Stefan Grissemann

Stefan Grissemann Erhebliche Liebesmüh

Erhebliche Liebesmüh

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Star-Filmemacher, US-Independents und französische Regielegenden: Große Überraschungen hielt das Programm, das Thierry Frémaux, Direktor des Filmfestivals in Cannes, am Donnerstag vergangener Woche präsentierte, nicht bereit. Mit einer Ausnahme: Gleich zwei Arbeiten aus dem verschwindend kleinen Österreich wurden erwählt, am Wettbewerb der bedeutendsten Filmausstellung der Welt teilzunehmen - Ulrich Seidls Sextourismus-Nahaufnahme "Paradies: Liebe“ und Michael Hanekes Altersstudie "Amour“. Zwei Regisseure aus Wien fanden sich da also in jener nur 22 Produktionen umfassenden Liste, in die sich alljährlich Tausende Filmemacher aus aller Welt träumen.

Die für Österreichs Filmszene an sich höchst ehrenvolle Meldung entbehrte nicht einer gewissen Pikanterie. Denn sie schlägt zu einem Zeitpunkt ein, da mächtige Kräfte in der hiesigen Filmpolitik unverhohlen daran arbeiten, das Austro-Kino im Sinne des Geschäfts zur Provinzveranstaltung zurückzubauen. Mehr Komödien werden da gefordert, mehr "Wien-Bezug“ und viel mehr "Publikumsfilme“, um die Heimatkinokassen wieder ein wenig klingeln und die Bilanzen der um ihre Pfründe fürchtenden Produzenten glänzen zu lassen. Den Generalabbau einer Filmkunst, die kein schnelles Geld, nur Auslandsruhm verspricht, nimmt die Populistenfraktion in den Förderungsstellen und den Produktionsbüros notfalls gern in Kauf.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die jüngsten Projekte Hanekes und Seidls wie sarkastische Querschläger, die nun möglicherweise noch für filmpolitisches Umdenken sorgen könnten: Denn sie zeigen, wie sehr gerade die gewagten, weltoffenen Filmentwürfe international geschätzt werden - weil sie Existenzielles thematisieren und eben nicht allein für österreichisches, sondern für ein globales Publikum gedacht und konzipiert sind. Michael Haneke, der mit "Das weiße Band“ in Cannes vor zwei Jahren triumphierte, hat "Amour“ in Frankreich gedreht, mit drei Größen des europäischen Kinos: Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva, die ein von Krankheit und Todesnähe bedrohtes altes Paar darstellen, und Isabelle Huppert, die Haneke inzwischen als einen ihrer zentralen Regisseure erachtet.

Seidl dagegen hat unter dem Titel "Paradies“ gleich drei Spielfilme inszeniert, deren erster nun zufällig ganz ähnlich wie Hanekes Werk heißt: "Paradies: Liebe“ handelt von einer Frau mittleren Alters, gespielt von Margarethe Tiesel, die als Urlauberin in Kenia erotische Abenteuer sucht: eine Realgroteske über Einsamkeit und Kolonialismus.

Seidl versteht seine "Paradies“-Filme als gut fünfstündige Einheit, denn die vielen stilistischen und inhaltlichen Querbezüge zwischen den drei Filmen lassen sich in der Gesamtschau am deutlichsten nachvollziehen. Es ist Seidls Wunsch, die Teile zwei und drei (sie werden "Paradies: Glaube“ und "Paradies: Hoffnung“ heißen) - ehe er die Trilogie endlich auch als Ganzes zeigen wird - auf weiteren A-Festivals uraufzuführen; sie werden also voraussichtlich im September 2012 in Venedig und im Februar 2013 bei der Berlinale ihre Weltpremieren feiern.

Die entsprechenden Verhandlungen laufen, wie man hört, fixiert sei aber bislang noch nichts. Ulrich Seidl, der gegenwärtig an den Münchner Kammerspielen für die diesjährigen Festwochen die Theater-Koproduktion "Böse Buben/Fiese Männer“ (nach David Foster Wallace, Wien-Premiere: 5. Juni) inszeniert, erlebt gerade die vielleicht strapaziöseste Arbeitsphase seiner bisherigen Laufbahn: Nicht weniger als vier Filme stellt er dieser Tage fertig. Fünf Jahre lang hat ihn sein "Paradies“-Dreiteiler in Atem gehalten, und an einem Dokumentarfilm namens "Im Keller“, der sich um die geheimen und bisweilen auch bizarren Welten in Österreichs Kellerlandschaften dreht, arbeitet er daneben auch noch.

Haneke und Seidl werden in Cannes gegen prominente Konkurrenten antreten: David Cronenbergs Verfilmung von Don DeLillos Finanzkrisenabstraktion "Cosmopolis“ wird im Rahmen der ab 16. Mai laufenden Filmfestspiele ebenso zu sehen sein wie Neues von Alain Resnais und Leos Carax. Virtuose Realisten wie der Rumäne Cristian Mungiu, der Brite Ken Loach und der Iraner Abbas Kiarostami werden zudem in ebenjenen Territorien zugange sein, die auch die beiden Österreicher so unnachahmlich beforschen.

Der Kritiker des "Guardian“, Peter Bradshaw, hat Seidls Wettbewerbsbeitrag den "Hauptanwärter“ in Sachen "Schock und Festivalerregung“ genannt. Aber da könnte er sich täuschen. Denn sowohl Seidl als auch Haneke befinden sich zweifellos in ihren reifen Phasen. Das mag auch mit dem Übertritt in ein gesetzteres Alter zusammenhängen: Seidl wird im November 60, Haneke feierte vor wenigen Wochen seinen 70. Geburtstag. Beide Filmemacher scheinen bei stetig wachsender Präzision milder geworden zu sein - für ihre Verhältnisse jedenfalls. Über die Periode der Provokation sind sie hinaus. Auch davon wird das 65. Filmfestival in Cannes, wenn nicht alles täuscht, Zeugnis ablegen.

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