Dreierkoalition

Budgetloch verdoppelt: Wie Österreich zum EU-Sanierungsfall wurde

Das Budgetloch ist doppelt so groß wie angenommen. Marode Länderfinanzen, das dritte Rezessionsjahr in Folge und lange unbeachtete Warnungen treiben Österreich in ein EU-Defizitverfahren.

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„Hinter uns liegen die vielleicht schwierigsten Regierungsverhandlungen unseres Landes“, sagte Bundeskanzler Christian Stocker bei der Präsentation des Regierungsprogramms der ÖVP-SPÖ-Neos-Koalition vor einem Monat. Einig waren sich die drei Parteispitzen Stocker, Vizekanzler Andreas Babler (SPÖ) und Außenministerin Beate Meinl-Reisinger (Neos) damals ob der enormen Herausforderungen der Staatsfinanzen. Alle drei betonten in ihren Statements, dass die Umsetzung vieler Projekte, die im 211-Seiten starken Papier skizziert werden, wohl davon abhängt, ob und wann sie finanzierbar sind. Denn die Einnahmen und Ausgaben des Staates sind in den vergangenen Jahren auseinandergegangen.

Dass die Wirtschaft aller Voraussicht nach das dritte Jahr in Folge schrumpfen wird, verschärft die Situation zusätzlich. Deshalb hat sich die Dreier-Koalition vorgenommen, heuer 6,39 Milliarden einzusparen, im nächsten Jahr sollen nochmals etwas mehr als zwei Milliarden hinzukommen, sodass insgesamt 8,7 Milliarden eingespart werden. Nur zum Vergleich: Das gesamte Bundesbildungsbudget, also darunter auch alle Gehälter für Lehrerinnen und Lehrer, betrug zuletzt 11,3 Milliarden. Und seit gestern ist bekannt: Das Budgetloch ist mit ungefähr zwölf Milliarden Euro ungefähr doppelt so groß wie bisher angenommen. Der Sparbedarf beträgt also allein heuer zwölf statt sechs Milliarden, um wieder auf einen gesunden Budgetpfad zurückzufinden. Somit zeichnet sich ab, was Wirtschaftsforscher hinter vorgehaltener Hand schon seit Wochen sagen: Die Einsparmaßnahmen der Bundesregierung werden nicht ausreichen, die EU-Kommission wird Österreich wohl in ein Defizitverfahren schicken.

Was ist ein Budgetdefizit?

Das Budgetdefizit gibt an, um wie viel die staatlichen Ausgaben die Einnahmen übersteigen, gemessen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Je höher das Defizit im Verhältnis zum BIP, desto mehr muss der Staat durch neue Schulden oder Einsparungen gegensteuern, um finanzpolitische Vorgaben wie die EU-Maastricht-Kriterien einzuhalten.

Am gestrigen Montag ist im Parlament der Budgetausschuss zusammengekommen. Im Zentrum: Fiskalratchef Christoph Badelt und sein langjähriger Vize, der nunmehrige Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ). Gemeinsam mit den Vertreterinnen und Vertretern aller Parlamentsparteien wurde dort über die bereits fixierten Maßnahmen, also die 6,4 Milliarden Euro für heuer und die 8,7 Milliarden Euro Einsparmaßnahmen für das Jahr 2026 diskutiert. Badelt legte den Anwesenden den Bericht seines Hauses über die öffentlichen Finanzen 2023 bis 2028 vor.

Sparmaßnahmen reichen nicht aus

„Und auch wenn diese Daten schon mehrere Monate alt sind, habe ich gestern gesagt, ich mache eine Plausibilitätsrechnung, wie sich die Dinge aus heutiger Sicht darstellen“, sagt Badelt zu profil. „Ich habe für diese Rechnung angenommen, dass sich die Wirtschaftsprognosen um einen Prozentpunkt verschlechtern. Am Ende des Tages wird ein Defizit in der Höhe von drei Prozent nicht zu halten sein wird, egal wie stark die Wirtschaftsprognosen genau hinuntergehen, weil auch noch höhere Defizite von Ländern und Gemeinden dazukommen“, sagt der Chef des Fiskalrates.

Was Badelt damit meint: Wirtschaftswachstum und Budgetdefizit hängen direkt zusammen. Reduziert sich das Wachstum um einen Prozentpunkt, bedeutet das, dass auf der anderen Seite, dass das Budgetdefizit um rund 0,5 Prozentpunkte größer wird. Im Bericht aus dem Dezember 2024, der im Ausschuss diskutiert wurde, geht der Fiskalrat bereits davon aus, dass das Defizit heuer 4,1 Prozent und im kommenden Jahr 3,8 Prozent ausmachen wird.

Der Inhalt des besprochenen Berichts war der neuen Regierung also auch zu Amtsantritt bekannt. Weil dieser allerdings nur Maßnahmen berücksichtigte, die bereits beschlossen waren, zeigten sich ÖVP, SPÖ und Neos optimistisch, mit neuen Maßnahmen noch irgendwie unter die von der Europäischen Union vorgegeben drei Prozent zu kommen. Die Chancen für dieses Vorhaben standen aber von Anfang an nicht gut. Denn die Einsparungen, die die Bundesregierung präsentiert hat – etwa die Auszahlung des Klimabonus zu stoppen, die Bildungskarenz abzuschaffen sowie Einsparmaßnahmen in der Höhe von 1,1 Milliarden Euro quer durch alle Ministerien zu finden – fußten alle auf der Annahme, dass die Wirtschaft wieder anspringt. Zumindest ein ganz kleines bisschen.

Gabriel Felbermayr, Chef des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo), äußerte bereits zwei Tage nach Vorstellung des Regierungsprogramms Zweifel: „Jetzt sieht es so aus, als ob wir nach unten revidieren müssen. In Deutschland hat das schon begonnen, die deutschen Institute gehen teilweise von einem Nullwachstum aus. (...) Wir sind angewiesen auf die deutsche Konjunktur. Wenn die nicht anspringt, ist es auch für Österreich schwierig“, sagte Felbermayr kurz nachdem das Regierungsprogramm vorgestellt wurde, im ZIB2-Studio. „Das heißt, ja, wir werden die bisher prognostizierten 0,6 Prozent (Wachstum; Anm.) für das Jahr 2025 wahrscheinlich herunternehmen müssen, aber vieles hängt tatsächlich davon ab, was jetzt noch passiert“, so der Wifo-Chef Ende Februar. Der Krieg in der Ukraine, potenzielle Auswirkungen angekündigter US-Zölle und das Auflockern der Schuldenbremse in Deutschland erschweren Prognosen zusätzlich.

Negative Budgets der Länder und Gemeinden

Hinzu kommen aber auch die von Badelt bereits angesprochenen innerösterreichische Entwicklungen, die negativer ausfallen werden als erwartet. Denn aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklungen ist hinter vorgehaltener Hand allen Beteiligten klar, dass die Budgets der Bundesländer und deren Defizitprognosen schlechter ausfallen werden als veranschlagt. Das Problem: Die Zahlen werden stark zeitverzögert eingemeldet. Mit vorläufigen Zahlen ist Ende März zu rechnen, wie hoch die Defizite der Bundesländer und Gemeinden dann tatsächlich sind, wird erst im Herbst bekannt sein.

Was heißt das jetzt für die Dreier-Koalition und den Finanzminister?

Eine Sprecherin des Finanzministers Marterbauer betonte auf profil-Nachfrage, dass man nach wie vor das Ziel verfolge, bis zur Budgetrede im Mai, die 6,4 Milliarden Euro für heuer und die 8,7 Milliarden Euro für das kommende Jahr aufzustellen. Dass man damit aber aller Voraussicht nach dennoch über den Maastricht-Kriterien von drei Prozent liegen wird, ist mittlerweile auch allen in der Bundesregierung bewusst.

Kommt jetzt das EU-Defizitverfahren?

Irgendwo im Budget und in den Ministerien zusätzliche Milliarden suchen wird man nicht, heißt es aus dem Büro des Finanzministers. Denn, um den aktuellen Entwicklungen gegenzusteuern, bräuchte es ein weiteres Sparpaket in der Größenordnung des bereits beschlossenen. Und davon möchte Marterbauer absehen: „Wenn wir diesen Effekt behalten, wird die Konjunktur weiter gedämpft und wir haben einen Teufelskreis“, sagte Marterbauer gestern im Ausschuss zu den Abgeordneten.

Dass deshalb wohl nur der Weg eines EU-Defizitverfahrens bleibt, davon gehen die meisten Wirtschaftsforscher nun aus. Entschieden wird das aber nicht in Wien und auch nicht von der Bundesregierung, sondern von der EU-Kommission in Brüssel. Und diese verwendet dafür nicht die Konjunkturprognose der beiden Wirtschaftsforschungsinstitute IHS und Wifo, die am Donnerstag vorgestellt wird, sondern ihre eigene. Diese wird im Mai vorliegen.

Im Prinzip würde ein EU-Defizitverfahren bedeuten, dass man in einem intensiven und ständigen Austausch mit Brüssel ist, erweiterte Berichtspflichten hat und alle drei Monate überprüft wird, wie denn der Stand der Konsolidierungsmaßnahmen ist.

Margit Schratzenstaller, Budgetexpertin Wifo

Dass ein Defizitverfahren kein Schreckensszenario sei, betonten in den vergangenen Tagen nicht nur Finanzstaatssekretärin Barbara Eibinger-Miedl (ÖVP), sondern auch der Finanzminister Marterbauer selbst. Einen Aufpasser oder eine Aufpasserin aus Brüssel, die dann in Wien der Bundesregierung auf die Finger schaut, gibt es entgegen vieler Annahmen nicht. Vielmehr müsse die Bundesregierung einmal im Quartal der EU-Kommission ausführlich über ihre Vorhaben, wie das Defizit reduziert werden soll, berichten. Geschieht dies nicht und würde sich ein Land nicht daran halten, kann die EU-Kommission im Abstand von sechs Monaten finanzielle Sanktionen gegen ein Mitgliedsland aussprechen. Vorgekommen ist das bisher noch nie.

„Im Prinzip würde ein EU-Defizitverfahren bedeuten, dass man in einem intensiven und ständigen Austausch mit Brüssel ist, erweiterte Berichtspflichten hat und alle drei Monate überprüft wird, wie denn der Stand der Konsolidierungsmaßnahmen ist“, sagt Margit Schratzenstaller, Budgetexpertin am Wifo. Das heiße aber keineswegs, dass „Brüssel irgendetwas diktieren kann, was man zu tun hat. Die EU-Kommission kann Österreich auch nicht vorschreiben, ob man das einnahmenseitig oder ausgabenseitig macht“, sagt Schratzenstaller. Die konkreten Maßnahmen bestimmt allein die Bundesregierung.

Weil Österreich innerhalb der Mitgliedsstaaten aber stets zu den „sparsamen Vier“ gehörte, also die Einhaltung der EU-Fiskalregeln bei den anderen Mitgliedsstaaten aktiv eingefordert hat, ist ein EU-Defizitverfahren hierzulande politisch verpönt. Dabei wäre es nicht das erste Mal. Die EU-Kommission leitete schon 2009 ein Defizitverfahren gegen Österreich ein, das bis 2014 andauerte. Einen Budgetüberschuss gab es in Österreich überhaupt nur zwei Mal – seit dem Zweiten Weltkrieg. In allen anderen Jahren haben wir eher mehr ausgegeben, als eingenommen. Auch wenn die „schwierigsten Regierungsverhandlungen unseres Landes“, wie Stocker es formulierte, bereits geschafft sind. Die schwierigsten Budgetverhandlungen stehen wohl noch bevor.

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.