Bitte spülen! Energie aus Abwasser
Von Franziska Dzugan und Christina Hiptmayr
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Gedrungen und eher dick steht er nun da, der 60 Meter hohe Glasturm in Wien-Meidling an der U4. 20 Jahre und viele Einsprüche hat es gedauert, bis im vergangenen Dezember das sogenannte Vio Plaza eröffnet werden konnte. Die Neubebauung der Komet-Gründe war wohl eines der umstrittensten Projekte der jüngeren Vergangenheit in der Bundeshauptstadt. Eine umtriebige Bürgerinitiative sowie die Unesco hatten dafür gesorgt, dass der Turm die Hälfte seiner ursprünglich geplanten Höhe eingebüßt hat.
Von Kritikerinnen und Kritikern wird er als „architektonisch völlig anachronistisch“ beschrieben. Besonders heftig wird dem Projekt angekreidet, dass in Zeiten der Erderhitzung die Errichtung derartiger Gebäude, die nur mit enormem Energieeinsatz geheizt und gekühlt werden können, nicht mehr zeitgemäß sei. Doch aller Schelte zum Trotz kann das Vio Plaza auch ein recht innovatives Konzept der Wärme- und Kälteerzeugung vorweisen: Hier wird mit Abwasser aus dem Kanal geheizt und gekühlt.
Rund 50 Prozent des weltweiten Energiebedarfs entfallen auf Heizen, Kühlen und Warmwasserbereitung. Dabei kommen zum überwiegenden Teil fossile Energieträger zum Einsatz. Obwohl weltweit enorme Mengen bis dato nicht verwendeter erneuerbarer Energie im Untergrund schlummern, die man nur anzuzapfen bräuchte. Jedes Mal, wenn wir duschen oder auf der Toilette waren, den Geschirrspüler oder die Waschmaschine betätigen, erzeugen wir erneuerbare Energie. Noch fließt sie fast überall ungenutzt in den Kanal und später in die Kläranlagen. Das soll sich nun ändern.
„Es hat sehr lange gedauert, bis diese Technologie ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Doch zuletzt hat sie aufgrund des Themas „Raus aus Gas“ einen richtigen Boost erlebt“, sagt Ulrike Rabmer-Koller in der aktuellen Folge des profil-Klimapodcasts. Die auf Bau und Umwelttechnik spezialisierte Rabmer Gruppe der oberösterreichischen Unternehmerin beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Technologie und hat die Anlage für das Vio Plaza konzipiert und installiert.
"Wärme aus Abwasser ist eine sehr wirtschaftliche Lösung."
Ulrike Rabmer-Koller
Wie man mit Abwasser heizen kann
Um den eigentümlichen Glaspalast in Wien-Meidling im Winter warm und im Sommer kühl zu halten, legten Rabmer-Kollers Mitarbeiter einen 180 Meter langen Wärmetauscher in den Kanal. Das durchschnittlich zwölf Grad warme Wasser wärmt die Heizrohre in der kalten Jahreszeit vor, eine Wärmepumpe erhöht die Temperatur je nach Bedarf. Im Sommer funktioniert das auch umgekehrt: Dann hat das Abwasser im Kanal nicht mehr als 20 Grad und kühlt das Vio Plaza. Zudem wird die in den Innenräumen anfallende Abwärme ins lokale Fernwärmenetz eingespeist, um Warmwasser für das umliegende Grätzl zu erzeugen. „Beim Vio Plaza holen wir sechs Megawatt Kühlleistung aus dem Kanal und 1,2 Megawatt Heizleistung. Es wären auch sechs Megawatt Heizleistung möglich, aber ein Teil wird mit Fernwärme beheizt“, sagt Rabmer-Koller. Es sei Europas bis dato größte Anlage mit Wärmetauschern im Kanal.
Die Vorteile dieser Technologie: Das Abwasser hat immer die ideale Ausgangstemperatur für die Wärmepumpe – und funktioniert Rabmer zufolge effektiver als Luftwärmepumpen oder Geothermie. Zudem steht es rund um die Uhr zur Verfügung und ist nicht, wie Wind- oder Sonnenenergie, vom Wetter abhängig. „Man braucht keinen Speicher, weil das Abwasser selbst der Speicher ist und jederzeit abgerufen werden kann“, sagt Ulrike Rabmer-Koller. Und: Nicht nur Neubauten sind für dieses Heizsystem geeignet, auch Bestandsgebäude können ohne Weiteres nachgerüstet werden.
Allerdings sind solche Heizungen nicht überall möglich. Der Kanal darf nicht zu weit weg von den zu versorgenden Gebäuden sein, und durch die Rohre müssen mindestens zehn Liter Wasser pro Sekunde rauschen. Um das zu erreichen, müssen mindestens 5000 Einwohnerinnen und Einwohner ihr Abwasser einspeisen. Und es müssen die entsprechenden Abnehmer in der Nähe sein, wie größere Siedlungsgebiete, die mittels Wärmenetz versorgt werden, oder Unternehmen. Für das Einfamilienhaus in Einzellage ist eine solche Anlage nicht geeignet.
Ab wann rentiert sich so eine Anlage? „Grundsätzlich liegen Amortisationszeiten bei größeren Anlagen zwischen fünf und maximal acht Jahren. Mit den hohen Energiepreisen liegen wir sogar unter fünf Jahren. Das ist eine sehr wirtschaftliche Lösung“, sagt Ulrike Rabmer-Koller.
Die Energiekreisläufe funktionieren freilich auch im Kleinen. Das Schweizer Altersheim der Stiftung Hofmatt etwa sammelt das Abwasser aus Küchen und Bädern in einem Sammelschacht, wo es gesiebt und gereinigt wird und anschließend in einen Wärmetauscher fließt. Er entzieht dem 20 Grad warmen Wasser die Energie und schleust sie in die Gebäudeheizung ein. Das deckt 20 Prozent des Wärmebedarfs des Altenheims. Die Becken des Hallenbads von St. Moritz werden ebenfalls mit dem eigenen Abwasser geheizt.
Wärme aus der Kläranlage
Wärmerückgewinnung aus dem Abwasser ist keine neue Technologie. 2018 erkannte die EU Energie aus Abwasser als erneuerbare Energiequelle an. Vorreiterin ist allerdings die Schweiz. Dort wird sie seit den 1980er-Jahren genutzt. Insgesamt mehr als 200 Anlagen haben die Eidgenossen in Betrieb genommen. Darunter auch viele, welche die Abläufe der Kläranlagen zur Wärmerückgewinnung nutzen. „Österreich hat bei der Abwasserwärmenutzung mittlerweile ganz gut aufgeholt“, sagt Florian Kretschmer vom Institut für Siedlungswasserbau an der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU). Seit vergangenem Dezember kann sich Wien mit Europas leistungsstärkster Großwärmepumpen-Anlage rühmen. Bei der Hauptkläranlage in Wien-Simmering wird Wärme aus dem gereinigten Abwasser erzeugt und mittels Fernwärme an vorerst 56.000 Haushalte verteilt. Im Endausbau sollen mit einer Leistung von 110 Megawatt sogar doppelt so viele Wohnungen klimafreundlich heizen können. Mit Abwasser, das bislang ungenutzt in den Donaukanal geflossen ist. Um die Wärmepumpe mit 100 Prozent erneuerbarem Strom betreiben zu können, verlegte die Wien Energie eine eigene Leitung zum Donaukraftwerk Freudenau.
Früher hieß es oft, die Kläranlagen seien zu weit weg von den Siedlungsgebieten, um sie als Wärmequelle zu nutzen. Aber wegen der fortschreitenden Zersiedelung sind die Wohn- und Gewerbegebiete immer näher an die Kläranlagen herangerückt.
Gescheiterte Modellregion
Demnach ist es erstaunlich, dass nicht mehr Gemeinden dieses Potenzial nutzen. Das Trattnachtal in Oberösterreich zum Beispiel hätte zur Modellgemeinde für ganz Europa werden können. Im März 2020 stattete ihm profil deshalb einen Besuch ab. Die BOKU und der Reinhaltungsverband Trattnachtal hatten sich zusammengetan, um zu erforschen, wie viel Wärmepotenzial im Ablauf der Kläranlage verfügbar ist und wie es bestmöglich genutzt werden könnte.
17 Gemeinden mit insgesamt rund 70.000 Einwohnern leiteten ihr Abwasser in die Kläranlage, darunter Bad Schallerbach und Wallern. Es durchläuft mehrere große Klärbecken, in denen Mikroorganismen Fäkalien und Urin abbauen. Bevor das Abwasser gereinigt in die Trattnach fließt, könnte man daraus Wärme gewinnen. Über ein Versorgungsnetz könnte man es zurück in die Ortschaften schicken. Das geschätzte Potenzial war durchaus beachtlich: Die Kuranstalten, das Krankenhaus, Hotels, Schulen, die beiden Gemeindeämter und viele Einfamilienhäuser hätten damit geheizt werden können.
Als profil vier Jahre später nachfragt, ist von der Idee nichts übrig geblieben. Beim Reinhaltungsverband gab es einen Geschäftsführer- und Obmannwechsel. Die nun Verantwortlichen haben laut eigenem Bekunden von dem Projekt noch nie etwas gehört. „Uns wurden vom damaligen Geschäftsführer keinerlei Informationen übermittelt. Aus diesem Grund konnte das Projekt bisher auch nicht weiterverfolgt werden, obwohl es sich um ein sehr spannendes und durchaus interessantes Projekt handelt, wie ich Ihrem Artikel entnehmen kann“, sagt Dominik Richtsteiger, Obmann des Reinhalteverbands und Bürgermeister von Wallern an der Trattnach.
Auch wenn im Trattnachtal die Wärme im Abwasser derzeit noch ungenutzt bleibt: Die Forscher der BOKU errechneten im Zuge des Projekts das Potenzial aller größeren heimischen Kläranlagen. Das Ergebnis ist vielversprechend: Knapp 290 der rund 400 größeren Kläranlagen Österreichs liegen im Nahbereich von Siedlungen und könnten daher prinzipiell als Lieferant von erneuerbarer Wärme aktiviert werden. „Im Vergleich zu den Kanälen liegt hier aufgrund der großen Wassermengen das größere Potenzial“, sagt Florian Kretschmer, der an der Studie beteiligt war.
Insgesamt verbergen sich Ulrike Rabmer-Koller zufolge in Österreichs Abwässern 25 Prozent der benötigten Gebäudewärme – theoretisch. „Wichtig wäre die Erstellung einer Abwasserwärme-Landkarte, damit potenzielle Abnehmer wissen, dass es in ihrer Nähe Quellen gibt“, sagt die Unternehmerin.
Bei der Planung des Vio Plaza in Wien-Meidling wussten die Verantwortlichen bereits um die Möglichkeiten. Die Bundeshauptstadt hat seit geraumer Zeit einen Abwasserwärmepotenzial-Kataster. Dort sind jene Abschnitte des 2500 Kilometer langen Kanalnetzes verzeichnet, die sich für die Energiegewinnung eignen.
Franziska Dzugan
schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.
Christina Hiptmayr
war bis Oktober 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.