Sprechen mit der geistigen Welt
Gira-Marl nimmt mir gegenüber im Fauteuil Platz, sie will mir zeigen, wie sie arbeitet. Sie bekomme Gedanken, spüre Gefühle, vor dem inneren Auge entstünden Bilder, die ihr die Verstorbenen zukommen lassen. Gira-Marl will in jeder Sitzung unbedingt ein Detail erzählen, das ihren Kontakt mit dem Jenseits beweisen soll. „Ein seriöses Medium wird immer darauf Wert legen, Beweise zu liefern.“ Das klingt fast nach meiner Jobbeschreibung. Nur unsere Methoden unterscheiden sich grundsätzlich.
Gira-Marl blickt aus dem Fenster, stellt keine Fragen, will nichts wissen, kein Foto sehen. Meine vor sechs Jahren verstorbene Großmutter nimmt jetzt aus der geistigen Welt, so heiße der Ort in unserem Energiefeld, an dem die Verstorbenen verweilen, mit ihr Kontakt auf. Zumindest behauptet das Gira-Marl. Sie tastet sich vor, ich soll mit ja oder nein antworten. Viele Aussagen sind recht allgemein („ich sehe eine mütterliche Figur“), passen zu meiner Generation („dein Verhältnis zu ihr war besser als das deiner Mutter) oder wollen von mir und den meisten Menschen gehört werden („sie ist sehr stolz auf dich“). Es geht fast ein bisschen psychoanalytisch mehr um mein Verhältnis zu ihr als um sie selbst. Trotzdem stehe ich nicht ironisch darüber, sondern greife zur Taschentuchbox, die auf einem Tischchen bereitsteht, als sie meine Oma überraschend treffend charakterisiert. Und so absurd mir alles zehn Minuten davor noch erschien, so unhinterfragt genieße ich die plötzliche Nähe, die entstanden ist, und die Erinnerungen, die hochkommen.
Qualitätsgesicherte Sinnsuche
Die 60-Jährige hat sich 2009 selbstständig gemacht, sie hat davor als Kinesiologin gearbeitet. Die ersten Jahre waren hart, ihr Mann, ihr größter Fan, war der Hauptverdiener. Bei den ersten Vorträgen vor zehn Jahren saßen gerade einmal zwei Dutzend Personen im Publikum. Jetzt sind die Säle voll, die Einzelstunden begehrt, und auf Facebook sind die Seminare innerhalb weniger Tage ausgebucht. Ihre Kundschaft ist zumeist weiblich und 40 plus, aber vor allem bei den Vorträgen erscheinen zuletzt immer mehr Männer. Doch warum wächst dieser Markt – um es ganz trocken zu beschreiben?
Gira-Marl meint, sie habe sich einen Namen gemacht. Aber nicht nur sie. Die Zahl der Humanenergetiker steigt seit Jahren kontinuierlich, der deutschsprachige Raum hat seit Langem eine Affinität für Esoterik. Für Deutschland gibt es Schätzungen, die davon ausgehen, dass 15 bis 20 Milliarden Euro Umsatz im Esoterikbereich erwirtschaftet werden. Für Österreich gibt es diese nicht, das übliche geschätzte Zehntel wären 1,5 bis zwei Milliarden Euro. Auch beachtlich.
Die Wirtschaftskammervertretung der Sparte relativiert. „Es wird immer gesagt, wir sind ein Milliardengeschäft. Das sind wir nicht.“ Seit 2015 vertritt Michael Stingeder die Interessen der persönlichen Dienstleister. In der Pandemiezeit seien sie in Verruf geraten, unseriös und eine Goldgrube zu sein. „Das stimmt so nicht.“ Umgekehrt haben seit Corona einige aufgehört, eine Marktbereinigung habe stattgefunden, nur die Erfolgreichen machen weiter. Und viele seien nur nebenberuflich in diesem Bereich tätig. Das heißt: Tagsüber sitzen sie über Excel-Tabellen im Büro, abends legen sie Tarot-Karten gegen Geld.
Stingeder von der Wirtschaftskammer bemüht sich um Qualitätssicherung in der Branche. Das heißt in diesem Fall: „Wir brauchen klare Regeln, wir machen keine Heilsversprechen, sagen nicht: ‚Geh nicht zum Arzt.‘ Nein, Energetik kann zu Schulmedizin etwas beitragen, aber wir raten nicht davon ab.“ Wenn Grenzen überschritten werden, die Beteiligten beratungsresistent seien, werde der Schutzverband kontaktiert und die Gewerbeberechtigung entzogen. Auch das passiert. Zwei bis fünf Mal pro Quartal müsse der Fachverband bei Mitgliedern intervenieren. Eine recht hohe Quote.
Auch in der Fachvertretung merke man, das Klientel wird jünger. Als Stingeder anfing, waren die Interessierten „45 bis 50 Jahre alt. Jetzt gehen viel Jüngere auf Sinnsuche.“ Gen Z, also die Generation der Ende der 1990er- bis Anfang der 2010er-Jahre Geborenen, gilt als esoterikaffin. Soziale Medien sind voll mit überirdisch angehauchtem Content. Historisch gesehen neigen Krisenzeiten zu magischen Verklärungen, ob beim Einfall der Wikinger in Mitteleuropa im frühen Mittelalter, im Dreißigjährigen Krieg oder in den 1930er-Jahren. Krisenzeiten sind also auch magische Zeiten. Religion verliert hierzulande an Bedeutung. Halt und Orientierung suchen aber nach wie vor viele, und sie sind auch bereit, dafür zu zahlen.
„Viel Scharlatanerie dabei“
Irene Gira-Marl lehnt die katholische Kirche ab, beschreibt sich aber selbst als gläubig. Ihre Arbeitsweise und Wortwahl hat durchaus etwas Christliches an sich, ein Teilnehmer ihres Vortrags erzählt: „Es erinnerte mich an eine göttliche Botschaft der Liebe, es hat für mich etwas zutiefst Katholisches. Pfarrer könnten sich etwas daran abschauen.“ Bei dem niederösterreichischen Medium kommen aus der geistigen Welt nur positive Nachrichten, maximal wohlwollende Kritik, nichts Vernichtendes: „Du bist zu deppert für diese Welt, das würde nie eine Seele sagen“, erklärt sie.
Aber auch für ein Medium gelten Gesetze. Ihre Kunden kommen oft nach schweren Schicksalsschlägen, sie befinden sich in sehr fragilen Situationen. Wenn einer Kundschaft durch eine Sitzung psychischer Schaden entsteht, kann die 60-Jährige dafür haftbar gemacht werden. Nach jeder Sitzung bekommen die Kunden eine Audioaufnahme vom Gespräch als Dokumentation des Erlebten. Bei vielen Medien sei das nicht der Fall, kritisiert Gira-Marl. „Es ist viel Scharlatanerie dabei. Es gibt ja genauso Handwerker, die sich so bezeichnen. In Wirklichkeit sind sie Pfuscher.“
In dem kleinen Zimmer nahe der Schallaburg geht es nicht nur ernst zu. Ein Medium kann die Botschaften, die es empfängt, auch falsch deuten, erzählt sie. Sie hatte einmal eine Sitzung mit einer Frau, deren Mutter mit über 90 Jahren gestorben war. „‚Ich kann mir nicht helfen, ich sehe sie nur Fenster putzen‘, habe ich ihr gesagt.“ Die Frau habe gelacht, es gab da eine Geschichte in der Familie. Sie hatte eine Nachbarin, die sehr laut Sex hatte. Am gegenüberliegenden Dach waren Dachdecker. Der Mutter sei das furchtbar peinlich gewesen. Sie habe begonnen, demonstrativ die Fenster putzen, damit die Handwerker ja nicht auf die Idee kämen, die Geräuschkulisse stamme aus ihrer Wohnung.
Irene Gira-Marl bedankt sich bei den Verstorbenen, bläst die Kerze aus und geht zu Kaffee und Kuchen ins Wohnzimmer. Im Schnitt tritt sie an Arbeitstagen drei Mal, maximal fünf Mal mit der Welt der Verstorbenen in Kontakt. Aber sie begleite uns immer und überall, und Gira-Marl fügt schmunzelnd hinzu: „Keine Sorge, sie interessieren sich nicht für die intimsten Details, Voyeurismus ist ein irdisches Laster.“ Aber wieso eigentlich?