Amazon-Streik: „Warum bist du arbeiten gegangen, Bruder?“
Jeff Bezos mag keine Betriebsräte, keine Gewerkschaften und keine langen Diskussionen mit ihnen. 28 Jahre lang hat das in den USA auch funktioniert. Doch Inflation und Arbeitskräftemangel änderten die Gemengelage. Der Druck wurde größer, die Verhandlungsposition der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker. Das spürt der multinationale Konzern.
Trotz Boni und höherer Löhne konnte Amazon den Gewerkschaften nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Diesen Sommer stimmten über 2500 Beschäftigte in den USA für die Gründung der ersten Gewerkschaftsvertretung. Auch in Europa mehrt sich der Widerstand. Rund um die „Black Friday“ Rabattwoche streikten in Frankreich, Spanien, Polen, Deutschland und weiteren Ländern Mitarbeiter des Konzerns unter dem gemeinsamen Motto „Make Amazon Pay“. Und das bei einem Betrieb, bei dem Streiken oft nicht folgenlos bleibt, wie Beschäftigte berichten.
Österreich befindet sich mitten in einem heißen Lohnverhandlungsherbst. Es wurden so viele Streiks angedroht und auch durchgeführt, wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Diese Woche legten Brauereimitarbeiterinnen und -mitarbeiter, Eisenbahner und Teile der A1 Telekombelegschaft ihre Arbeit nieder. Auch die heimischen Handelsangestellten drohten mit einem Streik am heiligen Einkaufssamstag vor Weihnachten, der dann durch eine schnelle Einigung abgewendet wurde. Doch bei Amazon Österreich – immerhin der größte Onlinehändler des Landes? Alles ruhig. Wie das?
Wer arbeitet dort?
Amazon-Mitarbeiter in Europa und den USA eint so einiges: In den Verteilzentren und in der Zustellung haben viele eine ausländische Staatsbürgerschaft, einen prekärem Aufenthaltsstatus und schlechte Sprachkenntnisse, schreibt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger in einer Studie über die Arbeitsbedingungen dort. Viele Beschäftigte sind wenig qualifiziert oder haben Ausbildungen, die in der EU nicht anerkannt werden. So scannen, sortieren und verteilen ehemalige Polizisten, gelernte Schlosser und Sportlehrer Pakete bei Amazon. Für diese Recherche war profil bei Streiks der Amazon-Mitarbeiter im Logistikzentrum in Achim bei Bremen und in jenem in Winsen nahe Hamburg unterwegs, und fragte hierzulande nach.
In Österreich eröffnete Amazon vor vier Jahren den ersten Logistikstandort. Mittlerweile betreibt der Konzern drei Verteilzentren nahe Wien, welche die Ware für die letzte Meile vorbereiten, ein weiteres Verteilzentrum in Klagenfurt sowie ein Forschungs- und Entwicklungszentrum in Graz und ein Webzentrum in Wien. Über 600 Beschäftigte arbeiten in den Logistikstandorten, dazu kommen etwa 600 Auslieferer bei Subunternehmen und zu Spitzenzeiten weitere Aushilfskräfte.
Vor drei Jahren hat ein Amazon-Mitarbeiter Missstände im Verteilzentrum Großebersdorf nach außen getragen – Überwachung, hoher Druck, fehlende Sicherheitsmaßnahmen und Verletzungen bei der Arbeit. Bei einer wenige Monate später erfolgten Razzia gab es 987 Beanstandungen, bei weiteren Kontrollen der Subunternehmer beanstandete das Arbeitsinspektorat Arbeitszeitübertretungen und fehlende Aufzeichnungen der Fahrer.
Doch nach wie vor gibt es keinen Betriebsrat bei Amazon Österreich und keinen Kontakt zur Gewerkschaft, bestätigen die Gewerkschaft für Handelsangestellte GPA und die für Lager- und Transportmitarbeiter namens vida. In Österreich gibt es insgesamt 70.000 Betriebsräte in Unternehmen. Ab fünf Mitarbeitern haben Beschäftigte das Recht auf einen Betriebsrat. Die Sprecher beider Gewerkschaften sagen, sie haben erfolglos versucht, einen Zugang zur Belegschaft zu finden.
Anders die Lage in Deutschland. Das Land ist der wichtigste Auslandsmarkt für Amazon. Der US-amerikanische Konzern eröffnete hier vor mehr als zwanzig Jahre sein erstes Logistikzentrum, mittlerweile gibt es hunderte Standorte und 20.000 Mitarbeiter, plus an die 10.000 Saisonkräfte. In rund 20 Logistikzentren gibt es aber mittlerweile Betriebsräte, heißt es von der deutschen Gewerkschaft Dienstleistungsgewerkschaft verdi. Seit acht Jahren unterstützen sie Amazon-Mitarbeiter, sich zu organisieren – mit langem Atem, längerfristigen Strategien und in Kooperation mit anderen europäischen Ländern. Im Mai wählte das Logistikzentrum in Achim nahe der norddeutschen Stadt Bremen zum ersten Mal einen Betriebsrat. Und prompt wurde in der „Black Friday“ Woche zum ersten Mal gestreikt.
Achim, 25. November: Einige Gewerkschafter und erste Mitstreikende stehen mit Warnwesten, Flugblättern und Fahnen vor dem Zaun, der die riesige Amazon-Halle umgibt und sprechen Beschäftigte an. Im Minutentakt kommen diese in Bussen an – der Schichtbeginn steht kurz bevor. Der Leiter des Standorts steht mit einem Kollegen am Streiktag am Eingangstor und begrüßt die rund 500 Mitarbeiter, die zur Spätschicht kommen und ihn sonst nur selten zu Gesicht bekommen, einzeln. „Hey Gentlemen“, ruft er einer Gruppe zu. Es wirkt ein bisschen surreal, aus der Zeit gefallen. Die Gewerkschafter erzählen, dass Amazon dies bei Streiks oft mache, um Druck auf Beschäftigte aufzubauen.
Nur wenige Mitarbeiter bleiben beim Stand der deutschen Gewerkschaft Verdi stehen. Einige erkundigen sich, gehen aber wieder weiter. Sie haben einen befristeten Vertrag und fürchten die Kündigung. Einer der wenigen, die stehen bleiben, ist ein junger Mann aus Somalia. Sein Vertrag endet in Kürze. Er hat Pakete gescannt und geschlichtet, hat sich bemüht schnell zu sein, die Zeiten zu schaffen, aber er weiß nicht, ob er verlängert wird. Bisher ignorierten Teamleiter und Manager seine Fragen und Nachfragen. Gestern riefen ihn allerdings vom Teamleiter aufwärts Führungskräfte an und versprachen ihm, eine Lösung zu finden, er solle bloß nicht zur Gewerkschaft gehen. Doch er bleibt, zieht sich eine Warnweste über und beginnt Flugblätter an seine Kollegen zu verteilen.
Die Probleme haben System
Grund für den Streik ist: Die Beschäftigten fordern, dass Amazon nach Kollektivvertrag zahlt (in Deutschland Tariflohn), die Inflation abfedert und bessere Arbeitsbedingungen schafft. Das erste Streitthema fällt in Österreich weg. Denn Amazon ist wie jedes Unternehmen Mitglied bei der Wirtschaftskammer und an Kollektivverträge gebunden. In Deutschland entscheiden sich Unternehmen freiwillig dazu. Bei Amazon sind etwa auch die Lohnerhöhungen wegen der Inflation von Standort zu Standort unterschiedlich ausgefallen. Doch in beiden Ländern berichten Beschäftigte immer wieder von hohem Druck, Überwachung, kurzen Verträgen und plötzlichen Kündigungen.
Zur Arbeitsrechtsberatung der Arbeiterkammer Wien kommen Menschen mit ähnlichen Problemen, doch es sind kaum tatsächliche Amazon-Angestellte, sondern Lieferanten, die für Subunternehmen arbeiten. „Der Druck ist groß, die Zahl der Pakete auch und die Arbeitszeiten sind unberechenbar“, erzählt Juristin Jasmin Haindl von der Arbeiterkammer Wien. Der 25-Jährige Fatih aus Wien hat bis zum Sommer bei einem dieser Subunternehmen gearbeitet und für vierzig Stunden etwa 1,500 Euro netto bekommen. Letztlich habe er nach einem Streit wegen der Arbeitszeit gekündigt. Geld für Überstunden wurde nicht oder nur verspätet ausgezahlt, Wartezeiten im Lager wurden nicht in die Arbeitszeit eingerechnet. Am Ende des Monats fanden Beschäftigte Abzüge beim Gehalt, erzählt er. Oftmals gehe es dabei um Schäden an den Autos für die den Fahrern zwischen 250 und 750 Euro abgezogen wurden. "Mein neuer Arbeitgeber würde das nie machen", sagt Fatih. Für die Arbeiterkammer kann sich der Konzern da nicht der Verantwortung entziehen, denn die Probleme mit Subunternehmern haben System. „Da müsste gesetzlich nachgeschärft werden“, sagt Haindl.
Von Amazon heißt es dazu auf Anfrage: „Die erwähnten Zustände entsprechen keinesfalls der Realität für die hunderten Menschen, die bei Lieferpartnern in Österreich beschäftigt sind und jeden Tag Pakete zu Amazon Kund:innen bringen.“
Der Dollar rollt langsamer
Nach Höhenflügen zu Beginn der Pandemie spürt aber auch Amazon, dass die Konjunktur ins Stottern kommt. Seit Beginn des Jahres schwächelt der Konzern und verbucht zum ersten Mal seit 2015 in einzelnen Quartalen Verluste. Im abgelaufenen dritten Quartal verdiente Amazon zwar 2,9 Milliarden Dollar. Im Jahr davor waren es im gleichen Zeitraum 3,2 Milliarden Dollar gewesen. Die Amazon-Aktie, die wie viele Tech-Aktien ein hartes Jahr hinter sich hat, büßte heuer mehr als vierzig Prozent ihres Werts ein. Das mäßige Ergebnis im dritten Quartal sorgte für einen weiteren Knick Ende Oktober. Auch für das Weihnachtsquartal setzt Amazon – verhältnismäßig – niedrige Erwartungen mit Erlösen zwischen 140 Milliarden und 148 Milliarden Dollar. Das Unternehmen erwartet zwischen null und vier Milliarden Dollar Gewinn in diesem Zeitraum – auch das lag unter den Erwartungen der Analysten. Kurz danach kündigte Amazon an, 10.000 Leute zu entlassen, vor allem in der Gerätesparte rund um das Sprachassistenzprogramm Alexa. Kommendes Jahr soll die nächste Kündigungswelle folgen.
In Österreich will die Firma hingegen weiter expandieren. Ein neuer Standort in St. Valentin in der Nähe von Linz wird diskutiert. Eine Bürgerinitiative hat dagegen Stellung bezogen, so auch der Gemeinderat im nahegelegenen Amstetten. Die St. Valentiner Bürgermeisterin Kerstin Suchan-Mayr betont, dass es eine Grundsatzentscheidung des Gemeinderats dafür gebe, Amazon werde am 14. Dezember das Projekt der Bevölkerung vorstellen. Sie erzählt, dass in Vorgesprächen über die „typischen Themen bei Amazon“ gesprochen – Arbeitsbedingungen, Flächenversiegelung und Mitarbeitervertretungen. „Wir sagen, dass Unternehmen, die bei uns ansässig sind, auch sozialrechtliche Vertretungen, wie Betriebsräte, respektieren müssen. Amazon hat gesagt, dass sie dem offen gegenüberstehen.“ Die Gewerkschaft verfolgt das mit großem Interesse.
Amazon nutzt Betriebsräte für sich
Zurück in Achim bei Bremen: Hier steht zwischen Aktivisten mit Trommeln, Streikenden mit Käsesemmeln und Flugblättern Betriebsratsmitglied Rainer Reisinger. Immer wieder unterbricht er das Gespräch. Busse mit Mitarbeitern für die Nachtschicht kommen an. Gewerkschafter und Streikende sprechen sie an, junge Aktivisten entzünden Leuchtfackeln. Er erzählt, dass Amazon mittlerweile Betriebsräte nicht mehr ganz so schlimm fände. Grund dafür: Sie wissen, sie auch in ihrem Sinn zu nutzen. „Amazon hat eigene Listen aufgestellt, diese bezahlt, und auch gewonnen.“ Das erinnert mehr an Wahlen in autoritären Regimen aus den Herkunftsländern vieler Mitarbeiter als an deutsche Unternehmenskultur. Amazon antwortet darauf: „Dem müssen wir deutlich widersprechen. Den Mitarbeiter:innen obliegt es selbstverständlich selbst, wie und in welcher Form sie sich im Zuge dessen engagieren. Wer kandidiert, bestimmt nicht Amazon, sondern die Kandidat:innen selbst.“
Auch in Hamburg habe es die letzten vier Jahre einen arbeitgeberfreundlichen Betriebsrat gegeben, nach der Wahl heuer schaut es anders aus. „Wir sind jetzt mehr auf Kampf gebürstet“, erzählen sie dort. Einige Gespräche mit den gewerkschaftlich aktiven Mitgliedern zeigen: Viele haben schon Übung. Rainer Reisinger war davor schon Betriebsrat in anderen Firmen. Bei Amazon war er einer der ersten 300 Bewerber und sei dadurch beim Screening „durchgerutscht“.
Der Hamburger Betriebsrat Hedi Tounsi hat bei der tunesischen Polizei nach der Revolution 2011 die erste Polizistengewerkschaft mitgegründet, erzählt er mit Gewerkschaftsfahne und Megafon in der Hand. Er versteht es Stimmung zu machen, skandiert „Make Amazon Pay“, tanzt zu arabischer Musik und zieht die Gruppe mit. In der Menge der Streikenden entsteht auch eine Gruppendynamik: Ein Mann aus Somalia erblickt einen Freund von ihm, der die Lagerhalle nach der Frühschicht müde verlässt und ruft ihm empört zu. „Warum bist du arbeiten gegangen, Bruder!“ Sein Freund habe einen unbefristeten Vertrag, er könne sich doch trauen zu streiken.
Auch bei der österreichischen Gewerkschaft für Handelsangestellte wird Vorerfahrung oder zumindest ein bisschen Vorwissen zu betrieblicher Organisation als sehr hilfreich gesehen. „Die Hürde ist geringer. Viele wissen nicht, dass sie nur zu uns kommen müssen und sagen, ich will einen Betriebsrat gründen und wir kümmern uns darum“, sagt Sprecher Daniel Gürtler. Man konzentriere sich aber vor allem auf Beschäftigte aus Betrieben, die aktiv den Kontakt suchen. Amazon sei prestigeträchtig – als globaler Bad Boy in Sachen Arbeitsbedingungen – aber es gehe in Österreich nicht um so viele Mitarbeiter. Neue Betriebsräte werden aber laufend gegründet, auch in großen Unternehmen etwa bei Hervis Sports, Microsoft, Dehner Gartenbau und in einigen Handelsunternehmen.
In der Wirtschaftskammer erzählt wiederum Handelsobmann Rainer Trefelik, dass sich das Verhältnis zum amerikanischen Konzern verbessert habe. Nach wie vor spiele man zwar nicht auf Augenhöhe, was Steuern und Rahmenbedingungen betrifft, aber man habe Wege gefunden Konflikte zu lösen. Wenn nicht der Gewerkschaft, so hat sich Amazon zumindest anderen heimischen Institutionen angenähert. Gleichzeitig hat der Konzern mittlerweile europaweit einigen Forderungen von Mitarbeiter nachgegeben oder auch nach Kontrollen nachgebessert.
Große Sprachbarrieren
Viele Mitarbeiter wissen schlicht nicht um ihre Rechte Bescheid. Zurück in Hamburg erklärt der Betriebsrat einem der Mitarbeiter in tunesischem Arabisch: „Streiken ist ein Recht, es steht im Gesetz in Deutschland.“ Der zeigt sich überrascht und geht zum Stand, um sich in die Liste der Streikenden einzutragen. Kurz danach unterhält er sich mit Mohammed aus Syrien. Er arbeitete eineinhalb Jahre hier, wurde gekündigt, war dann wieder für zwei Monate angestellt. In einigen Tagen läuft der nächste Vertrag aus, er weiß nicht, was er machen soll.
Die Sprache ist ein großes Hindernis, erzählt Sumit Kumar in Wien, Generalsekretär der Vidaflex, der gewerkschaftlichen Initiative für Ein-Personen-Unternehmer. Wenige sprächen Deutsch, gerade eben habe er sich auf Indisch mit zwei Lieferanten unterhalten, die für Amazon- Subunternehmen arbeiten. „Sie wissen nicht genau, wie ihr Arbeitsverhältnis ist – sind sie selbstständig oder nicht? Wir tun uns schwer, Leute zu erreichen und zu organisieren.“