eine stetig steigende Mietvorschreibung, die sich kürzlich wieder um 150 Euro erhöhte, stellen die alleinerziehende Mutter, deren erwachsener Sohn gerade in eine Gemeindewohnung gezogen ist, nun aber vor dringenden Handlungsbedarf: Die Reserven, die eigentlich für die Pension gedacht waren, müssen angebrochen werden; ein Student zog als Untermieter für 500 Euro pro Monat in das Zimmer des Sohnes; an Reisen, ihre große Leidenschaft, ist nicht mehr zu denken: „Wenn ich alle Fixkosten abziehe, bleiben mir zum Leben nicht mehr als 500 Euro monatlich über. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich je in eine solche Lage schlittern könnte. Ich hielt mich für einen Teil des gehobenen Mittelstands.“
Karin ist das Gesicht einer Gesellschaftsschicht, die Krisen bislang relativ stabil überstehen konnte. Das hat sich drastisch geändert. Dass die Koalitionsverhandlungen um eine Mietpreisbremse gescheitert sind und man sich auf Einmalzahlungen für einkommensschwache Haushalte geeinigt hat, trifft den Mittelstand durchaus hart. Ab diesem Monat werden die Richtwertmieten für über 370.000 Haushalte um 8,6 Prozent erhöht.
„Statt der Mietpreisbremse kommen Einmalzahlungen zum Einsatz, was für die Inflation total kontraproduktiv ist“, erklärt die Genderforscherin und Autorin Beatrice Frasl: „Und natürlich sind alleinerziehende Mütter und Pensionistinnen von der Armut am stärksten betroffen.“ Neben Miet- und Energiedeckeln fordert sie auch für den Lebensmittelhandel „politische Maßnahmen, denn da gehen Preiserhöhungen weit über die Inflationsrate hinaus“. Die Volkshilfe registrierte bei ihren Sozialmärkten in den vergangenen Monaten eine um 30 bis 50 Prozent verstärkte Nachfrage.
Dramatische Veränderungen
Eine junge Frau im Tageszentrum der Caritas für Wohnungslose. Inzwischen kämpfen 450.000 Haushalte in Österreich mit Mietrückständen. Aber auch das Wohnverhalten der Besserverdiener hat sich verändert: Es wird wieder mehr gemietet als gekauft.
Wohnen am Limit
Mit Transparenten wie „Eating or heating?“ (Essen oder Heizen?) protestierten Senioren in Großbritannien gegen die Teuerungswelle. Auch in Österreich geraten immer mehr Menschen in Lebenssituationen, wie man sie hier zuletzt in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebt hat. „Ich benutze jeden Teebeutel mehrfach“, erzählt eine junge, alleinstehende und zurzeit arbeitslose Frau, die von der Volkshilfe unterstützt wird: „Vollbäder, die ich früher so gerne genommen habe, mache ich nicht mehr. Die Eigentumswohnung, deren Kreditrückzahlung mein Vater übernommen hat, ist kaum geheizt. Der ständige Druck, nur günstig zu essen, macht mich fertig.“ Die Situation wirke sich inzwischen so auf ihre Psyche aus, „dass ich mir nichts mehr zutraue“. Die 31-Jährige stammt aus dem gehobenen Mittelstand; die Kindheit mit Reit- und Tanzstunden liegt in weiter Ferne.
Eine alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter erzählt, dass sie nur bei der Caritas Unterstützung fand. Staatliche Stellen konnten ihr nicht helfen. Inzwischen hat sie wieder einen 40-Stunden-Job angenommen. Das Schamgefühl, an der Supermarktkasse stehen zu müssen und sich den Einkauf dann doch nicht leisten zu können, war unerträglich: „Ich musste meiner Tochter erklären, dass ich die Süßigkeiten nicht bezahlen kann. Mit dem Job kann ich jetzt natürlich viel weniger Zeit mit ihr verbringen.“
Ramponierter Mittelstand
„Es ist tatsächlich oft so“, erzählt Volkshilfe-Geschäftsführer Erich Fenninger, „dass die, die früher für uns gespendet haben, inzwischen unsere Hilfe benötigen.“ Über 455.000 österreichische Haushalte sind gegenwärtig mit ihren Mietzahlungen im Rückstand, die Anzahl der Delogierungen ist um 20 Prozent gestiegen, die eingebrachten Räumungsklagen wuchsen von 15.041 im Jahr 2021 auf über 20.000 im Vorjahr. Organisationen wie Caritas, Diakonie und Volkshilfe helfen den von Wohnungsverlust bedrohten Menschen finanziell und organisatorisch. Die Wien-Statistik der Caritas zeigt, dass von den 7660 Personen, die im vergangenen Jahr Hilfe beim P7 (der zentralen Erstanlaufstelle der Caritas Wien für wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen) suchten, zwei Drittel das erste Mal diesen demütigenden Gang angetreten sind.
Die Betreuerinnen der Delogierungs-Präventionsstellen und der Sozialberatung von Volkshilfe und Caritas erzählen Ähnliches. Der Beratungsansturm habe sich innerhalb des vergangenen Jahres um 50 bis 100 Prozent erhöht. Vor allem alleinerziehende Mütter und Pensionistinnen bedürfen der dringenden Hilfe, und die Notlagen fressen sich immer mehr in die Mittelschicht. Oft kommen die Informationen über drohende Räumungsklagen von den Bezirksgerichten, aber immer häufiger suchen die vom Wohnungsverlust Bedrohten schon im Vorfeld um Hilfe an. Lea Laubenthal, Leiterin der Wiener Sozialberatung der Caritas, erzählt von ihrer täglichen Arbeit: „Wir betreiben Case-Management, nehmen Kontakt mit den Vermietern auf, erarbeiten mit unserer Klientel einen Ratenzahlungsplan bei den Vermietern, erstellen eine Energiesparberatung und informieren über die möglichen Beihilfen, denn vor allem Migrantinnen wissen oft nicht, wohin sie sich noch wenden könnten.“ Während Privatvermieter oft schon bei der ersten ausständigen Miete Klage einbringen, hält man bei Gemeindebauwohnungen eine Kulanzzeit von drei Monaten ein, ehe gehandelt wird.
In Österreich waren laut Statistik Austria zuletzt rund 20.000 Menschen als wohnungslos registriert. Die Dunkelziffer ist allerdings weit höher: Tausende Menschen leben „verdeckt obdachlos“, kommen bei Freunden oder Bekannten unter und versuchen, ihre Notlage zu verbergen. Das betrifft häufig Frauen, junge Erwachsene, LGBTQ+-Personen oder Familien mit Kindern. Auffällig sei, so Klaus Schwertner von der Caritas Wien, „dass ein Drittel der Betroffenen unter 30 Jahre alt ist.“
Der auf Miet- und Heizkostenzuschüsse erweiterte Wohnschirm des Sozialministeriums wurde kürzlich um 225 Millionen Euro aufgestockt. Diese Maßnahme helfe zwar, die akute Not zu lindern, doch langfristig brauche es andere Lösungen, kritisiert Schwertner: „Die Caritas anerkennt die Unterstützungsleistungen, die die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht hat. Doch wir bedauern, dass die seit mehr als zehn Jahren versprochene und auch von der Regierung im Koalitionspapier festgeschriebene Mietrechtsreform nicht angegangen wurde. Denn für uns ist klar: Um einen Anstieg von Armut und Wohnungslosigkeit zu verhindern, braucht es dringend strukturelle und auch langfristig wirksame Entlastungen. Wichtig wäre etwa eine grundlegende Reform der Sozialhilfe und langfristige Unterstützung im Bereich der immer stärker steigenden Mieten.“
"Manche, die früher für uns gespendet haben, brauchen jetzt unsere Hilfe."
Erich Fenninger, Volkshilfe-Geschäftsführer
Erich Fenninger, Geschäftsführer der Volkshilfe, skizziert ein bedrohliches Szenario: „Aktuell leben in Österreich eineinhalb Millionen Menschen in Armut. Die Mieten sind schon in den letzten Jahren um über 40 Prozent gestiegen, die Mietpreisbremse hätte inflationsdämmend gewirkt. Es findet gegenwärtig eine gesellschaftliche Entkoppelung statt, die Kluft wird immer größer. Und wir wissen aus unserer Forschungsarbeit, dass jene Kinder, die am Ende des Monats nur mehr Toastbrot zu essen kriegen, die Arbeitslosen von morgen sein können.“ Fenninger spricht von einer „Liftgesellschaft“, einer Metapher des deutschen Soziologen Ulrich Beck: „Wenige kommen ganz oben an, viele steigen früher aus. Ich würde ergänzen: Zurzeit fahren viele allein die Rolltreppe hinunter, wissen aber nicht, wie vielen anderen es ähnlich geht.“
Doch wie sieht der Wohnungsmarkt in den oberen Stockwerken aus? Welche Konsequenzen haben Inflation und Verunsicherung in jenen Gesellschaftsschichten, die sich in den letzten Jahrzehnten als durchwegs krisenresistent erwiesen haben?
Stimmungsbild am Immobilienmarkt
Die Stimmung am Markt, so der Wiener Immobilienmakler Eugen Otto, „hat sich dramatisch verändert“. Gegenwärtig geht es jener Klientel, die früher eine Wohnung gekauft hätte, eher darum, „zu bewahren, anstatt zu gestalten“. Jene, die vor der Krise, auf Basis eines sicheren Jobs, einen Kredit für eine Wohnung gut bedienen konnten, tendieren in der gegenwärtigen Situation und aufgrund der neuen Kreditregelungen, durch die 20 Prozent Eigenkapital verpflichtend sind und die Raten maximal 40 Prozent des Einkommens ausmachen dürfen, eher zum defensiven Verhalten: „Der Zugang zu Geld hat sich wesentlich erschwert.“ Die, die früher vor allem in Immobilien investierten, haben inzwischen tauglichere Alternativen mit höheren Renditen gefunden. Bei Zinshäusern sei in etwa ein Preisrückgang von zehn Prozent zu beobachten.
Eine Einschätzung, die auch Elisabeth Rohr, Wiener Immobilienvermittlerin und Vizepräsidentin des unabhängigen Verbands der Immobilienwirtschaft ÖVI, teilt: „Sehr viele, die kaufen wollten, weichen jetzt wieder auf Miete aus, weil sie den Kredit auf- grund der neuen Vergaberegeln nicht bekommen haben. Oder den Kreditantrag gar nicht erst stellen.“ Das Mietenangebot wiederum sei aktuell „breit und etwas preisgünstiger“, so Eugen Otto, mit dem Unterschied, dass „die Mieterinnen und Mieter inzwischen das Heft in die Hand nehmen können. Man muss sich heute nicht mehr wie früher bei den Vermietern herzig machen. Der Markt hat sich normalisiert, seine Balance gefunden, was ich durchaus begrüße.“
Was ungenutzte Büroflächen betrifft, ist Wien, im Vergleich mit Metropolen wie New York oder London, mit vier Prozent Leerstand gut bedient. Natürlich sei „das Homeoffice gekommen, um zu bleiben“, so Otto, aber der Bedarf an modernen Büroflächen, „wo zum Beispiel Lounges für Teamsitzungen eingeplant werden“, sei weiter gegeben: „Viele dieser Büroflächen sind noch nicht den neuen Ansprüchen, wie dem agilen Arbeiten, angepasst. Unternehmen brauchen wahrscheinlich weit weniger Platz, nur müssen Büros in Zukunft ganz anders gestaltet werden.“
„Der Markt ist gegenwärtig in einer Abwarteposition“, meint auch Wolfgang Popp von der Firma Engel und Völkers, in dessen Portfolio sich gehobene Landhäuser und Villen in den Bundesländern befinden: „Sowohl Käufer als auch Verkäufer befinden sich in einem Zustand der Verunsicherung.“ Aus der Sicht des Maklers sei es „in den letzten Monaten schwieriger geworden, schöne Objekte in guter Lage zu finden“.
Eine Flucht aufs Land beobachtet Elisabeth Rohr derzeit nicht: „Den Trend gab es zu Beginn der Pandemie. Inzwischen herrscht eher die Tendenz, dass die Leute wieder in die Stadt zurückwollen.“ Potenzielle Mieter, die auf Lage und Altbau Wert legen, „sind sehr achtsam, was den Energieausweis eines Objekts betrifft“. Häufig sei auch zu beobachten, dass Menschen ihre Wohnungen aufgeben, weil sie sich nach einer Trennung, dem Auszug der Kinder oder aufgrund von Finanzproblemen verkleinern wollen. Man dürfe in der Debatte „aber nicht vergessen“, dass die Vermieter genauso mit steigenden Kosten konfrontiert sind. Rohrs Prognose: „Der Markt wird sich selbst regulieren, ohne Eingriff der Gesetzgeber. Ich beobachte auch, dass einige Vermieter den Zins gar nicht erhöhen, da sie vorziehen, wenn ihre Mieter bleiben und sie sich nicht in neue Kosten durch Oberflächensanierungen stürzen müssen.“
Die Konzepte der Generation Klimabewusst
Doch nicht nur die Finanzlage, auch das ökologische Bewusstsein wird das Wohnverhalten der Zukunft prägen. Die kommende Generation wird mit sehr viel weniger Wohnfläche auskommen müssen und wollen. Die Soziologin Christine Hannemann, die in Stuttgart einen Lehrstuhl für Wohnsoziologie innehat, hält eine maximale Wohnfläche von 25 Quadratmetern pro Kopf für „angemessen“: „Die Klimakrise ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass wir jeden Quadratmeter unbebauter Fläche schützen sollten. Uns fehlen Bäume, keine frei stehenden Gebäude aus Beton, in denen gerade einmal vier Leute leben.“ Das Eigenheim, das für die Generation der Babyboomer noch den Nachweis erbrachte, es im Leben „geschafft zu haben“, wird von der Generation Greta mit Schuldgefühlen aufgeladen. In Städten wie Paris, London oder New York mit ihren seit Jahren exorbitanten Mietpreisen sind „tiny“ Wohnzellen von zehn, zwölf Quadratmetern schon längst nichts Ungewöhnliches. Möbelerzeuger wie die italienische Firma Mobilspazio und ganze Architektengeschwader sind auf die Gestaltung von verschiebbaren Modulen, Klapplösungen und Mini-Apartments spezialisiert. Sie werden auch bei uns ihren Markt finden.