Börse-Chef an ChatGPT: „Gibt es erfolgreiche Planwirtschaft?“
Es ist ruhig. Niemand nimmt hektisch Telefonate entgegen, niemand schreit quer durch den Raum, jubelt frenetisch oder stöhnt frustriert auf. Internationale Börsen ähneln schon lange nicht mehr den Bildern aus Hollywoodfilmen, sie eignen sich nicht mehr als legitimer Ort für Männer im Anzug, die ihren tiefsten Emotionen freien Lauf lassen. Es ist Ruhe eingekehrt, die Technologie hat übernommen.
Seit Jahren prägen bereits Algorithmen die Börsenwelt, die den großen Datenmengen eher Herr werden als Menschen. Was neu ist: Die Programme können sich mittlerweile auch selbstständig verbessern – sogenannte künstliche Intelligenz (KI) etabliert sich zunehmend als fixe Größe im Investmentgeschehen. Die amerikanische Bank JP Morgan Chase befragte über 800 professionelle und institutionelle Börsenhändler (Trader). Mehr als die Hälfte glaubt, dass künstliche Intelligenz die bestimmende Zukunftstechnologie der nächsten drei Jahre sein wird. Vor einem Jahr waren es noch halb so viele. Doch was kann KI besser als der Mensch? Und was passiert, wenn Computer Milliarden verschieben, ohne dass Menschen das noch durchblicken?
Der nervöse Mensch und die rationale Maschine
„Panik und Gier sind die größten Probleme des Menschen beim Investieren“, sagt Christian Mayer. Er ist ein alter Hase im Business, einer der Gründer der Anlageberatung SMN Investment Service in den 1990er-Jahren. Zumindest von diesen beiden Investment-Todsünden könnte uns die künstliche Intelligenz befreien. Sachlich, rational und selbstlernend. Völlig darauf verlassen könne man sich aber nicht, erklärt der Experte. Er vertraut auf KI vor und nach der Kaufentscheidung, aber nicht bei dieser selbst. Selbst dabei kommt aber nicht mehr direkt menschliche Analyse zum Einsatz, sondern eine bewährte Formel, die sich – im Unterschied zu KI – jedoch nicht selbstständig verändert und weiterlernt. „Wir wollen die Oberhand über unseren Algorithmus behalten“, betont der Investmentberater im profil-Gespräch.
Währenddessen blickt Christian Mayer auf die Börsenkurse auf seinem Bildschirm. Das Grundprinzip ist einfach: Seine Anlegestrategie ist es, langfristige Trends zu erkennen – egal ob steigend oder fallend, egal ob bei Öl, Baumwolle oder Bitcoins. Man reiht Preise aneinander und versucht, daraus die künftige Entwicklung abzuleiten. „Der nervöse Mensch bekommt Panik, verkauft zu früh und taucht Verluste zu lange durch“, erklärt Mayer. Sein Ansatz ist ein anderer: Spät auf Trends aufspringen und erst relativ spät wieder verkaufen – dann, wenn der Trend eindeutig zu Ende ist. In etwas mehr als 50 Prozent der Fälle führt diese Strategie zu Verlusten. Die anderen fast 50 Prozent reichen aber aus, um insgesamt in der Gewinnzone zu landen.
„Panik und Gier sind die größten Probleme des Menschen beim Investieren“, sagt Christian Mayer. Er ist ein alter Hase im Business, einer der Gründer der Anlageberatung SMN Investment Service
KI für den richtigen Zeitpunkt
Doch vor und nach der unmittelbaren Investment-Entscheidung setzt Mayer sehr wohl auf Anwendungen mit künstlicher Intelligenz. Denn KI kann Massen an Daten besser erfassen und zum Beispiel eruieren, zu welchem Zeitpunkt der Markt besonders liquide ist. Im passenden Moment werden dann die Aufträge erteilt. SMN ist auf über 200 Märkten aktiv, kein Mensch kann die Baumwollernte in China, den Krieg in der Ukraine oder die hohe Inflation im Blick haben und eine Expertise dazu entwickeln, erklärt der Experte: Fluglinien würden das genauso machen. Wer werktags zwischen 9 und 12 Uhr einen Flug bucht, ist vermutlich weniger preissensibel, weil es sich oft um Geschäftsreisen handelt. An den Randzeiten ist es anders. Airlines wissen und nützen das. Genauso wie Investmentbanken.
Letztere tragen ebenfalls mit KI-gestützten Anwendungen Informationen zusammen und überprüfen regelmäßig, ob und wie ihre Ergebnisse ausgefallen wären, wenn sie sich ganz auf die Maschine verlassen hätten. KI in gewissen Bereichen zulassen, aber nicht überall, so lässt sich auch das Ergebnis der JP-Morgan-Studie zusammenfassen. Viele Trader verwenden KI-erweiterte Technologien, um ihre Handelstätigkeit zu bewerten und zu verbessern. Zur Gänze ausliefern will man sich der künstlichen Intelligenz aber nicht.
Einer, der die neuen Möglichkeiten genau im Blick hat, ist Wiener-Börse-Chef Christoph Boschan. Er erörtert gerne Sachfragen mit ChatGPT – durchaus auch aus Neugier, wie Boschan erzählt. Erst gestern habe er ChatGPT gefragt: „Gab es jemals eine erfolgreiche Planwirtschaft?“ Ja, sagte das Programm, und nannte China, Vietnam und Kuba. Darauf konterte der Börse-Chef, dass diese Länder erst mit zunehmender Marktwirtschaft wirklich erfolgreich geworden seien. ChatGPT ließ sich bereitwillig umstimmen: „Ja, das stimmt. Es sind Beispiele für den Nutzen einer marktorientierten Wirtschaftspolitik und keine Beispiele für eine erfolgreiche Planwirtschaft.“ Ob derartiger Wankelmut gut ist für Investmententscheidungen? Boschan ist jedenfalls von der Selbstreflexion des Programms begeistert, nur die Humorlosigkeit des künstlichen Gesprächspartners verblüfft ihn.
Kurzfristig wird laut Boschan KI in der Finanzindustrie auf jeden Fall im Kundenkontakt eingesetzt werden – so wie in vielen Branchen. Auch Raiffeisen und Bank Austria setzen hier auf KI-unterstützte Lösungen. Mittelfristig wird sie dann auch beim Analysieren und beim Erfassen von Informationen breit zum Einsatz kommen. Das zeigt sich auch schon bei Geschäftsberichten von Firmen: Die kleingedruckten Wälzer orientieren sich zunehmend an den Bedürfnissen der künstlichen Datensammler. Die Dokumente werden so gestaltet, dass es Programmen, nicht Menschen, besonders leicht fällt, sie zu lesen.
Langfristig wird KI aber wohl auch im tatsächlichen Handel eine immer größere Rolle spielen. Sie kann nicht nur Informationen kategorisieren und übersichtlicher machen. Theoretisch ist KI auch in der Lage, anhand der gespeicherten und verarbeiteten Daten selbstständig Strategien zu entwickeln oder zu erkennen, wann ein Kauf oder Verkauf sinnvoll ist und wie hoch die Position sein sollte. Sie kann nicht nur dem Trader eine Empfehlung geben, sondern auch selbst entscheiden und aus getroffenen Entscheidungen lernen. Online gibt es dafür schon zahlreiche Angebote und Werbungen.
Wo ist die Grenze?
Doch soll man diesen Schritt wagen? Das wird auch bei der Investmentfirma SMN viel diskutiert. Man sei zum Schluss gekommen, die Trendanalyse nicht umzustellen, erzählt Mayer. Aber warum? Ein selbstlernender Algorithmus könnte vielleicht noch feiner und schneller reagieren? Nein, sagt der Experte entschieden. Ein Problem sei die Kurzlebigkeit. Mayer holt eine Grafik hervor: der Anleihenmarkt zwischen 1990 und 2022. 1995 war das beste Jahr, 2022 die Katastrophe. Teil des Problems sei gewesen, dass sich der Großteil der Trader nicht mehr an Zeiten steigender Zinsen erinnern konnte. Doch auch die künstliche Intelligenz habe diesen Fehler, sagt Mayer. Sie lerne vor allem aus der jüngsten Vergangenheit. Für langfristige Analysen sei KI deshalb einstweilen unbrauchbar. Wenn der Kurs steigt und steigt, rechne sie nicht mehr mit einem Fallen.
Anders ist das bei kurzfristigem Handel. In Mayers Welt beobachtet man eine Zeitspanne von 80 bis 270 Tagen, um einen Trend zu erkennen. Bei vielen Tradern geht es um Sekunden, Minuten und manchmal um Stunden. „Da sehe ich ein viel größeres KI-Potenzial“, sagt Mayers Kollege Stephan Zebedin.
Ein weiteres Problem in Bezug auf KI sieht Mayer im Kontrollverlust. Wenn er und sein Team Geld verlieren, kennen sie danach den Grund. Sie können es Kunden, aber auch der Finanzmarktaufsicht gegenüber – wenn es sein muss – argumentieren. Was aber, wenn sie das nicht mehr nachvollziehen können? Wer trägt die Verantwortung? „Es erinnert mich an den Zauberlehrling“, sagt Mayer.
Auch für den Wiener Börsenchef Boschan ist das die kritische Grenze. Wer trägt die Letztverantwortung? Rein aufsichtstechnisch ist es nicht möglich, der KI diese zu überlassen, das werde die Finanzmarktaufsicht nicht zufriedenstellen. „Du kannst nicht sagen, die Maschine wird dann situationselastisch agieren.“ Die Börsenwelt sehe sich zwar gerne als Avantgarde bei technologischen Neuerungen. Aber Boschan relativiert: „Jeder Analyst wird sagen, ich verwende KI, wenn es gerade sozial erwünscht ist.“
Was wird die Welt wohl früher erleben? Die perfekte Prognosefähigkeit von KI oder den ersten langfristigen Erfolg reiner Planwirtschaft? Gut möglich, dass beides Science-Fiction bleibt.