Das Lied vom Tod
Zwei alte Menschen stellen sich in ihrem Pariser Appartement der letzten Herausforderung ihres gemeinsamen Lebens: dem nahenden Tod. Wie geht man mit dem drastischen Verfall von Körper und Geist um? Was ist, ganz konkret, zu tun in den letzten Wochen und Tagen eines Lebens? Wer ist in der Lage, welche Verantwortung zu übernehmen? Und was bedeutet das eigentlich: Liebe? Was in den Händen schwächerer Erzähler augenblicklich zu Sozialkitsch oder künstlicher Melodramatik gerinnen würde, wird im Zugriff Michael Hanekes zu einem strengen Essay über die Möglichkeiten der Selbstlosigkeit, zu einem kristallklar argumentierten Manifest über Moral und Menschenwürde. Haneke hat aus einer alltäglichen Situation ein modellhaftes Trauerspiel von äußerstem Ebenmaß gefertigt:
In Amour stimmt jedes Wort, jede Geste, jeder Blick. Seine Dramaturgie ist zwingend, seine Intellektualität unbestreitbar. Amour ist so etwas wie der perfekte Film: eine kommerziell wirksame Arbeit von existenzieller Dimension in makelloser künstlerischer Gestalt.
Der weltweite Erfolg von Amour ist in Zeiten der Kinokrise und des technologischen Radikalumbruchs fast schon ein Anachronismus. Solche Filme gibt es, seit Ingmar Bergman tot ist, kaum noch. Haneke bewegt sich seit je fernab aller künstlerischen Moden, beschränkt seine Aufmerksamkeit ganz altmodisch auf ethisch und sozial relevante Stoffe. Der Aufklärer Michael Haneke hat sich konsequent von den Rändern der Autorenfilm-Avantgarde ins Innere der Weltkinokunst bewegt. Inzwischen ist der Österreicher, der aus einer Theaterfamilie stammt, nicht nur begehrter Stargast jedes großen Filmfestivals und vielfach ausgezeichneter Regisseur (im Mai dieses Jahres gewann er die Goldene Palme in Cannes, Anfang Dezember den Europäischen Filmpreis), sondern längst auch Vorbild für Legionen junger asiatischer und europäischer Filmemacher, die mit dem Kino Ernst machen und den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Dringlichkeit und souveräner Form betonen wollen. Michael Haneke ist vor allem eines: ein virtuoser Autor. Jeder seiner Filme entstehe eigentlich im Prozess des Schreibens, sagt er, der Rest sei nur noch Nachbearbeitung. Während des Drehens konkretisiert er, was er in seinem Kopf längst festgelegt und bis ins visuelle Detail fixiert hat. Die Präzision ist sein Fetisch.
Am 24. Februar 2013 wird es für den 70-jährigen Haneke und seine kongenialen Hauptdarsteller (Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva) noch einmal spannend: Gut möglich, dass Amour im Rahmen der Oscar-Gala nicht nur in der Kategorie Best Foreign Language Film aufscheinen wird, sondern auch in der Spitzenliga Best Picture. Hanekes Chancen stehen hervorragend. Das hohe Alter als Filmthema betrifft jedenfalls weite Teile der die Oscars vergebenden Academy in Hollywood ganz persönlich.