Borealis ist Borouge: Abu Dhabis Werk und Wiens Beitrag
Zwei Jahre lang wurde zwischen Wien und Abu Dhabi an einer Megafusion verhandelt. Entstanden ist das größte Unternehmen Österreichs. Gleichzeitig verschwindet damit der heimische Petrochemie-Konzern Borealis – und trotzdem ist das vorerst kein schlechter Deal für die Republik.
Manche Verhandlungen sind so heikel, dass sie auf allerhöchster Ebene und streng geheim geführt werden. Und wenn man gerade dabei ist, das teuerste börsennotierte Unternehmen der Republik zu verhandeln, idealerweise ohne sich dabei über den Tisch ziehen zu lassen, wird es besonders oft besonders heikel. Man traf sich also mal in Wien, mal in Abu Dhabi. Und dann traf man sich auch mal unter vier Augen im neutralen Rom. Wohl nicht nur, weil die Pasta in Italien besser schmeckt. Die letzte Verhandlungsrunde über das bald wertvollste börsennotierte heimische Unternehmen fand aber am Sonntag in Wien statt. In den Räumlichkeiten der teilstaatlichen OMV, auf höchster Chefebene. Am Montag wurde der Deal mittels Unterschrift besiegelt.
Fast zwei Jahre lang verhandelten der heimische Gas- und Öl-Konzern OMV und der Energieriese Abu Dhabi National Oil Company (Adnoc) den Zusammenschluss ihrer Petrochemie-Töchter Borealis und Borouge. Federführend dabei: OMV-Chef Alfred Stern und Adnoc-Chefverhandler Khaled Salmeen. Ergebnis: Ab 2026 ist die heutige Borealis Geschichte. Sie geht dann zusammen mit der kanadischen Nova Chemicals und Borouge aus Abu Dhabi in die neu gegründete „Borouge International Group“ mit Sitz in Wien auf. Mit einer Marktkapitalisierung von rund 40 Milliarden Euro wird Borouge International das mit Abstand größte börsennotierte Unternehmen Österreichs sein und löst dann den aktuellen Platzhirsch Erste Group ab – die heimische Bank ist in etwa halb so groß, was ihren Börsenwert betrifft. Weltweit wird die neue Gruppe der viertgrößte Petrochemiekonzern sein.
Angesichts der Dimensionen und Summen, die hier im Spiel sind, können sich Verhandlungen schon mal ziehen. Wie viele offizielle Gesprächsrunden – im Beisein von Ministern – und streng geheime Sitzungen – bei Pasta und Vino – es gab, sagt die OMV nicht. Über die gesamte Verhandlungszeit herrschte striktes Stillschweigen. Aber: Es waren viele, sehr viele. profil hat die Genese des wohl größten Firmen-Deals in Österreichs Wirtschaftsgeschichte recherchiert.
Die Dritte im Bunde
OMV und Adnoc werden jeweils 46,94 Prozent am neuen Konzern halten, der Rest ist Streubesitz. 1,6 Milliarden Euro hat die OMV für den Deal selbst zugeschossen, um mit Adnoc gleichzuziehen. Denn Borouge, das bereits an der Börse von Abu Dhabi notiert, war größer und deutlich höher bewertet als die heimische Borealis. 60 Milliarden Euro an Eigen- und Fremdkapital fließen in das neue Chemie-Konglomerat. Um 9,4 Milliarden Euro wird die neue Borouge International zudem die kanadische Nova Chemicals erwerben. Der Kauf soll über eine Brückenfinanzierung erfolgen, die später über eine Kapitalerhöhung von rund vier Milliarden Euro zum Teil refinanziert werden soll. Das könnte die Anteile von OMV und Adnoc leicht verwässern. 2027 soll der neue Konzern dann an der Wiener Börse zweitgelistet werden.
Nova Chemicals gehört seit 2009 zum Beteiligungsportfolio des Emirats Abu Dhabi. Das kanadische Petrochemie-Unternehmen hatte im Verlauf der Finanz- und Wirtschaftskrise hohe Verbindlichkeiten aufgebaut, der Aktienkurs des damals börsennotierten Konzerns war im Keller. Der Staatsfonds IPIC kaufte Nova Chemicals inklusive aller Verbindlichkeiten um gerade einmal 2,3 Milliarden US-Dollar. Das ist ziemlich genau ein Viertel des Wertes, der bei der aktuellen Übernahme durch Borouge International veranschlagt wurde.
Die Anteile an Nova Chemicals werden übrigens seit der IPIC-Übernahme 2009 in Österreich verwaltet. Die dafür eigens gegründete Nova Chemicals Holding GmbH hat ihren Sitz als Untermieterin in der OMV-Zentrale in der Trabrennstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk. „Wien ist ein attraktiver Standort, außerdem gibt es ein günstiges Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Österreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten“, erklärt Thomas Schirmer. Der Rechtsanwalt der Kanzlei Binder Grösswang ist einer der Geschäftsführer der Nova Chemicals Holding. Außerdem wären die Eigentümervertreter ohnehin regelmäßig wegen ihrer Beteiligung an der OMV zu Aufsichtsratssitzungen nach Wien gereist.
Verhandlungsmacht-Spiele
Ebendort sagt OMV-Chef Alfred Stern vergangenen Dienstag bei einem Hintergrundgespräch mit Journalisten: „Das ist ein historischer Moment für die OMV.“ Er wirkt sichtlich erleichtert und irgendwie erfreut. „Wir halten die gleichen Anteile und sind gleichberechtigte Partner.“ Das Ergebnis kann sich Stern als Verhandlungserfolg auf die Fahne heften. Auch wenn sich erst zeigen muss, wer tatsächlich im Konzern das Sagen haben wird und ob der Deal tatsächlich mehr, oder doch weniger Arbeitsplätze für Österreich bedeutet. Das Ganze hätte aber auch anders für die OMV ausgehen können.
OMV-Chef Alfred Stern verhandelte den Deal mit Adnoc fast zwei Jahre lang. Aus seiner Sicht ist es "ein guter Deal". In den kommenden zehn Tagen muss auch der OMV-Aufsichtarat seinen Sanktus erteilen.
Die Österreichische Beteiligungs AG (ÖBAG) machte das sogenannte Österreich-Paket zur Bedingung. Das heißt: Firmensitz in Wien und ein Zweitlisting an der Wiener Börse. Dem Vernehmen nach habe man sich auch recht bald, schon Ende 2023, auf diese beiden Punkte geeinigt. Im Vorfeld hatten sich Sorgen breitgemacht, der Firmensitz könnte gänzlich nach Abu Dhabi wandern. Dort wird es zwar eine regionale Zentrale geben, aber das Headquarter und die Forschungsabteilung bleiben nun in Wien. Damit wird auch die Gewinnsteuer in Österreich abgeführt, was den neuen Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ) angesichts des mächtigen Budgetlochs besonders freuen dürfte.
Verhandelt wurde jedenfalls nicht nur um viel Geld, sondern auch in mitunter recht komplexen Eigentümer-Strukturen – nicht alle zum Vorteil der OMV. Adnoc ist mit 24,9 Prozent nach der ÖBAG (31,5 Prozent) zweitgrößte Aktionärin der OMV. Borealis gehört zu 75 Prozent der OMV und zu 25 Prozent Adnoc. Damit ist die Gesellschaft aus Abu Dhabi sowohl direkt als auch indirekt über die OMV an Borealis beteiligt.
„Es besteht weder die Absicht noch die Verpflichtung, die OMV-Anteile zu verringern.“
Reinhard Florey, Finanzvorstand der OMV
Borouge wiederum gehört zu 36 Prozent Borealis und zu 54 Prozent Adnoc. Klingt kompliziert, ist es auch. Das riesige Industriekonglomerat Borouge mit Sitz in Abu Dhabi ist stetig gewachsen und heute größer als Borealis – Analysten gingen zuletzt von einem doppelt so hohen Marktwert aus. Und so verhandelte die OMV den Zusammenschluss nicht nur mit seiner deutlich größeren und mächtigen Miteigentümerin, deren Vertreter im eigenen Aufsichtsrat sitzen. Sondern letzten Endes über ein Tochterunternehmen, das die eigene Marktkapitalisierung bei weitem übersteigen würde.
Ob OMV und Adnoc mit je 46,94 Prozent Partner auf Augenhöhe bleiben, oder ob im Vertrag Vorkaufsrechte oder Kaufoptionen verhandelt wurden, darüber schweigt die OMV. Nur so viel: „Es besteht weder die Absicht noch die Verpflichtung, die OMV-Anteile zu verringern“, versicherte der Finanzvorstand Reinhard Florey in kleiner Runde.
Sterns Werk und Seeles Beitrag
Rückblende: Vor rund zehn Jahren wurde Gerhard Roiss als OMV-Vorstand abgesetzt, und Rainer Seele erklomm den Chefsessel der OMV. Seele verantwortet zwei Ereignisse, die die Firmengeschichte der OMV nachhaltig prägen sollten. Er straffte nicht nur die Beziehungen zur russischen Gazprom und zu Russland, indem er den mittlerweile aufgelösten Gasliefervertrag vorzeitig bis 2040 verlängerte – und auch gleich die Gas-Liefermengen deutlich erhöhte.
Der promovierte Chemiker wurde auch zum Architekten der Petrochemie-Strategie der OMV. Die Borealis sollte den Konzern in eine nachhaltigere Zukunft führen, in der Erdöl nicht mehr verbrannt, sondern veredelt, extrahiert und zu hochwertigen Kunststoffen verarbeitet wird.
Unter Seele übernahm die OMV im Jahr 2020 die Mehrheit an Borealis, indem sie ihre Beteiligung von 36 auf 75 Prozent aufstockte. Die Transaktion war kritisch beobachtet worden, schließlich war der Verkäufer der Borealis-Anteile gleichzeitig Kernaktionär bei der OMV: die Investmentgesellschaft Mubadala aus Abu Dhabi (mittlerweile hat Mubadala ihre 24,9 Prozent der Aktien an der OMV an die Adnoc übertragen). Der Kaufpreis von 3,8 Milliarden Euro wurde als zu hoch kritisiert. Immerhin hatte die Borealis damals kein besonders gutes Geschäftsjahr hinter sich. Der damalige OMV-Vorstandschef Seele wurde sogar im Ibiza-Untersuchungsausschuss dazu befragt. Mehrere Anzeigen gingen bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ein, mangels Anfangsverdachts wurde allerdings kein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Seele rechtfertigte den Kaufpreis damit, dass man den Unternehmenserfolg nicht nur anhand eines Geschäftsjahres messen dürfe, sondern an der strategischen und zukünftigen Bedeutung des Zukaufs – auch mit Blick auf den geplanten Konzernumbau. Für Abu Dhabi war es jedenfalls schon damals ein gutes Geschäft.
Denn genauso wie die OMV verfolgt auch Abu Dhabi seine eigene „Strategie 2030“. Die Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate will ihre Petrochemieindustrie zum Weltmarktführer samt Mega-Hub ausbauen und eigene Erdölvorkommen dafür nutzen. Adnoc ist an der sogenannten „Abu Dhabi Chemicals Industrial City“ in der Nähe von Taweelah beteiligt. Eine Fusion der beiden Töchter Borouge und Borealis vereinfacht nicht nur die Unternehmensstruktur, sondern stärkt auch die Position am Weltmarkt massiv. profil-Informationen zufolge soll Seele in den vergangenen zwei Jahren immer wieder als Berater von Adnoc bei der Borealis-Fusion aktiv geworden sein. Bestätigt wurde das aber von keiner Vertragspartei.
Neben den Headquarter in Wien, soll wird Borouge International eine Dependenz in Abu Dhabi haben, die wohl das zweite Machtzentrum des Konzerns bilden wird. Im Bild: die Firmenzentrale von Adnoc in Abu Dhabi.
Gut zwei Jahre nach Seeles Abgang setzte dessen Nachfolger Alfred Stern den nächsten, wohl wichtigsten Schritt in Richtung Konzernumbau. Am 14. Juli 2023 verkündete die OMV in einer Ad-hoc-Meldung, Verhandlungen mit Adnoc über eine potenzielle Kooperation der beiden Chemiesparten Borealis und Borouge aufnehmen zu wollen. „Der Zusammenschluss der stark komplementären Unternehmen würde die technologische Expertise und nachhaltige Spezial-Polyolefin-Lösungen von Borealis und Borouges vorteilhafte Kostenposition und Zugang zu großen und attraktiven Märkten bündeln und ein Unternehmen mit einem erheblichen Potenzial für organisches und anorganisches Wachstum schaffen“, wurde Stern, der selbst aus der Borealis kommt, damals etwas kryptisch zitiert. Übersetzt heißt das: Der Zusammenschluss zu einem Weltkonzern sollte beiden Unternehmen viel Marktmacht und hohe Dividenden bringen, die über die ÖBAG-Beteiligung auch ins Bundesbudget fließen.
Während bei der OMV die Anteils- und Machtverhältnisse mittels Syndikatsvertrag geklärt sind, sorgten eben diese Fragen beim jetzt besiegelten Deal monatelang für Unruhe. Ebenso die Details rund um die Übernahme von Nova Chemicals. Wer sollte das Sagen im Konzern haben? Der Aufsichtsratschef wird von Adnoc bestellt, die Geschäftsführung wird international ausgeschrieben und einstimmig beschlossen. Wo sollte die Firmenzentrale sein? Sie bleibt in Wien, aber die Dependenz in Abu Dhabi wird wohl auch künftig ein mächtiges Wörtchen bei der Firmengebarung mitzureden haben.
Und dann war da noch die Frage zur Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Borealis. Wenn man so will, befindet sich das Gehirn des Petrochemie-Riesen derzeit in Linz, in einem der drei Forschungs-Hubs von Borealis. Und das soll vorerst so bleiben. Es ist das, was Borealis eigentlich so wertvoll und attraktiv für Adnoc macht. Das Unternehmen war zuletzt in Österreich Patent-Staatsmeisterin. 20.000 Patente für Verfahrensschritte, Stoffe, Prozesse und Ähnliches hält Borealis. Auch das ist ein immenser Wettbewerbsvorteil. Borouge hat nur 500 Patente.
Zumindest bei der Namensgebung nützte dieser Vorteil aber nichts. Anfang 2026 wird Borealis – eine Anlehnung an die Aurora Borealis, das Polarlicht – erlöschen.