Der "Fall Pierer": Wie das Finanzministerium rechtswidrig intern ermittelte
Da war wohl einer zu weit gegangen. Oder zu nahe an jemanden rangekommen, je nachdem. In jedem Fall ließ die Spitze des ÖVP-regierten Finanzministeriums (BMF) nichts anbrennen, damals, im Herbst 2017. Das Finanzressort stand unter der Führung von Bundesminister Hans Jörg Schelling, nunmehr Unternehmensberater; als Generalsekretär und Kabinettschef fungierte Thomas Schmid, Vertrauter von Sebastian Kurz, nunmehr Alleinvorstand der Staatsholding ÖBAG und einer der Beschuldigten in der Casinos-Affäre; die Sektion I, die so genannte Präsidialsektion, lag in den Händen von Sektionschef Eduard Müller, später Finanzminister der Übergangsregierung, nunmehr FMA-Vorstand. Diese drei Herren spielen in dieser Geschichte eine zentrale Rolle. Es ist die Geschichte einer letztlich erfolglosen Jagd auf einen Whistleblower, bei welcher das BMF rechtswidrig gegen die eigenen Beamten ermittelte – und sich einen kritischen Bescheid der Datenschutzbehörde einhandelte.
"Abschleicher"-Anfrage
29. September 2017: Der SPÖ-Nationalratsabgeordnete Jan Krainer bringt eine erste von zwei inhaltlich zusammenhängenden parlamentarischen Anfragen an den Finanzminister ein, die zweite folgt am 4. Oktober. Im Kern geht es um die Frage, wie Österreichs Finanzbehörden mit „Abschleichern“ umgehen: Tausende vermögende Österreicher, die kurz vor Inkrafttreten von Steuerabkommen mit der Schweiz (2013) und Liechtenstein (2014) mehr als drei Milliarden Euro von Banken in beiden Ländern auf österreichische Konten transferieren haben lassen. Krainer nennt just einen Namen: Stefan Pierer, Industrieller, KTM-Aktionär und ÖVP-Großspender. Pierer hat der ÖVP im Wahlkampf 436.563 Euro gespendet, er ist ein bedeutender Förderer der Türkisen (auf Augenhöhe mit Unternehmer Klaus Ortner und Milliardärin Heidi Horten). Laut Krainer steht Pierer mit anderen Leuten auf einer „Abschleicher-Liste“ des BMF. Die Angaben sind so präzise, dass sie nur aus Pierers Steuerakt stammen können.
profil veröffentlicht am darauffolgenden Samstag, 8.00 Uhr, eine Vorabmeldung zu Krainers erster Anfrage; um 14.44 Uhr meldet sich Minister Schelling via WhatsApp bei seinem Generalsekretär und Kabinettschef: „Wer hat Zugang zu den Kapitalzufluss-/Abflusskontrollen?“ Schmid antwortet: „Dass das von uns rausgeht ist eine Vermutung und ich glaube es NICHT …“ Darauf Schelling: „Eigentlich müssten wir sehen, wer das aufgerufen hat. Der Computer hinterlässt Spuren.“ (Quelle: die Chats von Thomas Schmid; profil berichtete ausführlich, zuletzt in der vorwöchigen Ausgabe Nr. 24/20)
Wie gemeinsame Recherchen von profil, „Der Standard“ und ORF-ZiB2 zeigen, markierte die samstägige Kommunikation den Auftakt zu einer großangelegten wie rechtlich problematischen Spurensuche im Finanzministerium durch das „Büro für Interne Angelegenheiten“, kurz BIA. Das BIA ist eine Organisationseinheit des BMF ohne polizeiliche Befugnisse. Es wird aktiviert, wenn Beamte im Verdacht stehen, Dienstpflichtverletzungen begangen zu haben. Die Aufklärung von Straftaten – wie die Verletzung des Amtsgeheimnisses nach Paragraf 310 des Strafgesetzbuches eine ist – fällt nicht in die Verantwortungsbereich des BIA, das ist die Aufgabe von Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden.
Ermittlungen ohne behördliche Untersuchungen
Laut dem Aktenmaterial, das den recherchierenden Medien vorliegt, legte das BIA seine Kompetenzen im „Fall Pierer“ sehr weit aus und ermittelte eigenmächtig, ohne behördliche Untersuchungen abzuwarten. Ganz so, als galt es, den Verräter noch vor dem Nationalratswahltag am 15. Oktober 2017 zu enttarnen. Das BIA wertete nicht nur „Log Files“ zahlreicher Finanzbeamter aus, es führte auch Einvernahmen Verdächtiger durch, bei zumindest einem Mitarbeiter erfolgte zudem ein „Gesamtscreening“, zumindest sieben Jahre zurück. Der Akt des Finanzministeriums umfasste schlussendlich rund 8000 Seiten, doch die undichte Stelle wurde nie gefunden.
2. Oktober 2017: Um 20.47 Uhr beauftragt Sektionschef Müller einen BIA-Teamleiter telefonisch mit einer „Analyse der Datenzugriffe auf die Steuernummer von Pierer“. Der Teamleiter bezeichnet die Erfolgschancen als „eher gering“, „da davon auszugehen ist, dass eine Unmenge von Datenzugriffen erfolgt sein werden, die vorerst mit hoher Wahrscheinlichkeit dienstlich veranlasst scheinen“. Doch der Fall hat für Müller „höchste Dringlichkeit“. Tags darauf hält er Liste mit den Namen dutzender Finanzbeamter in Händen.
Am 4. Oktober übermittelt Müller persönlich der WKStA eine Sachverhaltsdarstellung. Verdacht nach Paragraf 310 StGB, gerichtet gegen „unbekannte Täter“. Ab da liegt der Fall bei der Justiz. Am 9. Oktober tritt die WKStA den Akt mangels Zuständigkeit an die StA Wien ab. Am 23. Oktober beauftragt die StA Wien das Landeskriminalamt mit Ermittlungen, am 10. November reicht das LKA die Causa an das Bundesamt für Korruptionsbekämpfung weiter. Noch ehe die Behörden sich – wie so oft – auf eine Zuständigkeit verständigt haben, hat das BIA die Zahl der Verdächtigen bereits auf vier eingeschränkt, Vernehmungen durchgeführt und dazu umfassende Protokolle erstellt. Und das trotz Bedenken in den eigenen Reihen. Am 23. Oktober schreibt der BIA-Chef an Müller: „Hinsichtlich der weiteren Vorgangsweise würde ich dringend davon abraten, einzelne Ermittlungsschritte zu setzen, ohne diese mit der StA Wien abgesprochen zu haben.“ Diese „unkoordinierten Erhebungen“ würden nicht „der bisher gepflogenen Vorgansweise des BIA“ entsprechen.
Liste mit 147 Namen
Am 11. Dezember 2017 übermittelt das Finanzministerium dem eigentlich zuständigen Bundesamt für Korruptionsbekämpfung (BAK) einen Ermittlungsbericht. Auch dieser liegt vor. Und er belegt zweierlei. Erstens: Im Finanzministerium existierte 2017 tatsächlich eine auch intern so bezeichnete „Abschleicher-Liste“, auf welcher 147 Namen vermögender Österreicher standen, Pierer war einer von ihnen (dass er auf der Liste stand, besagt noch nichts, der Industrielle legt Wert auf die Feststellung, dass er seiner Steuerpflicht in Österreich stets vollumfänglich nachgekommen ist). Zweitens: Dem BIA war es selbst unter größter Kraftanstrengung nicht gelungen, die Datenweitergabe an den SPÖ-Abgeordneten Jan Krainer zweifelsfrei einer Person zuzuordnen.
Konsequenterweise führte auch das Ermittlungsverfahren der StA zu keinem Ergebnis.
Einer der vier zuletzt verdächtigten Finanzbeamten ließ sich das allerdings nicht gefallen und rief 2018 die im Justizministerium angesiedelte Datenschutzbehörde (DSB) an. Er brachte vor, dass das Ministerium überschießende Maßnahmen angeordnet und dabei den Datenschutz missachtet hatte. Die DSB gab dem Beschwerdeführer recht. Der Dienstgeber habe den Mitarbeiter, „im Recht auf Geheimhaltung verletzt, indem dieser personenbezogene Daten … zum Zwecke der Aufklärung des Verdachts der Begehung von Straftaten verwendet hat“, heißt es in einem rechtskräftigen Bescheid der DSB vom 26. November 2018. „Festzuhalten ist, dass eine Analyse von Protokolldaten mit dem Zweck, nicht nur die Rechtmäßigkeit von Datenzugriffen zu überprüfen, sondern nach bestimmten Mustern im Verhalten der Zugriffsberechtigten zu suchen, die Schlüsse auf anderweitig rechtswidriges Verhalten der Betroffenen (hier: Verdacht auf § 310 StGB) ermöglichen, den in § 14 Abs. 4 DSG 2000 umschriebenen rechtmäßigen Kontrollzweck überschreitet“ (Anm.: das alte Datenschutzgesetz wurde 2018 durch ein umfassend reformiertes ersetzt).
Was sagt der frühere Finanzminister Hans Jörg Schelling dazu? „Ich war bis Dezember 2017 Finanzminister und kann zu dem Bescheid nichts sagen“, so Schelling auf Anfrage vergangene Woche. Im Fall Pierer sei man jedenfalls nicht anders vorgegangen als bei anderen Leaks. Ähnlich formuliert es auch der frühere Sektionschef Eduard Müller in seiner schriftlichen Stellungnahme: „Derartige Verstöße gegen das Amtsgeheimnis bzw. Steuergeheimnis gab es zwar in der Finanz nicht oft, sie sind aber leider doch in größeren Abständen passiert. Und soweit ich mich erinnere, wurden auch immer entsprechende interne Ermittlungen durchgeführt und kam es gegebenenfalls auch zu Anzeigen an die Staatsanwaltschaft.“
Nach Darstellung des Finanzministeriums wurden auf Grundlage der Kapitalzuflussmeldungen Schweiz/Liechtenstein übrigens insgesamt rund 6100 Fälle im Volumen von 1,47 Milliarden Euro den Finanzämtern zur Überprüfung übermittelt. Das bisher erzielte „Mehrergebnis“ für den Fiskus: gerade einmal 66,3 Millionen Euro.