Bekommt die EU ein eigenes Investorengericht?
Man stelle sich vor, ein Unternehmen baut eine Fabrik in einem weit entfernten Land. Die politischen Verhältnisse dort sind instabil, die Justiz befindet sich unter der Kontrolle des Regimes. Wohin soll sich das Unternehmen wenden, falls beispielsweise Behörden eine Enteignung androhen oder Willkür und Schikanen walten lassen? An nationale Gerichte wohl kaum.
Das ist der Gedanke hinter den so genannten Investitionsschiedsgerichten, erstmals verankert im fernen Jahr 1968, in einem Handelsabkommen zwischen den Niederlanden und Indonesien. In Streitfällen steht seither häufig ein alternativer Weg für internationale Investoren offen. Sie können sich an eine unabhängige, international agierende Instanz wenden, an ein Schiedsgericht für Investoren.
Die breite Öffentlichkeit bekam von dieser Entwicklung erst spät etwas mit. Vor einigen Jahren verhandelte die EU umfangreiche Handelsabkommen mit den USA (TTIP) und Kanada (CETA). Sie sahen ebenfalls eine Investorengerichtsbarkeit vor – obwohl es sich allseits um stabile Demokratien mit unabhängigen Justizsystemen handelt. Vor diesem Hintergrund fiel der öffentliche Widerstand gegen die geplanten Gerichte massiv aus. TTIP scheiterte schließlich; CETA kam nur in stark abgeschwächter Form zustande.
Investorengerichte neu
Und heute? Investorengerichte sind mitnichten eine Sache der Vergangenheit, wie Dokumente zeigen, die profil und dem deutschen „Spiegel“ exklusiv vorliegen. Die EU-Kommission – die zentrale EU-Behörde in Brüssel unter Führung der deutschen Konservativen Ursula von der Leyen – denkt über die Einführung eines Investitionsschutzsystems innerhalb der EU nach. Und zwar durchaus konkret.
Was ist damit gemeint? Angenommen, ein österreichisches Unternehmen investiert in Frankreich. Kommt es zu einem Konflikt mit dem französischen Staat, soll sich das Unternehmen – unabhängig von der nationalen Gerichtsbarkeit – an einem „Investitionsgerichtshof auf EU-Ebene“ wenden können. So steht es in einem „Non-Paper“ der EU-Kommission von Ende 2020, also einem inoffiziellen Diskussionspapier, das profil vorliegt. Bei diesem Gerichtshof könnten „Investoren ihre Ansprüche vorbringen und verbindliche Entscheidungen erlangen“, so der Entwurf.
Bis Ende des heurigen Jahres plant die EU-Kommission eine Verordnung, um das „Investitionsklima in der EU zu optimieren“, so die Website der Behörde. Unter anderem brauche es eine „Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in Streitfällen zwischen Investoren und einzelnen EU-Staaten“. Die profil vorliegenden Dokumente zeigen, was genau darunter zu verstehen ist. Und - wie massiv Europas Unternehmen, vorne dabei österreichische, für einen Investitionsschutz in der EU lobbyieren.
„Investitionsklima optimieren“
„Hier wird klammheimlich an Privilegien für Konzerne gearbeitet, damit sie sich nicht mehr der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit bedienen müssen“, kritisiert Pia Eberhardt, Aktivistin der NGO „Corporate Europe Observatory“ in Brüssel (CEO), die sich mit Lobbying-Aktivitäten in der EU auseinandersetzt. CEO legt dieser Tage einen umfangreichen Bericht zum Thema vor.
Jedenfalls ist der EU-Investitionsgerichtshof nur eine von mehreren möglichen künftigen Einrichtungen, von denen in den Gesprächsprotokollen aus Brüssel die Rede ist. Alternativ werden auch andere Maßnahmen debattiert, die etwas weniger weitreichend wären. Da wäre zum Beispiel eine Art zentraler „Ombudsmann“ für Investoren, die sich von EU-Staaten schlecht behandelt fühlen. Wobei: Auch dessen Effektivität hänge davon ab, dass Dispute zwischen Investoren und Staaten „mittels eines verbindlichen Mechanismus“ entschieden werden können, geht aus einem Sitzungsprotokoll der Kommission vom vergangenen November hervor. Die Stoßrichtung ist also klar, wie auch immer der Name der Einrichtung letztlich lautet: Es braucht nach Ansicht der EU-Kommission und vor allem zahlreicher EU-Unternehmen eine Art justiziellen Sonderweg für Investoren.
Warum? Immerhin gelten unabhängige und fair agierende Justizbehörden als integraler Bestandteil des Selbstverständnisses der EU. Droht diesbezüglich Gefahr – man denke an Polen und Ungarn –, dann stehen der Union rechtsstaatliche Verfahren zur Verfügung, um die Unabhängigkeit der Justiz und stabile demokratische Verhältnisse durchzusetzen.
Verträge für illegal erklärt
Wer verstehen will, warum trotzdem Sondergerichte für Investoren auf der Brüsseler Agenda stehen, muss in die Historie von Europas Investitionsgerichtsbarkeit blicken. Schiedsgerichte für Investoren gab es nämlich bereits in der Vergangenheit – ein Faktum, das vielen nicht geläufig ist. Im Gegensatz zum lauten Protest gegen TTIP und CETA blieben diese Gerichte innerhalb der EU nämlich in der Öffentlichkeit weitgehend unterbelichtet. Nichtsdestotrotz, jahrzehntelang schlossen die EU-Staaten untereinander munter Handelsabkommen ab (so genannte Intra-EU-Handelsabkommen). Sie sahen auch Investitionsgerichte vor.
Auch Österreich wurde bereits auf Basis derartiger Intra-EU-Handelsabkommen verklagt. So zerrte etwa die Meinl Bank, eine ehemalige Privatbank aus Wien, die Republik vor ein Investorengericht mit Sitz in Washington. Dabei bediente sich die Bank einer Unternehmenstochter auf Malta, die offiziell als Klägerin auftrat. Das Argument: Justizielle Ermittlungen in Österreich hätten dem Wert der Meinl Bank geschadet. Das Institut wollte deshalb 200 Millionen Euro Entschädigung von der Republik. Doch im Jahr 2017 unterlag es.
Zurück auf die EU-Ebene. Im Jahr 2018 setzte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg dem Treiben rund um Intra-EU-Handelsabkommen ein Ende. Sie wurden für illegal erklärt, weil sie europäischem Recht widersprächen. Seitdem werden die Verträge schrittweise außer Kraft gesetzt. Und: Europas Wirtschaft ruft nach einem Ersatz. Eine neue Investorengerichtsbarkeit soll her, die mit den Regeln der EU vereinbar ist.
Drohen mit Abwanderung
Seit Jahren lobbyieren Europas Unternehmen in diese Richtung. So warnten deutsche Lobbygruppen, etwa der Verband der deutschen Industrie, in einem Brief an die EU-Kommission 2019: Sollte auf die Abschaffung der Intra-EU-Handelsabkommen „kein effektiver Ersatz-Mechanismus“ folgen, „würden Investoren ohne angemessen Rechtsschutz bleiben“. Ins selbe Horn blies die „European Banking Federation“: „Der mangelnde Rechtsschutz könnte EU-Unternehmen veranlassen, vermehrt außerhalb der EU zu investieren.“ Europas Wirtschaft fühlt sich offenbar von der regulären Justiz derart benachteiligt, dass sie sogar mit Abwanderung droht, sollte man sie ihr unterwerfen.
2020 schließlich trug die Überzeugungsarbeit Früchte. Die EU-Kommission startete einen sogenannten Konsultationsprozess, in dessen Rahmen jeder, der möchte, seine Meinung zu einem Vorhaben abgeben kann. Außerdem nahm eine Arbeitsgruppe ihre Tätigkeit auf, bestückt mit Beamten aus den Mitgliedsstaaten, unter anderem aus Österreichs Wirtschaftsministerium unter Margarete Schramböck (ÖVP).
Bei all dem konnte man sich der Mithilfe von Unternehmen kaum erwehren. profil vorliegende E-Mails zeigen beispielsweise, wie sich im März 2021 die Anwaltskanzlei BSH Advisors (mit Büros in Wien, Berlin und Brüssel) an die zuständige Abteilung der Kommission wandte. Man habe „Gespräche mit mehreren Unternehmen in Österreich und Deutschland geführt“, so BSH. In diesen sei klar geworden, dass man die EU-Kommission „in dieser wichtigen Frage (des Investitionsschutzes, Anm.) weitestgehend unterstützen“ wolle. Daher unterbreiten die Anwälte ein Angebot: Man könne „der Europäischen Kommission ein ausführliches Rechtsgutachten zur Verfügung stellen“, das rechtliche und politische Möglichkeiten ausleuchtet, „um das Level des Intra-EU-Investitionsschutzes zu erhöhen“.
„Wir werden uns melden“
Derartige Arbeiten werden normalerweise von hausinternen Rechtsdiensten erledigt, die innerhalb von Behörden und politischen Einrichtungen angesiedelt sind. In diesem Fall wollten die Unternehmen die Expertise von außen zuliefern – zugeschnitten auf ihre Bedürfnisse. Die Kommissionsbeamten mailen zurück, zögerlich, aber nicht ablehnend: „Wir werden uns melden“, sobald mehr Klarheit über die weitere Vorgangsweise bestehe.
Als entschiedener Befürworter des neuen Investitionsschutzes tritt auch die österreichische Erste Group auf, eine der größten Banken hierzulande. In einer Stellungnahme auf der Website der Kommission vom Juni 2020 begründet das Finanzinstitut, warum das Vorhaben notwendig sei: „Theoretisch ist zwar in den EU-Vorschriften überall das gleiche Schutzniveau verankert, aber in der Praxis neigen einige lokale Gerichte dazu, die Position des Investors gegenüber dem lokalen Recht und der lokalen Regierung hintanzustellen.“
Warum all das Engagement? Ist die Gerichtsbarkeit in der EU wirklich so miserabel, wenn es um Investoren geht? Müssen sie fürchten, übervorteilt und ungerecht behandelt zu werden? Wohlgemerkt, die Rede ist von denselben nationalen Justizbehörden, die auch für alle anderen Akteure zuständig sind: vom gewöhnlichen Bürger über die Nichtregierungsorganisation bis zum Unternehmen ohne Auslandsbezug.
Österreich unterstützt die Initiative
Antworten liefert ein Blick ins „EU-Justizbarometer“. In dieser umfangreichen Erhebung wird Jahr für Jahr die „Unabhängigkeit, Qualität und Effizienz der nationalen Justizsysteme“ in der EU erhoben und verglichen. Immer wieder ortet die Untersuchung Mängel im EU-Justizsystem. Im Jahr 2020 lautete etwa ein Kritikpunkt, dass sich manche EU-Staaten bei der Verfolgung von Geldwäschedelikten zu viel Zeit lassen würden. Aber bei Investoren aus anderen EU-Staaten? Deutet denn irgendetwas darauf hin, dass sie diskriminiert werden? Dahingehend finden sich im EU-Justizbarometer keinerlei Anzeichen.
Kritiker wie Pia Eberhardt von „Corporate Europe“ sprechen daher vom „Regulatory Chill“. So nennen Politologen eine Art Einschüchterungseffekt: Angenommen, eine Regierung plant ein neues Gesetz für mehr Umwelt- oder Arbeitnehmerschutz, das höhere Kosten für Unternehmen bringen könnte. Möglicherweise schreckt der Gesetzgeber davor zurück, aus Furcht, infolge einer Investorenklage zu Kompensationszahlungen verdonnert zu werden.
Was sagt die EU-Kommission zu all dem? „Das rechtliche System der EU verfügt über hohe Standards zum Schutz von Investitionen“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme aus dem Wiener Büro der Kommission. Allerdings würden EU-Investoren „in einigen Fällen“ daran zweifeln, „dass der EU-Investitionsschutz überall in der Union konsistent durchgesetzt wird“. Deshalb sucht „die Kommission nach Wegen, möglichen Vorbehalten von Investoren entgegenzutreten und ein stabiles Investitionsumfeld innerhalb der EU sicherzustellen“.
Was schließlich meint Österreichs türkisgrüne Bundesregierung zu der Brüsseler Initiative? profil hat im Ressort Schramböck angefragt – und die ÖVP-Wirtschaftsministerin erweist sich als ausgesprochen Unterstützerin des Vorhabens. „Rechtssicherheit ist ein wichtiger Faktor für die Attraktivität eines Investitionsstandorts“, so die Stellungnahme. „Wir begrüßen daher die die Initiative der Europäischen Kommission ausdrücklich und hoffen auf rasche Fortschritte.“ Man urgiere auch eine „zeitnahe Intensivierung der Gespräche“, heißt es weiter. Und: „Hinsichtlich konkreter Maßnahmen sehen wir den Vorschlägen der Kommission mit großem Interesse entgegen und hoffen auf einen ambitionierten Vorschlag.“
Bis Ende des Jahres soll er nun kommen.