Vladislav Davidzon (re.) am Vorabend der Invasion mit US-Schauspieler Sean Penn in Kiew
Stimmen aus dem Krieg

„Können Sie sich vorstellen, was dieser Krieg mit den Kindern anstellt?“

Vladislav Davidzon nutzt seine Kontakte in den Westen, um Menschen aus Odessa zur Flucht zu verhelfen. Eben hat er seine Familie nach Paris gebracht. Jetzt will er zurück ins Kriegsgebiet.

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Erinnert sich Vladislav Davidzon an den Vorabend der russischen Invasion in der Ukraine, beschleicht ihn ein nahezu surreales Gefühl. Der 37-jährige Autor und Journalist verbrachte die Nacht rauchend und trinkend mit Sean Penn in Kiew. Der US-amerikanische Schauspieler war für einen Film über Präsident Selenskyj in der Hauptstadt gewesen, Davidzon führte ihn durch die Stadt und organisierte ein Abendessen mit heimischen Journalisten.

Dann begann der Krieg.

Als die ersten Bomben fielen, sei Penn bei Selenskyj gewesen, sagt Davidzon. Während Penn in den Tagen danach in einer aufwendigen Rettungsaktion aus dem Land gebracht wird, wird Davidzon zum Fluchthelfer. Die vergangenen zwölf Jahre ist er zwischen Paris und Odessa gependelt, nun unterstützt er die Einwohner der Ein-Millionen-Einwohner-Stadt am Schwarzen Meer bei der Flucht in den Westen, nutzt seine Kontakte nach Frankreich und in die USA, organisiert Mitfahrgelegenheiten.

Davidzon ist ein Weltbürger, doch seine Wurzeln liegen hier in Odessa, jener multikulturellen Metropole, über die er noch im vergangenen Herbst ein Buch herausgebracht hat. „From Odessa With Love“ ist ein Band politischer und literarischer Essays und eine Liebeserklärung an die Stadt.

Geboren wurde Davidzon im usbekischen Taschkent, die Eltern sind ukrainische Juden, die Familie ist 1941 vor den Nazis geflohen. Seine Kindheit verbringt Davidzon in Moskau und New York, später lebt er in Frankreich und Italien. Zuletzt, in den Wochen vor dem Einmarsch, berichtete er unter anderem für das „Wall Street Journal“ aus Kiew. Doch dann nimmt eine Flotte russischer Kriegsschiffe Kurs auf Odessa.

Seither rüstet sich die drittgrößte Stadt des Landes für den Kampf. Der Strand nahe des Zentrums ist vermint, Sandsäcke bilden Barrieren vor der Altstadt. Es geht um nicht weniger als die wirtschaftliche Zukunft der Ukraine: Rund 70 Prozent der Importe und Exporte passieren den Hafen Odessas. Fällt sie in die Hände der Russen, ist die Ukraine vollständig vom Meer abgeschnitten – und viele Güter könnten das Land nicht mehr erreichen.

„Vor zwei Wochen konnte ich zumindest Teile meiner Familie von der Flucht überzeugen“, sagt Davidzon im Gespräch mit profil. Seine Frau, deren Schwägerin und die beiden kleinen Töchter sollen mit seiner Hilfe in die EU gelangen. Über Moldawien schaffen sie es nach Rumänien, die Reise dauert eineinhalb Tage. An der Grenze zu Moldawien warten Tausende Menschen in der Kälte, es sind hauptsächlich Frauen mit Kindern. Davidzon ist weit und breit der einzige Mann im wehrfähigen Alter, viele strafen ihn mit verachtenden Blicken. Sein US-amerikanischer Pass sichert ihm die Ausreise.

In Bukarest organisiert er Passierscheine für Frankreich, seine Nichten haben keine Pässe. Davidzon erinnert sich gern an die Tage in der rumänischen Hauptstadt. Die meiste Zeit verbringt er im Kunstmuseum, das in diesen Tagen voll ist von ukrainischen Müttern mit ihren Kindern. Er führt sie herum, erzählt ihnen von den Malern El Greco und Tintoretto, die Kinder sind begeistert. „Ich weiß einiges über Kunstgeschichte und wollte mich nützlich machen“, sagt Davidzon.

Wenige Tage später geht es mit dem Flugzeug weiter nach Paris, die Maschine ist voll besetzt mit ukrainischen Flüchtlingen. Die Familie ist in Sicherheit, doch Davidzon will sobald wie möglich zurück nach Odessa. Vergangene Woche habe er „ein paar Tage Pause gemacht“, wirklich zur Ruhe kommt er aber nicht – Davidzon schreibt Artikel, tritt im französischen Fernsehen auf, spricht auf CNN und BBC. Zwischendurch telefoniert er mit der Heimat, immer noch schreiben ihm Menschen, die bei der Flucht Hilfe brauchen.

Für den Krieg in der Ukraine findet Davidzon eine Analogie aus der Popkultur. „Es ist“, sagt er, „als hätte sich Darth Vader gegen die Demokratie gewandt, der Kampf des Guten gegen das Böse.“

Während die Unterhändler Russlands und der Ukraine am Montag über eine Lösung des Konflikts verhandeln, zeigt Davidzon in Paris seinen Nichten Notre-Dame, erzählt, dass die Kathedrale vor ein paar Jahren gebrannt habe. Ob die Russen sie angezündet hätten, fragte eines der Mädchen. „Was sollen sie sonst auch glauben“, sagt Davidzon. „Können Sie sich vorstellen, was dieser Krieg mit den Kindern anstellt?“

Jeden Tag telefoniert Davidzon mit Menschen in Odessa. Bisher waren die Bombardements, anders als etwa in Charkiw oder Mariupol, nicht besonders schwer. „Sie dienten wohl dazu, die Verteidigung der Stadt zu testen und den Menschen Angst einzujagen“, sagt er.

Und was wünscht er sich vom Westen?

Davidzon ist einer der wenigen Ukrainer, die keine Flugverbotszone fordern. „Das wird den Krieg nicht entscheiden“, sagt er, „ich erwarte nicht, dass die NATO russische Flieger abschießt.“ Sein Land brauche eine ordentliche Flugabwehr – es müsse schwerer und gefährlicher werden, über die Ukraine zu fliegen. „Wir brauchen Waffen und schärfere Sanktionen.“

Am Mittwoch weicht auch Selenskyj von seiner Maximalforderung einer Flugverbotszone durch die NATO ab. Stattdessen bittet er in einer Videoschaltung mit dem US-Kongress um Flugabwehrsysteme: „Sie wissen, welche Systeme wir brauchen. Sie wissen, wie viel vom Kampf um den Luftraum abhängt.“

Am Ende, sagt Davidzon, werde die Ukraine unangenehme Zugeständnisse machen müssen. Einen Kompromiss sieht er auf absehbare Zeit nicht, sondern geht davon aus, dass die Russen Städte wie Mariupol einnehmen, bevor sie ernsthaft bereit sind, zu verhandeln. „Das wird schrecklich – und es kann Wochen dauern.“ Spätestens am Montag will er zurück in der Ukraine sein. Den Flug nach Warschau hat er bereits gebucht.

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.