„Ich muss schon froh sein, wenn ich überlebe“
Von Max Miller
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Oft braucht Wolfgang Studeny keine Hausnummer, um die Häuser seiner Klientinnen und Klienten zu erkennen. Blättert die Fassade ab, ist der Vorgarten verwildert oder sind die Fensterrahmen so morsch, dass man die Löcher schon von außen sieht, ist der Energiesparberater der Caritas meist an der richtigen Adresse. Wer am Monatsende kein Geld fürs Essen hat, kann sich selbst kleinere Reparaturen nicht leisten. Oder hat häufig einen Vermieter, der das Haus lange aufgegeben hat.
An diesem Sommertag ist das anders. Rund eine halbe Stunde lang sucht der Energiesparberater Studeny die Adresse seiner Klientin in einer kleinen Gemeinde in Niederösterreich, in der die Häuser noch nach Baujahr nummeriert sind. Schließlich bittet er einen jungen Mann um Hilfe, der in der Einfahrt eines kleinen, gepflegten Einfamilienhauses sein Auto wäscht. Rasen und Hecke des Grundstücks sind getrimmt, im Garten trottet eine Schildkröte umher, nichts deutet von außen auf Armut hin. Und doch ist der Caritas-Berater hier richtig.
Armut hat viele Gesichter. In Österreich galten im Vorjahr 336.000 Personen als „erheblich materiell depriviert“. Sie haben ein so geringes Einkommen, dass sie sich wesentliche Lebensbereiche nicht mehr leisten können – etwa ein Auto zu besitzen, abgenutzte Kleidung zu ersetzen oder die Wohnung warm zu halten. Energiekrise und Teuerung drängten viele Menschen in die Armut: 2022 galten noch 2,3 Prozent der Bevölkerung als erheblich materiell depriviert. 2023 stieg der Anteil laut Statistik Austria auf 3,7 Prozent – oder eben 336.000 Menschen.
Wolfgang Studeny sieht die Folgen täglich: Wer von der ORF-Abgabe befreit ist, Heizkostenzuschuss, Sozialhilfe, Ausgleichzulage oder Wohnbeihilfe erhält, hat Anspruch auf eine kostenlose Energiesparberatung. Im niederösterreichischen Waldviertel fährt dann Studeny zu der Klientin oder dem Klienten und bespricht, wie die Energiekosten wieder sinken können. Fallen ihm dabei energiefressende oder kaputte Elektrogeräte auf, können bis zu zwei Stück für die Betroffenen kostenlos getauscht werden.
Die alten Kühlschränke, Gefriertruhen, Geschirrspüler, Waschmaschinen oder Herde werden entsorgt – und auf Kosten des Klima- und Energiefonds des Klimaschutzministeriums neue Geräte installiert. Seit Februar 2023 fanden so in ganz Österreich 7239 Energiesparberatungen statt, 9574 Geräte wurden getauscht.
Energiekosten als Armutsfalle
Ein neues Elektrogerät könnte sich sonst kaum ein Haushalt leisten, den Studeny besucht. So auch im hübschen Haus in Niederösterreich. Sandra G. (Name von der Redaktion geändert) und ihre beiden Söhne (21 und 19) kämpfen mit den Stromkosten: Weil auch das Wasser mit Strom beheizt wird, beträgt ihre Stromrechnung rund 300 Euro im Monat. „Das hatte ich früher im Quartal“, sagt die Mutter. „Wie soll ich das bezahlen? Das Geld habe ich nicht.“ Vor einigen Monaten wurde ihr Bankkonto gehackt. Für die Betrüger ein fruchtloses Verbrechen: Sandra hatte drei Euro am Konto und kann nicht ins Minus gehen. Der Kommentar ihres Bankberaters? „Sie haben Glück, dass Sie nichts haben!“, erzählt Sandra und lacht herzlich.
Fünfeinhalb Jahre lang war die 43-Jährige in einer Reinigungsfirma tätig. Als sie im März auf Reha war, sei sie per WhatsApp-Nachricht gekündigt worden, erzählt sie. Seitdem erhält sie rund 1000 Euro Krankengeld und Mindestsicherung im Monat. Der jüngere Sohn verdient in einer Fortbildung rund 450 Euro – und der ältere im Zivildienst ungefähr 600. 2000 Euro stehen also der dreiköpfigen Familie so insgesamt monatlich zur Verfügung. Liegt das Einkommen eines Haushalts mit drei Erwachsenen unter 3144 Euro monatlich, gilt dieser als in Österreich armutsgefährdet.
Sandra hat selbst weder Auto noch Führerschein. Als sie noch arbeiten ging, nahm ihr älterer Sohn Sandra in der Früh in die Arbeit mit, am Abend wartete sie auf den Bus, der vier Mal am Tag in der Gemeinde Halt macht. Die Miete für das 200 Quadratmeter große Haus kostet trotzdem 1000 Euro im Monat. „Wir hatten Zeiten, da war am 20. Tag des Monats das Geld aus“, erzählt die alleinerziehende Mutter. Je näher das Monatsende kam, desto weniger aßen sie und ihre beiden Söhne. Weil der Warmwasserspeicher in einem Kinderzimmer im ausgebauten Dachboden zu klein für drei Personen ist, duscht Sandra als Dritte meist kalt.
Unterstützung mit Ablaufdatum
Die letzte Jahresabrechnung konnte die Familie dennoch nicht bezahlen. Drei Wochen vor ihrem Termin mit Energiesparberater Studeny hätte der Familie der Strom abgedreht werden sollen. Der Wohnschirm Energie übernahm die Kosten in letzter Sekunde. Energiesparberater Studeny empfiehlt ihr, den Energielieferanten zu wechseln. Andere Anbieter in der Region würden Strom deutlich günstiger liefern – denn im neuen Jahr wird der Wohnschirm wohl nicht mehr einspringen.
Seit März 2022 bewahrt der Wohnschirm des Sozialministeriums Menschen mit geringem Einkommen vor Delogierungen, indem Mietrückstände übernommen werden. Bisher konnten so 22.932 Personen ihre bestehende Wohnung behalten, 2799 weiteren Menschen wurde der Umzug in eine neue, leistbare Wohnung ermöglicht. Seit Jänner 2023 unterstützt der Wohnschirm auch bei offenen Energierechnungen. So wurde bisher laut Sozialministerium 28.369 Haushalten geholfen.
Weil die Kosten von Strom und Gas in den letzten Monaten zurückgegangen sind, wird der Wohnschirm Energie derzeit aber überarbeitet. Ab dem neuen Jahr soll er nur noch verhindern, dass Menschen aufgrund ihrer Energiekosten delogiert werden. Vor der reinen Stromabschaltung durch den Energieanbieter schützt er dann wohl nicht mehr. Gleichzeitig läuft die Stromkostenbremse aus. Wer einen teuren Stromvertrag hat, zahlt folglich mit einem Schlag mehr – und verliert gleichzeitig das Sicherheitsnetz des Wohnschirms.
Teurer Wohnen
Am selben Tag wird Studeny noch eine zweite alleinerziehende Mutter besuchen. Als sie 2017 mit ihrer Tochter in ihre 70 Quadratmeter große Neubauwohnung am Rand von Krems gezogen ist, zahlte sie rund 700 Euro Miete im Monat. Mittlerweile sind es über 1000 Euro. Dass Studeny ihre Waschmaschine und Gefrierkombi kostenlos tauscht, ist für die Mutter „wie Weihnachten und Geburtstag zusammen“. Denn ihre Vermieter zeigen wenig Verständnis: Ist die Wohnung zu teuer, könne sie ja ausziehen – oder seltener auf Urlaub fahren, sei ihr geraten worden. Aber selbst für einen Umzug fehlt das Geld.
18,7 Prozent der österreichischen Haushalte geben in einer Befragung der Statistik Austria an, dass die Wohnkosten eine schwere Belastung darstellen. Zwischen 2010 und 2023 stiegen die Nettomieten in privaten Mietwohnungen im Schnitt um 73 Prozent, rechnet die Volkshilfe vor. „Wohnen ist eine Grundbedingung, aber kaum noch leistbar“, sagt Jeremias Staudinger, Sozialpolitikexperte der Volkshilfe. Die Hälfte der Befragten fürchtet, dass sie sich in Zukunft das Wohnen nicht mehr leisten können wird, zeigt eine Umfrage des Meinungsinstituts Foresight im Auftrag der Volkshilfe. Bei Haushalten mit einem Einkommen unter 1500 Euro im Monat haben 72 Prozent diese Sorge.
„Im Alter in Armut in einer angemessen guten Wohnung zu leben, ist leider nicht selbstverständlich“, sagt Magdalena Holztrattner von Kolping Österreich – für Frauen noch weniger. Immer noch haben Frauen im Schnitt ein geringeres Erwerbseinkommen, erben statistisch weniger und sorgen sich stärker um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige. All das sorgt dafür, dass Frauen öfter von Armut und Wohnungsnot betroffen sind.
Versteckte Gefahr
Nicht immer ist das von außen sichtbar. Auch wer ein Dach über dem Kopf hat, kann unter Wohnungsnot leiden, mit schweren Folgen, erklärt Holztrattner: „Eine feuchte, schimmlige Wohnung macht krank. Eine laute, überfüllte Wohnung ohne Rückzugsräume macht psychisch krank.“ Im untersten Einkommens-Fünftel ist der Anteil der an Depressionen erkrankten Menschen am höchsten.
Zurück ins Waldviertel: Von der Straße bis zu den Fenstern des kleinen, einstöckigen Hauses in Weikertschlag blühen rote Rosen. Eine braune Hündin und ein älterer Herr mit Hornbrille blicken heraus, als Energiesparberater Studeny sein Auto parkt. „Das ist Zita – wie die letzte Kaiserin“, stellt Maximilian C. seine Hündin noch vor sich selbst vor. Zita ist ein bayerischer Gebirgsschweißhund, drei Jahre jung und „noch sehr kindisch“, sagt Maximilian, wobei: „Jagdhunde sind sowieso die schmusigsten Hunde.“
Zumindest auf Zita trifft das zu. Die Hündin wedelt aufgeregt zwischen ihrem Herrchen und den Neuankömmlingen im engen Hauseingang hin und her. Alles Neue wird beschnuppert, Maximilians Hand auf der Suche nach Streicheleinheiten abgeschleckt. Erst auf seinen Befehl hin gibt Zita den Weg in Maximilians kleine Küche frei.
Die aufgestickten Initialen „M.C.“ auf seinem hellblauen Hemd zeugen von Maximilians Leben vor der Armut. Als Kunsthändler mit Fokus auf Altmeister-Gemälde habe er auf über 250 Messen ausgestellt, darunter im Wiener Palais Ferstel oder der Hofburg, erzählt der 65-Jährige. Dann kam der Krebs und mit ihm die Depression. Heute stehen Maximilian monatlich 1155 Euro an Invaliditätspension zur Verfügung. „Ich erledige alles, was ich kann. Aber irgendwann stoße ich an meine Grenzen“, sagt er mit Blick auf das schmutzige Geschirr in der Spüle: „Dann ist keine Kraft mehr da.“
Maximilian hat Glück, dass er nur 150 Euro Betriebskostenanteil zahlen muss. Das 65 Quadratmeter kleine Haus gehört ehemaligen Kunden, keinen Immobilienhaien, die Mietkosten stiegen in den vergangenen Jahren kaum. Ganz anders bei der Heizung: Schon jetzt sorgt sich Maximilian vor den kalten Monaten, denn der Ofen im bald 200 Jahre alten Haus wird mit Öl beheizt. Zuletzt habe er rund 1,50 Euro pro Liter Heizöl bezahlt, erzählt der Pensionist. Vor dem Ukrainekrieg lag der Preis stets deutlich unter einem Euro pro Liter. Wenn es richtig kalt wird, wärmt sich Maximilian daher am liebsten mit seiner Hündin Zita unter einer dicken Decke. Trotzdem erwartet er dieses Jahr Heizkosten von über 1500 Euro.
Warme Wohnung statt Jacuzzi
„Ich spare überall“, sagt der 65-Jährige. Die Waschmaschine läuft nur einmal pro Woche, einen Raum des kleinen Hauses nutzt Maximilian nicht mehr. Die Stromkosten konnte er im letzten Jahr auf 185 Euro im Quartal senken – nicht nur gewollt: In den Boden des Backrohrs hat Rost ein daumengroßes Loch gefressen. Das sichtlich jahrzehntealte Gerät zu reparieren, ist sinnlos. Und: „Vor zwei Jahren hat der Geschirrspüler noch funktioniert.“ Ein neues Gerät zu kaufen, war keine Option. „Dazu bin ich finanziell nicht mehr in der Lage. Ich muss schon froh sein, wenn ich überlebe.“
„Irgendwann kann man nichts mehr einsparen“, sagt Clara Moder. Die Referentin für Arbeitsmarkt und sozialpolitische Grundlagen bei „arbeit plus“ arbeitete am Vorschlag der Armutskonferenz gegen Energiearmut mit: eine Energiegrundsicherung, die allen Haushalten ein gewisses Grundenergiekontingent zur Verfügung stellt. Alles über diesen Grundbetrag wird dann progressiv besteuert. „Jeder hat ein Recht auf eine warme Wohnung, aber niemand hat das Recht auf einen Jacuzzi auf der Dachterrasse“, erklärt Moder.
Eine derartige Energiegrundsicherung findet sich auch im Wahlprogramm der Grünen. Mit der Volkspartei ließ sie sich aber nicht durchsetzen, im Gegenteil: Diese Woche scheiterte die türkis-grüne Regierung sogar am „Energiearmuts-Definitions-Gesetz“. Dieses sollte unter anderem die Statistik Austria verpflichten, die Energiearmut in Österreich regelmäßig zu erheben, hängt aber am Elektrizititätswirtschafts-Gesetz (ElWG). Seit Februar liegen die Gesetzesentwürfe des Klimaschutzministeriums vor, doch auch in der letzten Sitzung vor der Nationalratswahl kam es zu keinem Beschluss. „Die Blockade der ÖVP verhindert effektive und vor allem gezielte Hilfs- und Präventionsmaßnahmen für Menschen, die Probleme mit Energiekosten haben“, ärgert sich Grünen-Verhandler Lukas Hammer. Aus Sicht der ÖVP sind die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen.
Energiesparberater Wolfgang Studeny konnte in Weikertschlag dennoch helfen: Ein neuer Backofen und Geschirrspüler stehen mittlerweile in der kleinen Küche. Maximilian C. hat einen Rechnungsbeleg für die Garantie erhalten, die Kosten für Küchengeräte und Installation trägt zuerst die Caritas, dann das Klimaschutzministerium. „Die neuen Geräte helfen mir nicht nur beim Kochen“, sagt der ehemalige Kunsthändler: „Das hilft mir auch psychisch.“
Max Miller
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.