Engpässe beim Corona-Impfstoff: Sollen Patente freigegeben werden?
Was im Jahr 2020 geschah, kommt nur einmal alle paar Generationen vor. Die ganze Welt laborierte an ein und demselben Problem. In Paris, Frankreich, durfte man nur unweit der eigenen Wohnung spazieren gehen. In Dakar, Senegal, herrschten nächtliche Ausgangssperren. In Mumbai, Indien, durften Geschäfte nur auf jeweils einer Straßenseite offen haben, die alle paar Tage wechselte.
Heute scheint das Schlimmste überstanden zu sein. Aber: nur in einer der drei Städte. Denn lediglich der reiche Westen konnte sich bisher ausreichend Impfstoff sichern, um zu einem einigermaßen normalen Leben zurückzukehren. In ärmeren Weltgegenden hingegen herrscht nach wie vor Katastrophenstimmung und Ausnahmezustand. Während es sich in Paris heute wieder flanieren lässt, während in Staaten wie Österreich inzwischen selbst Junge und Gesunde zum Corona-Stich vorgelassen werden, ist im Karibikstaat Haiti noch kein einziger Bewohner geimpft. Und auch sonst überall fallen die Entwicklungsländer weit zurück.
Das muss nicht so sein, sagt eine immer größere Riege internationaler Politiker und anderer Akteure. Vom US-Präsidenten Joe Biden bis zum EU-Parlament in Brüssel, von Indiens Premier Narendra Modi bis zur UN-Weltgesundheitsorganisation WHO. Sie alle behaupten, es gebe eine Möglichkeit der Pandemiebekämpfung, von der bisher kein Gebrauch gemacht worden ist: die vorübergehende Aussetzung von Patenten und sonstigen Rechten des geistigen Eigentums auf Covid-19-Impfstoffe und andere Medikamente und Geräte im Zusammenhang mit Corona. Dadurch, glauben die Befürworter, könnten rasch mehr Impfstoffe produziert werden, vor allem für arme Staaten.
Der Vorschlag hat aber auch Gegner. Zuvorderst jene, welche die bisherigen Impfungen federführend entwickelt haben. „Das ist keine Lösung“, lehnte etwa vor einigen Wochen Uğur Şahin, Gründer und Vorstandschef des deutschen Unternehmens BioNTech in Mainz, eine Aussetzung der Patentrechte kategorisch ab.
Stimmt’s? Jedenfalls steckt der Großteil der Welt noch immer viel tiefer in der Pandemie, als es in Österreich den Anschein hat. WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus, ein Äthiopier, nennt es ein „katastrophales moralisches Versagen“, dass der globale Süden bei Impfungen derart zurückbleibt. Erzürnte Intellektuelle in Entwicklungsländern klagen über „Impfstoff-Apartheid“. Ausgerechnet der globale Kampf gegen die Pandemie – von dem man meinen könnte, er schweiße als allseits geteilte Erfahrung die Welt mehr zusammen als bisher – offenbart heute beinhart das Machtgefälle zwischen dem Westen und dem Rest der Welt.
Ausbleibende Impfungen gehen uns alle etwas an
Dass in fernen Ländern Impfungen ausbleiben, trifft auch unmittelbar die Bewohner des Westens – es geht uns, wenn man so will, alle an. Nicht nur sind Handelsrouten unterbrochen, gelten aufgrund anhaltender Lieferengpässe weiterhin Einschränkungen und bleibt die Weltwirtschaft krisenanfällig, weil die Erholung in vielen Ländern nicht beginnen kann. Mediziner warnen auch vor einem schwerwiegenden gesundheitlichen Problem. Unter den ungeimpften Massen in weiten Teilen des Globus können sich nämlich Virus-Mutationen ungehindert verbreiten – die dann wiederum auch im Westen für neuerliche Einschränkungen sorgen. Siehe Großbritannien: Dort mussten am vergangenen Montag Lockerungen zurückgenommen werden, wegen einer besonders ansteckenden Virus-Mutation indischen Ursprungs. Auch in Österreich sorgt die sogenannte Delta-Variante für zunehmende Besorgnis. „Keiner von uns wird vor dem Virus sicher sein, bis wir alle sicher sind“, so fasste UN-Generalsekretär António Guterres das Problem zusammen.
Der Fachbegriff für die Patentaussetzung, die all das lösen soll, lautet „Trips Waiver“. „Trips“, das ist ein Handelsabkommen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO), in dem Bereiche wie Urheber- und Patentrecht international geregelt sind. „Waiver“ heißt auf Englisch „Außerkraftsetzung“. Der Trips Waiver ist ein Vorschlag, der erstmals vergangenen Oktober aufkam: bei der WTO, vorgebracht von den Regierungen Indiens und Südafrikas. Man möge bestimmte Passagen des Trips-Abkommens außer Kraft setzen, „bis die Mehrheit der Weltbevölkerung eine Immunität entwickelt hat“, so die Regierungen. Sie legten genau dar, um welche Passagen es sich handeln soll. Verletzungen von Patentrechten und anderen Rechten des geistigen Eigentums betreffend pharmazeutische Produkte im Kampf gegen die Pandemie würden demnach nicht mehr gegen WTO-Regeln verstoßen. Deshalb wären beispielsweise ein Unternehmen, das Impfstoffe nachbaut und eine Regierung, die dies unterstützt und fördert, rechtlich auf der sicheren Seite.
Seither verhandelt man bei der WTO über den Waiver. Die Initiative hat mittlerweile viel Zulauf gewonnen. Mehr als hundert Staaten haben sich ihr angeschlossen. Zuletzt, Anfang Mai, sogar die mächtigen USA. Die US-Regierung glaube zwar „streng an den Schutz geistigen Eigentums“, so die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai per Aussendung. „Aber die außerordentlichen Umstände der Covid-19-Pandemie erfordern außerordentliche Maßnahmen.“
Die Riege der Gegner hingegen schrumpft. Da wären unter anderem Südkorea, Japan, die Schweiz – und die EU. Wobei ein genauerer Blick Risse in der Union offenbart. Regierungsvertreter aus Italien und Frankreich etwa haben sich positiv zum Waiver geäußert. Und auch Österreichs türkis-grüne Regierung – sonst in internationalen und europäischen Fragen ziemlich konservativ unterwegs – zeigt sich hier gewogen. Aus dem Büro des grünen Gesundheitsministers Wolfgang Mückstein heißt es gegenüber profil: „Zum Wohle der global vernetzten Welt müssen wir auch unkonventionelle Wege gehen. Die Aufhebung von Patenten kann so ein Weg sein.“ Bleibt in der EU einzig Deutschland als standhafter Gegner des Waivers. Außerdem die EU-Kommission, die zentrale EU-Behörde in Brüssel unter der Konservativen Ursula von der Leyen.
Die Pharma-Industrie als Gegner der Patentaussetzung
Der wichtigste Gegner der Patentaussetzung ist jedoch die internationale Pharma-Industrie. Deren Vertreter weisen regelmäßig zurück, dass der Waiver irgendwelche Vorteile bringen würde. Die Grundaussage: Das Problem sind nicht die Patente, sondern die Komplexität des Produktionsprozesses. „Die Herstellung des Impfstoffs ist kompliziert, die Qualität muss sichergestellt werden“, erklärte BioNTech-Gründer Şahin seine Ablehnung. In Österreich teilt Renée Gallo-Daniel, Präsidentin des Verbands der Impfmittelhersteller, die Sichtweise. „Die Aussetzung der Patente kann die Kapazitäten keinesfalls kurzfristig erhöhen“, sagt sie gegenüber profil. Die Schwierigkeiten, die zu Knappheiten führen würden, resultieren nämlich auch aus Engpässen bei vielen Ausgangsmaterialien, beispielsweise sogenannten Lipiden, die es zur Produktion der Impfungen braucht. „Man darf sich das nicht so vorstellen, dass an einem bestimmten Ort eine fertige Impfung erzeugt wird. Stattdessen sprechen wir von einer Kette von Produktionsstandorten. An einem Ort entsteht der Grundstoff, am nächsten wird er weiterverarbeitet, am dritten abgefüllt. So ein System lässt sich nicht leicht reproduzieren.“
Die Pharma-Vertreter rechtfertigen ihre Ablehnung aber nicht allein mit der Komplexität. Sie verweisen darauf, dass Unternehmen bereits heute ihr Wissen bereitwillig teilen – ganz regulär und unter Wahrung aller Rechte geistigen Eigentums. Tatsächlich gibt es Kooperationen, in deren Rahmen Pharma-Konzerne Lizenzen an andere Unternehmen vergeben, die dann ebenfalls Impfungen produzieren dürfen. Die folgenreichste dieser Partnerschaften ging ausgerechnet der meistkritisierte Impfstoffhersteller ein: AstraZeneca. Der britisch-schwedische Pharma-Konzern erteilte Mitte 2020 einem Hersteller in Indien – dem „Serum Institute of India“, der größten Impfstofffabrik weltweit, mit Sitz nahe Mumbai – die Erlaubnis, AstraZeneca-Impfstoff zu produzieren. Von Mumbai aus gehen seither massenhaft Vakzine an arme Staaten. Dass der globale Süden ein Stück vom Kuchen abbekommt, wenn auch ein kleines, verdankt sich überwiegend dem Deal zwischen AstraZeneca und dem indischen Serum Institute.
Doch Freiwilligkeit allein funktioniere nicht, entgegnen Kritiker. „Im Fall des Serum Institute ist eine Kooperation zustande gekommen, in vielen anderen haben Pharma-Konzerne das Potenzial zur Zusammenarbeit ungenutzt außen vor gelassen“, sagt Oliver Prausmüller, der sich an der Arbeiterkammer Wien mit globaler Impfungleichheit auseinandersetzt. Es gibt nämlich jede Menge Unternehmen, die – so behaupten sie zumindest – gern Corona-Impfungen produzieren würden und dazu auch in der Lage wären. Allein, sie dürfen nicht. Da wäre etwa das kanadische Pharma-Unternehmen Biolyse Pharma in Ontario. Vergeblich bemühte es sich um eine Lizenz des US-Herstellers Johnson & Johnson (J&J). „Biolyse hat das Potenzial, bis zu 50 Millionen Dosen jährlich zu produzieren (des J&J-Impfstoffs, Anm.)“, gab das Unternehmen in einer Aussendung im Mai bekannt. Allerdings habe J&J den Antrag auf Lizenztransfer „abgelehnt“. Für den Fall, dass es doch noch klappt, schließt Biolyse sogar Lieferverträge ab, zum Beispiel mit dem südamerikanischen Bolivien. Die Dosen an Bolivien werden geliefert, „sollte Biolyse die Erlaubnis zur Produktion und zum Export einer Covid-19-Impfung bekommen, sei es im Wege einer freiwilligen Lizenzvereinbarung oder im Wege einer Außerkraftsetzung geistiger Eigentumsrechte“.
Auch andere Unternehmen berichten davon, bei Patentinhabern abgeblitzt zu sein. Da wären etwa Incepta (aus Bangladesch), Getz Pharma (Pakistan) und Teva (Israel). Und das seien längst noch nicht alle, erklärt Marcus Bachmann von „Ärzte ohne Grenzen“ in Österreich. „Es gibt ein paar Dutzend Werke alleine im globalen Süden oder in Schwellenländern, die in der Lage wären, biologische Impfstoffe und Arzneimittel zu fertigen, oder zumindest kritische Teile davon.“ Bachmann, der einst selbst in der pharmazeutischen Industrie im Bereich Forschung und Entwicklung tätig war, kennt die Verhältnisse in armen Ländern aus eigener Anschauung, durch Auslandseinsätze von Simbabwe bis Kirgisistan. „Wichtig sind nicht nur ausreichend qualifiziertes Personal und die richtige Ausrüstung vor Ort, sondern auch verlässliche Gesundheitsbehörden, quasi das regulatorisch-administrative Umfeld“, sagt er. Eben dies finde sich aber durchaus. Beispielsweise in Südafrika, Tunesien, Ägypten und Senegal.
Bei allen Differenzen – in einer Frage sind sich Befürworter und Gegner des Trips Waiver einig: Unabhängig von der Patentaussetzung wäre es in jedem Fall enorm nützlich, würden internationale Pharma-Konzerne ihr Corona-Know-how willigen Partnerunternehmen aus aller Welt zu Verfügung stellen. „Wissenstransfer in Verbindung mit der Patentfreigabe, das wäre die Optimalvariante, um möglichst viele Impfungen erzeugen zu können“, sagt Bachmann. „Aber auch die Patentfreigabe allein würde die globale Impfstoffproduktion deutlich beschleunigen.“ Auf politischer Ebene laufen Bemühungen, die beiden Stränge – Wissenstransfer und Patentaussetzung – zusammenzuführen. So fordert beispielsweise Kathleen Van Brempt, eine sozialdemokratische EU-Parlamentsabgeordnete aus Belgien, nicht nur die Patentaussetzung, sondern darüber hinaus, dass künftige EU-Kaufverträge mit Pharma-Unternehmen neuartige Klauseln beinhalten sollen. Demnach sollen Unternehmen verpflichtet werden, ihre Technologie und ihr Wissen mit Entwicklungsstaaten zu teilen. „Bei einer Pandemie muss man alles tun, was nötig ist, um das Problem zu lösen“, sagt Van Brempt im EU-Magazin „Euractiv“.
Was ist nun das Fazit all dessen? Impfstoffproduktion ist, so viel steht fest, eine hochkomplexe Angelegenheit. Das Argument der Pharma-Industrie, dass Patente keine Rolle spielen, weil andere Hersteller mangels Wissen und Technologie gar keine Corona-Impfungen produzieren könnten (oder zumindest nicht so bald), hat durchaus eine gewisse Berechtigung. Aber: Ist es deshalb ausgemachte Sache, dass die Patentaussetzung nichts bringt? Dass null zusätzliche Impfungen erzeugt werden würden?
Vieles deutet darauf hin, dass das nicht der Fall ist. Produktionsstätten liegen brach, während die Pandemie vielerorts unvermindert weitertobt. Dass sie nicht laufen, beklagen nicht nur Politiker und Kenner der globalen Pharma-Industrie, sondern auch betroffene Unternehmen selbst. Die Aussage „Patentaussetzungen bringen nichts“ ist demnach eher falsch.