Das Corona-Jahr: Weniger Einbrüche, mehr Heimunfälle
profil: Herr Müller, in der Vorbereitung auf dieses Gespräch sind mir zwei sehr gegensätzliche Aussagen untergekommen. Die eine war: „Die Versicherungen kommen super durch die Corona-Krise, die wissen gar nicht, wohin mit dem Geld.“ Auf der anderen Seite liest man, dass die Branche durch die Pandemie schwer unter Druck steht. Was davon stimmt für die Wiener Städtische Versicherung?
Müller: Was das originäre Versicherungsgeschäft betrifft, sind wir wirklich sehr stabil durch dieses Jahr gekommen. Auf der anderen Seite sind Versicherungen auch Kapitalsammelstellen und damit natürlich sämtlichen Turbulenzen des Marktumfeldes ausgesetzt. Die starken Volatilitäten an den Finanzmärkten im März und April des vergangenen Jahres waren schon herausfordernd. Insofern stimmen tendenziell beide Aussagen für die Versicherungsbranche.
profil: Die Vienna Insurance Group, ihre Konzernmutter, hat kürzlich ihre Geschäftszahlen veröffentlicht. Diesen zufolge hat die VIG ein Drittel ihres Gewinns eingebüßt. Wie schaut es diesbezüglich bei der Städtischen aus?
Müller: Die Wiener Städtische als wichtiger Teil der Gruppe läuft eigentlich immer parallel. Auch wir haben im Bereich des Ergebnisses ein paar negative Effekte gesehen.
profil: Können Sie Zahlen nennen?
Müller: Das Drittel ist auch für die Wiener Städtische eine gute Einschätzung.
profil: Welche Versicherungsarten sind denn – im positiven wie im negativen Sinn – von der Corona-Krise besonders betroffen? Ich nehme an, alles, was mit Reise zu tun hat, war vergangenes Jahr nicht so der Renner.
Müller: Stimmt, in der klassischen Reisegepäckversicherung haben wir um 70 Prozent weniger Schäden, aber auch weniger Prämien eingenommen. Und weil die Menschen mehr zu Hause waren, haben wir auch rund zehn Prozent weniger Einbruchsschäden als sonst. Dafür sind sie im Bereich der Unfallversicherung gestiegen. Die Lockdowns wurden genutzt, um Renovierungen durchzuführen und das Wohnumfeld zu verbessern. Dabei sind einige Verletzungen passiert.
profil: Welche Entwicklungen konnten Sie noch beobachten?
Müller: In der Kfz-Sparte haben wir sehr deutlich gesehen, dass sich vor allem im ersten Lockdown die Schäden kurzfristig extrem reduziert haben. Auf den Straßen war kaum etwas los, dadurch sind naturgemäß weniger Unfälle passiert. In den Sommermonaten dagegen sind die Schäden über das sonst übliche Maß gestiegen, weil die Menschen offenbar häufiger als in früheren Jahren mit dem Auto in den Urlaub gefahren sind. Über das ganze Jahr betrachtet waren die Schäden in der Kfz-Versicherung jedoch leicht rückläufig.
profil: Dafür war vermutlich in Sachen Betriebsunterbrechungsversicherungen mehr zu tun.
Müller: Eine flächendeckende Betriebsunterbrechungsversicherung ist in einer Pandemie nicht versicherbar. Ich vergleiche das gern mit einem Flächenbrand. Wenn eine ganze Großstadt vom Feuer betroffen ist, kann die Feuerwehr auch nicht alle Häuser gleichzeitig löschen. Und der Versicherungsgedanke beruht darauf, dass viele Menschen in einen gemeinsamen Topf einzahlen, damit der eine, der den Schaden hat, aus diesem Topf bezahlt wird. Wenn das allerdings alle Einzahlenden gleichzeitig betrifft, ist das nicht versicherbar und deshalb auch in den Bedingungen nicht enthalten. Das muss man erklären, weil Kunden häufig erwarten würden, dass hier eine Leistung erfolgt.
profil: Stattdessen gab es für viele ein böses Erwachen.
Müller: Unsere Vertragsbedingungen sind diesbezüglich glasklar. Wir haben uns aber dennoch aufgrund dieser für Kunden schwierigen Situation entschlossen, sie nicht im Regen stehen zu lassen und haben gemeinsam mit anderen Versicherungen eine freiwillige Hilfe ins Leben gerufen. Wir sind davon ausgegangen, dass die Ersatzraten aus den staatlichen Maßnahmen für die betroffenen Betriebe rund 70 Prozent betragen, und von dem offenen Rest haben wir versucht, die Hälfte, also 15 Prozent, durch freiwillige Zahlungen abzufedern.
profil: In Deutschland hat eine Umfrage gezeigt, dass die Reputation der Versicherer während der Krise stark gelitten hat. Rund 40 Prozent der Kunden sagen, sie haben kein Vertrauen in die Branche. Bemerken Sie ein solches Misstrauen auch in Österreich?
Müller: Das ist sehr interessant, weil wir im Herbst, wie jedes Jahr, eine groß angelegte Kundenzufriedenheitsbefragung gemacht haben. Und da haben wir sogar eine Verbesserung gesehen. Ich kann das allgemeine Image der Versicherungen hier nicht quantifizieren, aber die Wiener Städtische wurde von den eigenen Kunden nach Schulnoten mit 1,5 bis 1,8 bewertet.
profil: Hat die Krise dazu geführt, dass sich die Menschen verstärkt mit Absicherungsfragen auseinandergesetzt haben?
Müller: Ja, das sehen wir. Insbesondere bei Versicherungen, die den Gesundheitsbereich betreffen. Es ist nicht überraschend, dass in einer Pandemie private Krankenversicherungen sehr gut laufen. Allerdings ist diese Sparte schon seit einigen Jahren der Hauptwachstumstreiber in der Versicherungsbranche, und dieser Trend hat sich verfestigt. Wir haben in diesem Markt ein Wachstum von vier Prozent. Wenn man das dem allgemeinen Wirtschaftswachstum gegenüberstellt, ist das schon ein sehr attraktives Segment.
profil: Zweifelsohne ist das ein wichtiges Geschäftsfeld für Sie, aber halten Sie persönlich diese Entwicklung in Richtung einer Zwei-Klassen-Medizin gesamtgesellschaftlich nicht für bedenklich?
Müller: Ich würde das nicht als Zwei-Klassen-Medizin sehen, denn man darf nicht vergessen: Die Kosten für medizinische Betreuung sind deutlich im Steigen begriffen. Wir haben eine alternde Gesellschaft, und ein Großteil der Kosten für Heilbehandlungen fällt im Alter an. Der Vorteil: Jährlich fließen rund 1,5 Milliarden Euro aus der privaten Krankenversicherung in das Gesundheitssystem. Das hilft am Ende allen.
profil: Und wie sieht es mit der privaten Altersvorsorge aus? Hat diese auch einen Auftrieb durch die Krise bekommen?
Müller: Das ist ein Segment, das leider nicht wächst. Das betrifft vor allem Lebensversicherungen mit laufender Prämie. Seit Jahren sehen wir hier einen leicht negativen Trend. Das ist sehr stark dem negativen Zinsumfeld und der Politik der Europäischen Zentralbank geschuldet. Zudem wird aktuell aus Gründen der Sicherheit sehr viel Geld auf Sparkonten gehortet. Die Sparquote ist extrem in die Höhe gegangen, aber bei langfristigen Veranlagungen sind die Leute eher zurückhaltend.
profil: Wie hat sich die Pandemie auf den Arbeitsalltag im Unternehmen ausgewirkt?
Müller: Der erste Lockdown war ein Testfall in Echtzeit, ob es möglich ist, das Geschäft von einem Tag auf den anderen von zu Hause aus zu betreiben und sämtliche Services und Dienstleistungen aufrechtzuerhalten. Obwohl 90 Prozent der Mitarbeiter im Homeoffice waren und nach wie vor sind, hat das sehr gut funktioniert. Allerdings waren ein paar Hundert Arbeitsplätze von knapp 4000 Mitarbeitern nicht für die Heimarbeit ausgestattet. Einige Zeit war es gar nicht so einfach, Laptops zu bekommen. Unser Hauptthema war aber, für die richtigen Leitungskapazitäten zu sorgen, sodass die Netzwerke auch belastbar sind. Die bedeutendsten Auswirkungen hat die Pandemie natürlich auf den Vertrieb, weil dieser weitgehend auf eine persönliche Kontaktaufnahme verzichten musste. Aber die Kollegen waren kreativ und haben Lösungen gefunden. Grundsätzlich spielt sich sehr vieles nun in der digitalen Welt ab. Wir haben beispielsweise einen Online-Geburtsvorbereitungskurs angeboten, der sehr gut angenommen wird. Die Krise hat tatsächlich für einen Digitalisierungsschub gesorgt.
profil: Vorvergangenes Wochenende wurden Sie noch mit einem weiteren Aspekt der Pandemie konfrontiert: Eines Ihrer Bürogebäude in Wien wurde von Corona-Leugnern gestürmt.
Müller: Ein Tor zum Innenhof wurde als Fluchtweg vor einem Polizeikessel gesehen und durchbrochen. Es war Zufall, dass sich das direkt vor unserer Landesdirektion abgespielt hat. Ein Wachdienstmitarbeiter wurde dabei leider verletzt und befindet sich mit einem offenen Schienbeinbruch in stationärer Behandlung. Zum Glück geht es ihm schon besser.
profil: Was halten Sie von dieser Form des Protests?
Müller: Ich glaube, das extreme Leid derer, die von einer Covid-Erkrankung stark getroffen sind, ist noch zu wenig bekannt. Sonst würden viele das anders sehen. Wir sollten mehr auf die Intensivmediziner hören, die sich da sehr klar zu Wort gemeldet haben. Die erleben das jeden Tag hautnah. Und diese Spaltung der Gesellschaft ist schon bedrohlich. Da schaukeln sich Meinungen auf und verfestigen sich. Insofern kann man nur hoffen, dass wir die Pandemie in den nächsten Monaten hinter uns bringen.