Jorge Plauts Handy vibriert, er wirft einen schnellen Blick darauf und zieht die Augenbrauen hoch. Die Krankenstände sollen künftig strenger überwacht werden. „Viele leiden unter starken Rückenschmerzen, ein typisches Leiden der Frühschicht“, erklärt der frisch gewählte Betriebsrat der 700 Arbeiterinnen und Arbeiter des internationalen Online-Handelsriesen Amazon in Österreich. In der Schicht müssen die Mitarbeiter Pakete in vier übereinanderliegende Boxen einsortieren. Die Pakete sollten maximal 15 Kilo wiegen, aber manchmal sind es mehr. Nehmen, heben, ablegen. „Die Zeit wird kontrolliert, wer ist am schnellsten“, erklärt Plaut.
Amazon pflegt seit Jahren seinen Ruf als Bad Boy bei Arbeitsbedingungen. Jeff Bezos steht Betriebsräten, Gewerkschaften und Verhandlungen mit ihnen skeptisch gegenüber. Tausende Angestellte bleiben nur für kurze Zeit bei Amazon, entweder wegen Kurzverträgen oder infolge von Kündigungen. Das sei auch Teil des Geschäftsmodells, meinen Kritiker. In immer mehr Ländern organisieren sich aber die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine Gewerkschaft in den USA, Streiks in Deutschland. In Österreich blieb es sehr lange ruhig. Jorge Plaut ändert das jetzt.
Vom Chef zum Arbeitskämpfer
In seinem Heimatland Venezuela war Jorge Plaut selbst Chef. Der 40-Jährige, er ist ausgebildeter Wirtschaftsingenieur, führte die Niederlassungen von Kawasaki und Nissan vor Ort und meint: „Amazon könnte vieles besser machen.“ Er verließ Venezuela, als sich die Lage unter dem autoritären Staatschef Nicolás Maduro massiv verschlechterte. Da er einen österreichischen Großvater hat, fiel seine Wahl auf Wien. Das ist mittlerweile acht Jahre her.
In Österreich brauchte er schnell einen Job. „Ich mag Lagertätigkeiten, und Amazon war die schnellste Möglichkeit. Sprachkenntnisse waren nicht so entscheidend.“ Er habe zuerst über eine Leihfirma dort gearbeitet, bevor er direkt bei Amazon im niederösterreichischen Großebersdorf angestellt wurde. „80 Prozent sind hier Ausländer, so wie ich. Die meisten kommen aus Syrien, Afghanistan und Somalia und brauchen dringend einen Job.“
Früher war Plaut selbst Chef, seit einem Monat ist er Betriebsrat.
Jorge Plaut
Früher war Plaut selbst Chef, seit einem Monat ist er Betriebsrat.
Amazon überwacht bei der Arbeit
Im Verteilzentrum Großebersdorf hat der Tag drei Teile: Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. „Vor allem in der Nacht und in der Früh sind es richtig viele Pakete. Wenn du aufs Klo gehen musst, musst du warten, bis das Band stoppt. Wenn du deine Periode hast als Frau ebenso. Es gibt niemanden, der dich ablösen kann.“ Von Amazon heißt es dazu: „Alle Mitarbeitenden bei Amazon können selbstverständlich jederzeit die Toilette benutzen.“
Es heißt auch, das Personal werde bei der Arbeit gefilmt, und zwar ohne Betriebsgenehmigung. Dazu sagt Amazon: „Videokameras setzen wir ein, um den Warenfluss im Blick zu haben und das Eigentum zu schützen.“ Für Neo-Betriebsrat Plaut ist auch eine transparentere Abrechnung der Arbeitsstunden ein großes Anliegen.
Für die Gewerkschaft war Amazon lange Zeit eine Blackbox. „Es geht nicht nur um die Sprache. Die Mitarbeiter bleiben kurz, wechseln oft und kennen einander wenig. Sie haben Angst, gekündigt oder nicht verlängert zu werden. Das ist auch Teil vom System Amazon“, erzählt Horst Pammer, Vorsitzender der Gewerkschaft für Verkehr und Dienstleistungen vida in Niederösterreich.
„Das ist ein gewerkschaftlicher Triumph, dass wir so etwas auf die Beine stellen konnten“
Horst Pammer
über den ersten Betriebsrat
Diesen Winter änderte sich das. Bei der Betriebsratswahl im Unternehmen traten drei Listen an: die von Jorge Plaut, eine von vorrangig arabischsprachigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie ein Team aus Kärnten, das als geschäftsführungsnah gelte. Die Mitglieder der ersten beiden Listen arbeiten nun eng im Betriebsratsteam zusammen. „Viele dieser Menschen hatten vorher keine Erfahrung mit Betriebsräten und Gewerkschaften. Jetzt organisieren sie sich und kooperieren miteinander. Das ist ein gewerkschaftlicher Triumph, dass wir so etwas auf die Beine stellen konnten“, erklärt Pammer, der Plaut unterstützt.
Doch bevor es wirklich losgeht, muss sich der 40-jährige Venezolaner mit juristischen Themen beschäftigen. Nach der Wahl betonte eine Amazon-Sprecherin in einer Stellungnahme gegenüber der APA, dass das Unternehmen die Gründung von Betriebsräten grundsätzlich unterstütze. Zwei Tage später reichte die Firma eine Klage beim Landesgericht Korneuburg ein. Sie ficht die Wahl an. Warum? „Wir respektieren den Wunsch, einen Betriebsrat zu gründen, und arbeiten zusammen an den Dingen, die für die Mitarbeitenden und das Unternehmen wichtig sind. Jedoch gab es zahlreiche Hinweise aus der Belegschaft, dass der Wahlprozess nicht demokratisch ablief“, schreibt eine Sprecherin auf Nachfrage. In der Gewerkschaft kann man den plötzlichen Sinneswandel nicht nachvollziehen.
Eine transparentere Abrechnung der Arbeitszeit ist ihm ein Anliegen.
Betriebsrat Plaut
Eine transparentere Abrechnung der Arbeitszeit ist ihm ein Anliegen.
Rekordgewinn ohne Mitarbeiter
Der Riesenkonzern Amazon verändert sich. Ein beträchtlicher Teil der Umsätze wird nach wie vor im traditionellen Einzelhandel erwirtschaftet, wo chinesische Firmen wie Temu und Shein zunehmend zur Konkurrenz werden. Das Unternehmen verdient gut an der Onlinewerbung auf der eigenen Plattform und mittlerweile auch im Cloud- und KI-Geschäft. Wirkt sich das schon auf den Standort aus? „Hier ist alles Handarbeit. Wir sind derzeit offenbar günstiger“, sagt Plaut.
Der weltweite Konzern zahlt wenig Steuern – viele seiner internationalen Tochtergesellschaften weisen über Jahre hinweg Verluste aus, die Steuerzahlungen minimieren, zeigen Studien. Genau wie Jorge ist auch Amazon seit acht Jahren in Österreich präsent. Mittlerweile verfügt das Unternehmen über fünf Verteilzentren, einen Forschungsstandort und ein Büro in Österreich mit insgesamt etwa 700 Arbeitern und 130 Angestellten.
„Amazon machte 2023 einen satten Gewinn. Ich habe gesehen, wie die Leute gearbeitet haben, aber davon haben sie nichts gesehen. Wo ist da die Fairness?“
Angestelltenbetriebsrat Sebastian Nestorov
über seine Motivation
Der allererste Betriebsrat
In der Nacht kommen die Lastwagen an. Ausladen, labeln, sortieren. Sebastian Nestorov sorgte bis vor einem halben Jahr dafür, dass alles reibungslos funktioniert und die Zahlen stimmen. Dann gründete der studierte Informatiker einen Angestelltenbetriebsrat. Wie kam es dazu? „Amazon machte 2023 einen satten Gewinn. Ich habe gesehen, wie die Leute gearbeitet haben, aber davon haben sie nichts gesehen. Wo ist da die Fairness?“
Die Sache mit der Fairness hat ihn nicht losgelassen, er hat gegoogelt und sich an die Gewerkschaft gewandt. „Unsere Wahl war viel einfacher, es sind etwa 130 Leute. Jeder hat eine E-Mail-Adresse, alle sprechen Deutsch oder Englisch. Das ist bei den Arbeitern nicht so.“ Dennoch passte er auf, mit wem er über die Wahl sprach, bevor es offiziell wurde. Wie viel kann ein Betriebsrat bei einem Weltkonzern ausrichten? „Er ist wichtig, aber die wenigsten Entscheidungen werden in Österreich getroffen. Das Management hier kann nicht einmal entscheiden, ob Mitarbeiter eine Öffi-Jahreskarte bekommen oder nicht.“ Nestorov leistete damit eine entscheidende Vorarbeit für Plaut, jetzt arbeiten die beiden zusammen. Plaut steht auf, zieht sich seine Jacke an, die Amazon-Mütze auf den Kopf. „Los geht’s!“