Causa Wien Energie: Showdown im Rathaus
Kommender Freitag, 31. März 2023, ab 10 Uhr vormittags: In einem mäßig schmucken Saal im Erdgeschoß des Wiener Rathauses soll an diesem Tag SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig vor einer Untersuchungskommission Rede und Antwort stehen. Mindestens vier Stunden lang will die Opposition den Stadtchef zum Thema Wien Energie in die Mangel nehmen. Der Energieversorger musste im Vorjahr bekanntlich unter strittigen Umständen von der Stadt mit insgesamt 1,4 Milliarden Euro an Finanzhilfen vor dem Absturz gerettet werden. Nun kommt es zum politischen Showdown. Kann Ludwig weiterhin alles an sich abperlen lassen oder bleibt doch etwas an ihm hängen? Kann die Opposition ihre bisher größte Chance, dem roten Stadtchef einen Skandal umzuhängen, nutzen – oder verschießt sie in letzter Minute den entscheidenden Elfmeter?
Seit Anfang Dezember 2022 tagt die Untersuchungskommission des Wiener Gemeinderats zum Thema Wien Energie. Alles dreht sich um die Frage, ob der Bürgermeister richtig gehandelt hat, dem – im Wege der Wiener Stadtwerke im städtischen Eigentum stehenden – Energieversorger per sogenannter Notkompetenz insgesamt 1,4 Milliarden Euro für Börsengeschäfte zur Verfügung zu stellen. Dies, ohne gleichzeitig die Öffentlichkeit zu informieren und mit der Absicht, die Kreditrahmen erst im Nachhinein vom Gemeinderat absegnen zu lassen.
1,4 Milliarden Euro von der Stadt
Technischer Hintergrund: Die Wien Energie kauft über sogenannte Terminkontrakte an den Energiebörsen Gas und verkauft über ebensolche Derivatgeschäfte den von ihr in Zukunft produzierten Strom. Zur Absicherung der Handelspartner müssen Verkäufer bei den Börsen finanzielle Sicherheiten hinterlegen – sogenannte „Margins“. Je stärker der Strompreis steigt, umso mehr muss die Wien Energie dafür hinterlegen. Und der Strompreis hat bereits ab 2019 stark angezogen – umso mehr dann nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine Ende Februar 2022. Auch wenn diese Sicherheitsleistungen bei ordnungsmäßiger Erfüllung der Liefergeschäfte wieder zurückfließen: Zunächst muss das Geld einmal aufgetrieben werden. Gelingt das nicht, ist mit einem Schlag alles weg. Und dazu wäre es im Vorjahr bei der Wien Energie beinahe gekommen.
Bereits am 15. Juli 2022 genehmigte Ludwig einen ersten Kreditrahmen von 700 Millionen Euro. Vorliegende E-Mails zeigen, dass die Wiener Stadtwerke eigentlich bereits da um zwei Milliarden Euro gebeten hatten. Im Rathaus entschied man sich jedoch mit Blick auf die bei der Stadt direkt verfügbaren Mittel, nur den geringeren Betrag zur Verfügung zu stellen. Mit der Folge, dass die Stadtverwaltung Ende August 2022 umso schneller reagieren musste, um noch einmal 700 Millionen Euro locker zu machen. Damals gab es an den Börsen derart hohe Preisausschläge, dass die Wien Energie innerhalb kürzester Zeit eine Milliardensumme deponieren musste. In der Folge trat die Stadt bekanntlich den Canossagang zum ÖVP-geführten Finanzministerium an, um einen weiteren Schutzschirm vom Bund über zwei Milliarden Euro zu erhalten. Dieser Finanzierungsrahmen wurde nie ausgenutzt, das Geld der Stadt wurde später zurückbezahlt. Vergangene Woche hat Wien allerdings wiederum einen neuen Zwei-Milliarden-Schirm aufgespannt – für alle Fälle.
War das alles rechtens?
Eine zentrale Frage, mit der Ludwig am kommenden Freitag konfrontiert werden wird: War die Genehmigung per Notkompetenz gerechtfertigt? Um das einschätzen zu können, ist es wichtig, minutiös zu rekonstruieren, wann der Bürgermeister worüber Bescheid wusste. Nachdem die Angelegenheit an die Öffentlichkeit gekommen war, erklärte Ludwig in einer Gemeinderatssitzung, die „Höhe, die Notwendigkeit und die Dringlichkeit“ seien ihm erst mit dem – ihm am 15. Juli vorgelegten – fertigen Antrag „vermittelt“ worden. Der Wiener Magistratsdirektor Dietmar Griebler sagte mittlerweile jedoch vor der Untersuchungskommission aus, er habe dem Bürgermeister bereits am 8. Juli nach einer Veranstaltung mitgeteilt, vom Generaldirektor der Wiener Stadtwerke darüber informiert worden zu sein, „dass die Volatilitäten auf den Energiemärkten zunehmen beziehungsweise in weiterer Folge die Wiener Stadtwerke und/oder die Wien Energie die Situation hier weiter verfolgen und in weiterer Konsequenz es sein kann, dass sich die Stadtwerke oder die Wien Energie im Laufe der nächsten Woche hier eben an den Magistrat wenden werden.“
Der zuständige SPÖ-Stadtrat Peter Hanke wiederum sagte aus, sich mit Ludwig das ganze Jahr 2022 über bezüglich der Liquiditätsprobleme unterhalten zu haben. Und im Antrags-E-Mail der Stadtwerke vom 12. Juli 2022 an die Stadt Wien stand wortwörtlich: „Wie besprochen, wird ersucht die vom Bürgermeister gewünschte Ergänzung (‚Freistellung‘) vorzubereiten.“ Was genau wusste Ludwig zu welchem Zeitpunkt – und war die Freigabe per Notkompetenz dann überhaupt noch gerechtfertigt? profil hat dem Büro des Bürgermeisters eine Reihe von Detailfragen zukommen lassen. Ein Sprecher teilte jedoch mit, Ludwig wolle der Befragung durch die Untersuchungskommission nicht vorgreifen – insbesondere nicht jener durch die Opposition.
Opposition kritisiert Ludwig
Dort wetzt man schon die politischen Messer: „Vor allem die letzte Befragung (Anm.: jene Hankes) hat eines ergeben: Bürgermeister Ludwig wusste offensichtlich über alles Bescheid“, meint ÖVP-Klubobmann Markus Wölbitsch. Am 12. Juli 2022 habe es nach dem Antragsentwurf der Stadtwerke auch ein Telefonat Hankes mit dem Bürgermeister gegeben. Das sei ein weiterer Beweis dafür, dass „Ludwig stets informiert und involviert war“.
Inwieweit danach erfolgte Änderungen des Antrags – etwa jene der Hilfssumme – an dieser Einschätzung etwas verändern könnten, wird sich am Freitag zeigen. Stand jetzt hält David Ellensohn von den Grünen fest: „Wir glauben immer noch, diese Notkompetenz wurde zu Unrecht gezogen. Man kann sich das nicht hin- und herbiegen, wie man es gerade braucht.“
„Es hat sich bei den vergangenen Befragungen gezeigt, dass es durchaus Widersprüche darüber gibt, ab wann der Bürgermeister über die Schieflage und den daraus resultierenden Finanzbedarf der Wien Energie informiert wurde“, sagt Maximilian Krauss, Klubmann der Freiheitlichen im Wiener Rathaus. Selbst die eigene Magistratsdirektion sei der Ansicht, dass für die Notkompetenz eine Entscheidung „binnen Stunden“ notwendig sein muss: „Hier wird der Bürgermeister Farbe bekennen müssen.“
In nicht allzu strahlenden Farben erscheint bereits jetzt das sogenannte Beteiligungsmanagement der Stadt Wien. Der zuständige Dezernatsleiter sagte vor der Kommission aus, dieses bestehe „aus eineinhalb Vollzeitäquivalenten, wobei sich ein halbes Äquivalent derzeit in Karenz befindet“. Offenbar verließ man sich in der Stadtpolitik nicht zuletzt darauf, dass die Wiener Stadtwerke deren direkte Tochter Wien Energie ohnehin ordentlich kontrollieren würden. Trotz der tristen Personalsituation sammelte man jedoch auch im Rathaus interessante Daten. Daten, die durchaus die Alarmglocken hätten schrillen lassen können.
Geheime Geschäftszahlen
profil liegen Unterlagen mit Geschäftszahlen der Wien Energie vor. Recherchen zufolge dürfte es sich dabei um Berichte handeln, die vom Beteiligungsmanagement der Stadt auf Basis von Informationen der Wiener Stadtwerke erstellt wurden. profil liegen sowohl ein „Jahresreporting 2021“ als auch drei „Quartalsreportings“ aus dem Jahr 2022 vor. Das Besondere daran: Die Wien Energie veröffentlicht keine Quartalsberichte, die Jahresbilanz für 2022 soll erst im April präsentiert werden. Darüber hinaus beinhalten die Unterlagen einen – üblicherweise nicht veröffentlichten – Vergleich zwischen geplanten und tatsächlichen wirtschaftlichen Kennzahlen. profil hat Wien Energie, Wiener Stadtwerke und die Stadt Wien mit den Dokumenten konfrontiert. Die Echtheit wurde nicht bestritten.
Auf Basis der Unterlagen ist es erstmals möglich, einen tieferen Blick in den Geschäftsverlauf jenes Jahres zu werfen, das der Wien Energie um ein Haar einen Milliardenverlust bescheren hätte können. Was auffällt: Bereits zum Ende des ersten Quartals 2022 lag die Liquiditätsposition in der Bilanz bei 1,7 Milliarden Euro. Geplant waren lediglich 293 Millionen Euro. Angemerkt wurde, dass die „Forderungen und Verbindlichkeiten für Derivate“ weiter angestiegen seien. Anders als im Jahresreport 2021 sind in den Quartalsreports die Verbindlichkeiten nicht extra ausgewiesen, obwohl es sich dabei um eine zentrale Bilanzkennzahl handelt. Zum Jahresende 2021 ergab sich die Verschuldung allerdings eins zu eins aus der Differenz zwischen Bilanzsumme und Eigenkapital. Dieser Wert lag Ende 2021 bei rund 6,9 Milliarden Euro, drei Monate später waren es bereits rund acht Milliarden Euro. (Bis Ende September 2022 wuchs dieses Delta auf mehr als 14 Milliarden Euro an. Die Wien Energie bezeichnete diese „Interpretation des Fremdkapitals“ als „aus unserer Sicht verkürzt“ und verweist darauf, dass den Verbindlichkeiten gleichzeitig Vermögenswerte gegenüberstehen würden: „Hier werden keine Gewinne oder Verluste realisiert.“)
Hohe Quartalsgewinne
Warnsignale gab es jedenfalls genug. An der Geschäftsstrategie der Wien Energie, ausschließlich über die Börse zu handeln, hat das allerdings nichts geändert. Und abgesehen von Liquiditätsherausforderungen lief es für den Energieversorger und seine Eigentümer im Vorjahr prächtig: Den vorliegenden Unterlagen zufolge übertraf bereits nach dem ersten Halbjahr der Gewinn vor Steuern mit rund 115 Millionen Euro den für das Gesamtjahr geplanten Vorsteuergewinn von 107 Millionen Euro. Nach drei Quartalen belief sich das Ergebnis vor Steuern demnach bereits auf 226 Millionen Euro – mehr als doppelt so viel wie für das Gesamtjahr geplant.
Streitfall Strom-Vorschreibung
Dass dazwischen eine Rettungsaktion mit Steuergeld stattgefunden hat, könnte man angesichts dieser Gewinne beinahe vergessen. Zwischen dem Jahresbeginn 2022 und heute liegen freilich auch noch saftige Preiserhöhungen für Strom- und Fernwärmekunden. Manch Konsument stellte sich in den vergangenen Monaten die Frage, ob der in seinen Teilvorschreibungen angenommene Verbrauch überhaupt realistisch ist. profil bat die Wien Energie um eine Übermittlung diesbezüglicher Durchschnittswerte, um einen zeitlichen Vergleich vornehmen zu können. Das Unternehmen verwies jedoch lediglich darauf, dass der Verbrauch vom Netzbetreiber – also den Wiener Netzen – ermittelt würde. Eine bewusste Falsch-Verrechnung schließe man dezidiert aus: „Wir bieten unseren Kundinnen und Kunden trotzdem eine Reduktion der Teilbeträge an.“ Man informiere jedoch auch darüber, dass dann die Gefahr einer höheren Nachzahlung entstehen könne.
Für Beschwerdefälle ist übrigens die E-Control zuständig. Von dort heißt es – nicht nur in Bezug auf die Wien Energie, sondern allgemein für den gesamten Strommarkt: „Zahlreiche Kundinnen und Kunden wenden sich wegen – teilweise extrem – hoher Vorschreibungen für die Teilzahlungen an uns. Seit Beginn des Jahres ist die Zahl dieser Anfragen nochmals gestiegen.“ Der E-Control würden Fälle vorliegen, bei denen Vorschreibungen um bis zu 30 bis 40 Prozent überhöht gewesen seien.
Gut möglich, dass die Strompreisentwicklung am Ende des Tages eine größere politische Gefahr für Michael Ludwig ist als die Causa Wien Energie. Dieses Problem teilt er dann allerdings mit Entscheidungsträgern anderer Couleur und Regionalität.