"Eine Börsennotiz ist kein Wunschkonzert"
Die ordentliche Hauptversammlung (HV): Das ist der Tag im Jahr, an dem Aktionärinnen und Aktionäre ihre Rechte ausüben: Reden, Fragen, Anträge, Beschlüsse, Abstimmungen. Eine Aktie, eine Stimme. Demokratie im Kleinen, bei börsennotierten Gesellschaften zumal.
Das Aktiengesetz schreibt Firmen vor, die Eigentümer jedenfalls einmal im Jahr physisch zur HV zu empfangen. Ab 2020 war das so nicht mehr möglich, die Pandemie ließ die HV ins Internet abwandern, die rein virtuelle HV entstand-auf Grundlage einer zeitlich befristeten Verordnung des Justizministeriums.
Doch nun formiert sich auf dem Kapitalmarkt eine Lobby, welche die Online-only-HV gerne ins Dauerrecht übernehmen würde. Künftig sollen die Firmen selbst entscheiden, ob sie Präsenzversammlungen zulassen oder nicht lieber doch nur ein großes Zoom-Meeting veranstalten.
Wie berichtet, warnt der Interessenverband für Anlegerschützer eindringlich vor der rein virtuellen HV. Die Erfahrungen seit 2020 seien "katastrophal": Älteren Investoren ohne digitale Affinität werde die Teilnahme faktisch verunmöglicht, die Antwortqualität habe gelitten, der Dialog mit dem Management sei weitgehend abgeschafft, ein Nachhaken aussichtslos geworden. Kurzum: Die rein digitale HV schwäche die Stellung der Kleinanleger.
Kürzlich wurde bekannt, dass der Investor Rupert-Heinrich Staller gerichtlich gegen die Vienna Insurance Group (VIG) vorgeht. Er ficht alle Beschlüsse der virtuellen VIG-HV vom 20. Mai an. Begründung: Die Versicherung hätte eine Präsenzveranstaltung einberufen müssen-das VIG-Management nennt die Klage "unbegründet".
Mit ihren Anliegen sind die Anlegerschützer nicht allein. Ein prononcierter Kritiker der virtuellen HV ist Heimo Scheuch, Vorstandschef des börsennotierten Baustoffkonzerns Wienerberger, zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Wiener Börse.
Hier geht es um demokratische Grundrechte in der Hauptversammlung. Das Rederecht, das Fragerecht, das Beschlussrecht et cetera. Wenn man das nicht anerkennt, hat man meines Erachtens keinen Platz im Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft.
profil: Herr Scheuch, im Vorfeld der diesjährigen Wienerberger-HV Anfang Mai haben Sie den Aktionären einen Brief geschrieben, in welchem Sie bedauerten, die Hauptversammlung pandemiebedingt ein weiteres Mal virtuell abhalten zu müssen. Das bliebe die absolute Ausnahme, eine Übernahme ins Dauerrecht lehne das Management von Wienerberger grundsätzlich ab. Warum?
Scheuch: Die virtuelle Hauptversammlung war in der Pandemie ein guter Weg, um in geregelter Art und Weise miteinander zu kommunizieren. In den bald drei Jahren ist das den Umständen entsprechend ordentlich gelaufen. Wir haben uns im Vorstand aber intensiv mit dem virtuellen HV-Format beschäftigt und sind zu der Erkenntnis gelangt, dass sich die Präsenzhauptversammlung außerordentlich bewährt hat. Der so wichtige Austausch mit den Aktionären muss ohne Zwang zur digitalen Teilnahme möglich sein.
profil: Das sieht offenbar nicht jeder so. Der eine oder andere Vorstandsdirektor soll bereits großen Gefallen daran finden, Hauptversammlungen nur noch virtuell abzuführen. Weil es weniger kostet und weil man vorlaute Kleinanlegervertreter umstandslos stummschalten kann.
Scheuch: Hier geht es um demokratische Grundrechte in der Hauptversammlung. Das Rederecht, das Fragerecht, das Beschlussrecht et cetera. Wenn man das nicht anerkennt, hat man meines Erachtens keinen Platz im Vorstand einer börsennotierten Gesellschaft.
profil: Österreichs große börsennotierte Gesellschaften werden fast ausnahmslos von einigen wenigen Aktionärsgruppen oder-syndikaten kontrolliert
Scheuch: wobei Wienerberger hier in einer Sondersituation ist. Wir sind die einzige wirkliche Publikumsgesellschaft im ATX und haben zugleich einen hohen Anteil an internationalen Investoren, größtenteils institutionelle. Um die Institutionellen muss man sich auch keine Sorgen machen. Mit diesen ist man ohnehin laufend in Kontakt, die sind perfekt informiert. Große, professionelle Investoren haben Möglichkeiten, die Kleinaktionäre nicht haben. Diese können nicht mal eben so eine Stunde mit dem Vorstand verbringen. Daher ist es für uns Publikumsgesellschaften sehr wichtig, diesen Dialog in der Hauptversammlung zu führen. Bei Gesellschaften mit Kernaktionären mag der Hang zum freien Kapitalismus ein geringerer sein. Da sieht man die Betreuung von Kleinanlegern vielleicht mehr als lästige Pflicht. Dann stellt sich allerdings schon die Frage, warum man überhaupt an der Börse ist.
profil: Jedenfalls auch, um gegebenenfalls Anlegergelder einzusammeln.
Scheuch: Eine Börsennotiz ist kein Wunschkonzert. Sie können nicht das eine ohne das andere wollen. Als Aufsichtsratsvorsitzender der Wiener Börse AG wird man ja hoffentlich nicht von mir erwarten, dass ich ernsthaft darüber diskutierte, die Grundrechte von Anlegern zu beschneiden. Mir geht es ganz im Gegenteil um Transparenz und Kontrolle. Macht braucht Kontrolle, und dafür gibt es die Hauptversammlung. Bei Wienerberger hat jeder Aktionär das Recht, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, selbst wenn er nur eine Aktie hat. Wenn ich das nicht ernst nehme, nehme ich auch die Demokratie nicht ernst.
Da würde ich nicht mitmachen. Und auch viele Kleinanleger würden da nicht mehr mitmachen. Die stünden dann zu Recht vor der Frage, warum sie noch in österreichische Aktien investieren sollen.
profil: Um die virtuelle Hauptversammlung ins Dauerrecht zu übernehmen, müsste zunächst das Aktiengesetz angepasst werden. Gibt es dazu im Justizministerium Bewegung?
Scheuch: Das weiß ich nicht. Für heuer rechne ich allerdings mit keiner gesetzlichen Initiative. Der Gesetzgeber hat es sich leicht gemacht und die entsprechende Covid-19-Verordnung bis zum Jahresende verlängert. (Anm.: Die ursprüngliche Ausnahme-Verordnung wäre am 30. Juni ausgelaufen.) Für heuer hat sich das Thema also erledigt. Schön wäre es übrigens, wenn man den weiteren Prozess transparent gestalten würde.
profil: Die künftige Ausgestaltung der Hauptversammlung wäre jedenfalls kein Minderheitenrecht. Am Ende läge die Entscheidung beim jeweiligen Vorstand, der wiederum in Absprache mit allfälligen Kernaktionären agiert, die ihre Rechte auch ganz gut ohne Hauptversammlung wahren können.
Scheuch: Da würde ich nicht mitmachen. Und auch viele Kleinanleger würden da nicht mehr mitmachen. Die stünden dann zu Recht vor der Frage, warum sie noch in österreichische Aktien investieren sollen
Wir reden eh schon immer weniger miteinander und wickeln die Dinge zunehmend digital ab. Da erscheint es nur noch wichtiger, dass man sich wenigstens ein Mal im Jahr persönlich austauscht.
profil: Nun hat eine virtuelle Hauptversammlung ja nicht bloß Nachteile, und sei es nur, dass man sich als Teilnehmer eine lange Anreise erspart. Es kommt nur darauf an, was man mit dem Format macht.
Scheuch: Der eine nimmt lieber virtuell teil, der andere geht lieber hin. Wichtig ist, dass die Rechte gewahrt bleiben. Und da hat sich die Präsenzhauptversammlung bestens bewährt.
profil: Die Digitalisierung bahnt sich ihren Weg.
Scheuch: Wir reden eh schon immer weniger miteinander und wickeln die Dinge zunehmend digital ab. Da erscheint es nur noch wichtiger, dass man sich wenigstens ein Mal im Jahr persönlich austauscht. Ich bin zwar überzeugt davon, dass die Hauptversammlung an sich modernisiert werden muss, aber nicht, indem sie künftig nur noch virtuell stattfindet.
profil: Sondern?
Scheuch: Wir müssen darüber nachdenken, die Abläufe effizienter zu gestalten. Da sehe ich wirklich Handlungsbedarf. Hauptversammlungen folgen auch im Jahr 2022 alten Ritualen. Da gibt es Formalitäten, die teils ins 19. Jahrhundert zurückreichen, also in eine Zeit, wo die Alphabetisierung nicht so weit fortgeschritten war. Deshalb wird in Hauptversammlungen nach wie vor sehr viel Zeit auf das Vorlesen verwendet. Bei einer HV sitzt man als Vorstand da und liest den Leuten stundenlang Texte vor, die sie natürlich selbst auch lesen könnten. Aber der Gesetzgeber will das so.
profil: Auf diesem Weg lassen sich schlechte Nachrichten allerdings auch ungleich besser transportieren. Wenn Vorstandsdirektoren in einem abgedunkelten Saal mittels endloser Folienpräsentationen stundenlang monoton über ihren jeweiligen Verantwortungsbereich referieren, sind am Ende auch die härtesten Kleinanleger platt.
Scheuch: Ein Aktionär sollte nicht zu einer Hauptversammlung gehen, um sich lange Reden anhören zu müssen. Er soll die Gelegenheit haben, Fragen zu stellen, Anträge zu formulieren und schließlich seine Stimme abzugeben. Der Austausch mit den Aktionären kann sehr produktiv sein, man muss sich nur darauf einlassen.
Der Jurist HEIMO SCHEUCH steht seit 2009 an der Spitze der Wienerberger AG.