Corona und Schulden: "Solche Klienten gab es bisher bei uns nicht"
profil: Wie sieht der typische Klient bei Ihnen aus?
Sell: Den gibt es nicht. Ein Anzeichen wäre die geringe Ausbildung: Nur drei Prozent unserer Klienten sind Akademiker, 42 Prozent haben lediglich den Pflichtschulabschluss.
profil: Und wie geraten sie in ihre Situation?
Sell: Ganz klare Hauptursache: Einkommensverschlechterung. Ein Drittel unserer Klienten rutscht in Überschuldung, weil es den Job verloren hat oder weniger Geld verdient als zuvor. Oder die Betroffenen haben sich während der Zeit ihrer Selbstständigkeit hohe finanzielle Risiken aufgebürdet. Arbeitslose und Selbstständige sind also die klassischen Risikogruppen.
profil: Von welchen Berufen konkret sprechen wir?
Sell: Typisch wäre das Gastgewerbe, etwa kleine Restaurantbetreiber oder Hilfsköche. Diese Jobs hat es gerade monatelang nicht gegeben; die Mitarbeiter sind zumeist gekündigt worden. Heute können sie die Fixkosten nicht mehr bezahlen, etwa die Mieten für ihre Wohnungen. Oder es wachsen ihnen alte Schulden über den Kopf, die sie früher ganz regulär bedienen konnten. Derartige Fälle hat es immer schon gegeben. Während der Corona-Krise taucht aber darüber hinaus auch eine neue Klientel bei uns auf.
profil: Die wäre?
Sell: Ein anderer Typ von Selbstständigen, die Kunst- und Kulturschaffenden, sind bisher kaum zur Schuldnerberatung gekommen. Heute aber haben sie keine Aufträge oder Auftritte mehr; dazu sind die Corona-Hilfen für diese Leute sehr schleppend angelaufen. Und nochmals eine andere Schicht, mit der wir erst seit Neuestem zu tun haben, sind mittelständische Haushalte. Das sind beispielsweise zwei Personen in einem Haushalt, beide in Kurzarbeit. Die Fixkosten sind hoch, weil das Paar in einer teuren Wohnung lebt und ein Leasing-Auto abbezahlen muss. Solche Klienten gab es bisher bei uns nicht.
"Viel Werbung müssen wir nicht machen"
profil: Wie hoch sind die Schulden?
Sell: Über alle Klienten hinweg: durchschnittlich 60.000 Euro bei zehn unterschiedlichen Gläubigern.
profil: Und wie finden die Schuldner ihren Weg zu Ihnen?
Sell: Na ja, viel Werbung müssen wir nicht machen. Manchmal gibt der Gerichtsvollzieher den Hinweis, man möge sich an uns wenden. Oder es läuft über Mundpropaganda.
profil: Das sind doch sicher schwierige Situationen, nicht nur in ökonomischer Hinsicht, auch in psychischer. Sie sitzen Leuten gegenüber, die oft mit ihren Nerven am Ende sind. Wie gehen Sie damit um?
Sell: Stimmt, viele Leute sind schwer angeschlagen. Sie sehen nur noch den Gerichtsvollzieher, die Inkassobüros, die Hunderten Briefe, die ständig ins Haus flattern. Bei jeder neuen Arbeit, die sie beginnen, kommt nach zwei Tagen sofort die Lohnpfändung. Viele unserer Mitarbeiter sind deshalb ausgebildete Sozialarbeiter, die mit derartigen Situationen gut umgehen können. Oft erlebe ich aber auch, dass die Klienten nach ihrem Erstgespräch bei uns neue Hoffnung schöpfen. Vielen können wir nämlich eine Perspektive geben: Mittels Privatkonkurs können sie nach einigen Jahren schuldenfrei sein und von vorn beginnen. Bei ungefähr 90 Prozent unserer Klienten gibt es diesen Ausweg. Allerdings ist es beileibe kein Spaziergang. Es bedeutet ein Gerichtsverfahren über mehrere Monate und jahrelang am Existenzminimum zu leben. Aber es gibt eben das Zuckerl am Ende: von den Schulden befreit zu sein.
"Ein Problem ist, dass junge Leute zu leicht an Bankkredite kommen"
profil: In der öffentlichen Debatte zum Thema Schulden hört man oft von jungen Erwachsenen, die sich am Handy verzockt oder auf Amazon zu viel eingekauft haben.
Sell: Auch die gibt es. Aber nur bei ungefähr einem Fünftel unserer Klienten liegt die Hauptursache am falschen Umgang mit Geld. Allerdings steigt der Anteil der unter 30-Jährigen stark an; mittlerweile sind es 25 Prozent. Ein Problem ist, dass junge Leute zu leicht an Bankkredite kommen. Sogar mitten in der Corona-Krise haben heimische Banken damit geworben, wie schnell und unkompliziert man bei ihnen einen Kredit bekommt.
profil: Ich hätte Sie am Ende gern nach einem Tipp gefragt, wie man es vermeidet, in die Schuldenfalle zu tappen. Aber der wichtigste Faktor scheint einfach zu sein, einen Vollzeit-Job zu haben.
Sell: Das ist tatsächlich wesentlich. Wer vollzeitbeschäftigt ist, kann meist seine Fixkosten bezahlen, die Schulden, die Miete. Es gibt aber gute Tipps für Leute, die sich bereits in einer kritischen Lage befinden. Einer wäre, sofort mit den Gläubigern Kontakt aufzunehmen! Wenn zum Beispiel der Vermieter aufkreuzt, sollte man nicht den Kopf in den Sand stecken und einfach untertauchen, sondern gemeinsam nach Lösungen suchen, etwa eine Stundung anstreben. Empfehlenswert ist außerdem, immer mit 100 Euro Bargeld einkaufen zu gehen statt mit Kreditkarte. Und: Vorsicht beim Konto! Häufiger Kontoüberzug ist meist die Eintrittskarte in eine Überschuldung.