Ex-OMV-Direktor Roiss: „Wir haben längst kleine Austro-Oligarchen“
Gerhard Roiss hat den größten Teil seines Berufslebens in der Öl- und Gasbranche verbracht. Ab den 1990er-Jahren arbeitete er für die teilstaatliche OMV AG, ab 1997 war er Mitglied des Vorstands, zwischen 2011 und 2015 Generaldirektor. Seit seinem erzwungenen Abgang hat er sich beruflich neu orientiert – er investiert jetzt in Start-ups fernab fossiler Brennstoffe.
Der heute 69-jährige Linzer weiß viel über die Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas, er wollte nur nicht darüber reden. profil hatte schon Monate vor dem Überfall Putins auf die Ukraine versucht, Roiss für ein Interview zu gewinnen. Doch er lehnte ab – mit dem Hinweis, er sei erstens kein Revanchist und wolle zweitens mit Öl und Gas nichts mehr zu tun haben. Jetzt kam das Interview doch zustande. „Ich stand vor einigen Tagen beim Lichtermeer in Wien und hielt schweigend eine Kerze in der Hand“, erzählt Roiss. „Da habe ich beschlossen, nicht mehr schweigend darüber hinwegzusehen, dass Österreich und die OMV von einer Gruppe von Leuten, allesamt Putin-Versteher, gezielt in eine Abhängigkeit von Russland gelenkt wurde. Diese Leute haben ihre eigenen finanziellen Interessen über jede Moral gestellt.“
Das vorliegende Transkript wurde von Gerhard Roiss autorisiert.
profil: Herr Roiss, Österreich ist zu rund 80 Prozent von russischen Erdgasimporten abhängig. Das hat zunächst einmal damit zu tun, dass wir nicht genügend eigenes Gas fördern, um den Bedarf von zuletzt rund 8,5 Milliarden Kubikmetern im Jahr zu decken. Ist russisches Gas tatsächlich alternativlos?
Roiss: Mit Blick auf den Status heute: ja. Österreichs Gasverbrauch ist laufend gestiegen, die Eigenproduktion zurückgegangen. 2015 hatten wir noch rund 15 Prozent Inlandsanteil, heute sind es unter zehn Prozent. Ich wollte die Abhängigkeit von einem Lieferanten verringern. Die OMV ist ja immer noch ein teilstaatlicher Konzern und damit hat sie quasi einen Versorgungsauftrag für rund 800.000 vom Gas abhängige Haushalte und die Industrie. Wir waren auch auf einem vielversprechenden Weg. 2012 hatten wir im Schwarzen Meer vor Rumänien den größten Gasfund in der Geschichte der OMV verzeichnet.
profil: Das sogenannte Neptun-Gasfeld.
Roiss: Das war damals ein 50:50-Projekt mit Exxon, das nach meinem Abgang nie mehr über das Entwicklungsstadium hinauskam. Exxon stieg später aus, das Projekt ist bis heute nicht realisiert.
profil: Halten wir fest: Die OMV verfügt über eine große, nicht genutzte Gasreserve im Schwarzen Meer.
Roiss: Ja. Das Gasfeld ist so groß, dass man nicht nur Rumänien damit versorgen könnte. Meine Annahme war, dass wir mit Neptun künftig jährlich rund drei Milliarden Kubikmeter Gas nach Österreich liefern können. Das hätte etwa ein Drittel des Jahresbedarfs gedeckt. Natürlich nicht gleich vom Start weg, die Entwicklung hätte etwa fünf Jahre gedauert. Ein zweiter wichtiger Lieferant sollte Norwegen sein. Wir haben 2013 rund drei Milliarden Euro in die Hand genommen, um in Norwegen in bestehende und noch zu entwickelnde Öl- und Gasfelder zu investieren. Doch nach meinem Abgang 2015 wurde das norwegische Investment öffentlichkeitswirksam schlechtgeredet. Es hieß plötzlich: Die Kosten dort sind viel zu hoch, wir gehen jetzt nach Russland, da ist es billiger. Über die hohen Spannen in Norwegen redete übrigens kein Mensch. Heute erzielt die OMV in Norwegen vermutlich die zweithöchsten Vorsteuergewinne in ihrem Öl- und Gasgeschäft.
profil: Soweit ich mich erinnere, wollte Ihr Nachfolger Rainer Seele Teile des Norwegen-Geschäfts bald nach seinem Amtsantritt an Gazprom verkaufen.
Roiss: Die norwegische Regierung hat das glücklicherweise verhindert. Leider hat er damals dennoch ein großes Gasentwicklungsprojekt in der Nordsee an Dritte verkauft. Heute produzieren die norwegischen Gasfeld-Beteiligungen der OMV zusammen fast drei Milliarden Kubikmeter im Jahr – zu meiner Verwunderung fließt davon aber nichts zu uns. Das wird außerhalb von Österreich verkauft.
profil: Ich habe bei der OMV nachgefragt. Dort heißt es, das in Norwegen geförderte Gas komme nach Europa, wo hauptsächlich Deutschland, Belgien, die Niederlande und „selbstverständlich“ Österreich versorgt würden. Auf die Frage, wie viel davon nach Österreich fließt, kam die Antwort, das lasse sich aufgrund der Komplexität des Gasmarkts „unmöglich“ beantworten.
Roiss: Nun, es wird nicht das einzelne Gasmolekül von Norwegen nach Österreich transportiert. Gas wird durchgeswappt, sprich in der Logistik optimiert. Wenn Sie drei Milliarden Kubikmeter eigenes Gas in Norwegen produzieren, können Sie drei Milliarden Kubikmeter an österreichische Kunden verkaufen – so Sie das wollen.
profil: Wenn Ihre Rechnung aufgegangen wäre – wie abhängig wären wir heute von Gazprom-Gas?
Roiss: Meine Zielsetzung damals war: Etwa ein Drittel aus Rumänien, ein Drittel aus Norwegen, rund zehn Prozent aus Österreich und das verbleibende Viertel aus Russland.
profil: Ihre Planungen gehen auf die 2010er-Jahre zurück. Nun haben wir 2022, und Österreich muss seinen Gasbedarf weiterhin zu 80 Prozent aus Russland decken. Warum?
Roiss: Gasfelder brauchen Pipelines, und Pipelines sind politische Projekte. Die Politik behauptet zwar immer, das seien rein wirtschaftliche Vorhaben. Aber das ist Blödsinn. Es sind stets politische Entscheidungen, die eine Pipeline möglich machen oder eben nicht. Das erste Projekt, mit dem Österreich seine Abhängigkeit von Russland reduziert hätte, war die Nabucco-Pipeline. Da ging es um Gas aus Aserbaidschan. Mit dem Projekt bin ich 2013 gescheitert, weil es politisch nicht ausreichend unterstützt wurde. Russland war massiv dagegen, weil Nabucco eine Konkurrenz darstellte. Die USA haben sich damals neutral verhalten und wissen heute, dass das ein Fehler war. Die Deutschen waren anfangs dafür, dann nicht mehr. Die Ungarn taten so, als seien sie dafür, tatsächlich haben sie das Projekt hintertrieben. Der russische Einfluss ist auch in Ungarn groß. Und letzten Endes stand auch die österreichische Bundesregierung nur halbherzig dahinter. Eines der Nachfolgeprojekte war die Pipeline South Stream, die zwar wiederum ein Gazprom-Projekt war – mir ging es aber darum, über diese Pipeline Gas vom Neptun-Feld im Schwarzen Meer nach Österreich zu bringen.
profil: Inwieweit hätte noch eine Gazprom-Pipeline die Abhängigkeit von Russland verringert?
Roiss: Da die Pipeline durch mehrere europäische Länder laufen sollte, war europäisches Recht anzuwenden. Das bedeutet, dass 50 Prozent der Kapazität für das Gas von Dritten geöffnet hätten werden müssen. Mit South Stream hätte die OMV eigenes Gas aus Rumänien nach Österreich liefern können.
profil: Sie selbst haben als OMV-Generaldirektor im Juni 2014 mit Gazprom einen Vertrag zum Bau des österreichischen South-Stream-Teilstücks unterzeichnet. 2014 war auch das Jahr der Krim-Krise und der ersten Russland-Sanktionen. In dem Fall haben Sie sich mit den Russen an einen Tisch gesetzt.
Roiss: Wie schon gesagt, meine Intention war es, die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren.
profil: Indem Sie mit Gazprom einen Deal machten?
Roiss: Es gab keinen europäischen Investor, der bereit gewesen wäre, ein derartiges Projekt zu finanzieren.
profil: Gazprom-Chef Alexej Miller war mit Wladimir Putin zur Vertragsunterzeichnung 2014 nach Wien geeilt. Ich habe gehört, dass das Geschäft damals beinahe geplatzt wäre, weil die Russen in letzter Minute ein vorbereitetes Pressestatement zensieren lassen wollten. Demnach urgierte der Kreml die Streichung einer Passage aus dem Kommuniqué, wonach bei South Stream „europäisches Recht“ gelte. Sie sollen Miller unmittelbar vor der Pressekonferenz damit gedroht haben, den ganzen Deal zu kippen.
Roiss: Nun, der Passus blieb in der Presseerklärung drin, das europäische Recht war ja ohnehin vertraglich festgeschrieben worden. Unter anderen Umständen hätte ich das ja gar nicht unterzeichnet.
profil: Letztlich blieb auch das Projekt South Stream im Absichtsstadium stecken.
Roiss: Ich denke, der Vertrag mit Gazprom war von Anfang an eine Papierleiche. In Wahrheit hatte man bereits ein anderes Projekt in Konzeption, North Stream 2. (Anm.: Diese rein russische Pipeline durch die Ostsee ist mittlerweile fertig, steht aber still. Deutschland versagte jüngst alle Zertifizierungen, die Schweizer Gazprom-Betreibergesellschaft kämpft mit der Zahlungsunfähigkeit.) Die Russen wussten, dass ich einen weiteren Ausbau von North Stream ablehnte. Mich interessierte nur die Anbindung Österreichs an die OMV-Gasreserven im Schwarzen Meer. Im Mai 2015 sah ich ein Foto in der deutschen Zeitung „Welt“, das eine große Verhandlungsrunde zu North Stream 2 zeigte. Auf dem Foto waren neben Gazprom-Leuten auch OMV-Manager zu sehen. Ich wusste davon nichts und rief den damals neuen OMV-Aufsichtsratsvorsitzenden Peter Oswald an. Ich wollte von ihm wissen, ob er von den Verhandlungen der OMV zu North Stream 2 etwas wisse. Man hat mir mitgeteilt, ich möge mich aus dem Thema heraushalten.
profil: Der OMV-Generaldirektor sollte sich auf Anweisung des Aufsichtsratsvorsitzenden aus dem Tagesgeschäft heraushalten?
Roiss: Ja. Ich war nicht mehr berechtigt, Entscheidungen gegen den designierten Nachfolger (Anm.: Rainer Seele) zu treffen. Man hatte mich ab Oktober 2014 bis zu meinem tatsächlichen Ausscheiden am 30. Juni 2015 einfach kaltgestellt. Dazu waren auch völlig haltlose Vorwürfe konstruiert und verbreitet worden, die sich später allesamt in Luft auflösten.
profil: Warum?
Roiss: Ich stand offensichtlich einigen Leuten im Weg. Ich war nicht bereit gewesen, gewisse Wünsche zu erfüllen, die von bestimmten Aktionärsvertretern und Lobbyisten an mich herangetragen worden waren.
profil: Wollen Sie das detaillieren?
Roiss: Zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht. Tatsache ist, dass die Stimmung auf Ebene der Eigentümervertreter damals wahrnehmbar in Richtung Russland gekippt war. Es gab da eine große Fraktion von Russland- und Putin-Verstehern, die darauf drängte, dass die OMV sich stärker in Russland engagiert. Die OMV sollte Basis dafür sein, die wechselseitigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Österreich und Russland zu vertiefen. Der OMV-Konzern sollte als eine Art Schrittmacher dienen. Da wurde kräftig lobbyiert. Das brachte mich in eine zunehmend schwierige Situation, denn ich wollte mit der OMV keinen Cent in Russland investieren. Das war einfach nicht zu verantworten. Investments in Russland mögen ihren Reiz gehabt haben, aber ich wusste schon damals: Irgendwann kommen die Probleme. Wegen der Steuern, der Umwelt, der politischen Willkür des Kreml. Nach meinem Abgang 2015 war der Weg dorthin dann endlich frei.
profil: Reden wir über das Machtzentrum in der damaligen Staatsholding ÖIAG, die heute ÖBAG heißt. Die Holding war und ist mit 31,5 Prozent eine bestimmende Aktionärin bei der OMV. An Ihrer Demontage 2014 soll der damalige ÖIAG-Aufsichtsratsvorsitzende Siegfried Wolf maßgeblich beteiligt gewesen sein. Wolf pflegte schon damals beste Kontakte nach Russland, er ist ein langjähriger Geschäftspartner des Oligarchen und Strabag-Großaktionärs Oleg Deripaska und gilt als Putin-Adorant.
Roiss: Erwarten Sie bitte von mir keinen Kommentar zu diesem Herrn.
profil: Zu Putin oder zu Wolf?
Roiss: Zu beiden.
profil: Es ist ja kein Geheimnis, dass Wolf schon damals Teil eines Netzwerks um den oberösterreichischen Industriellen Peter Mitterbauer war. Dieses Netzwerk hatte sich ab den 2000er-Jahren nach und nach in der ÖIAG breitgemacht. Der frühere Präsident der Industriellenvereinigung Mitterbauer war von 2006 bis 2014 ÖIAG-Aufsichtsratschef, ehe ihm Siegfried Wolf nachfolgte. Wolf ist zwar nicht mehr im Aufsichtsrat der Staatsholding, dafür sitzt er heute unter anderem im Aufsichtsrat von Mitterbauers
Miba AG. Da saß einst auch Peter Oswald, der zwischen 2015 und 2016 OMV-Aufsichtsratschef war.
Roiss: Die Liste ließe sich erweitern.
profil: 2014 fasste der frühere Verstaatlichten-Manager Claus Raidl die Vorgänge rund um die ÖIAG in einem profil-Interview so zusammen. „Da hat eine
Insiderclique das Sagen, eine Gruppe von Leuten aus den Bereichen Automobil- und Papierindustrie. Mit einer auffallenden gemeinsamen Schwäche für die Jagd.“ Raidl sprach damals auch von „Selbstbedienung“. Er spielte damit unter anderem auf den 2003 von profil aufgedeckten und vereitelten ÖIAG-
Geheimplan an, die voestalpine unter der Hand an den Magna-Konzern zu verkaufen, wo wiederum Siegfried Wolf in leitender Funktion tätig war. Hat es jemals ernsthafte Bemühungen gegeben, OMV-
Anteile an russische Unternehmen abzutreten?
Roiss: Ja. Ich wurde wiederholt von Lobbyisten mit der Frage konfrontiert, ob ich zu Verhandlungen bereit wäre. Aber ich war nicht bereit.
profil: So gesehen war es dann auch kein Zufall, dass Ihr Nachfolger an der OMV-Spitze Rainer Seele hieß. Ein deutscher Manager, der erst gar kein Geheimnis aus seiner Gesinnung machte. Er galt als Putin-Fan. Umgekehrt war das nicht anders. 2018 erhielt Seele von Putin den „Orden der Freundschaft“, 2020 wurde der OMV-Vorstand mit einer Russin verstärkt. Tatsache ist auch, dass die OMV in der Ära Seele begann, in Russland zu investieren. Der Konzern nahm insgesamt rund 2,5 Milliarden Euro in die Hand, um sich an russischen Gasfeldern und an der Finanzierung der Gazprom-Pipeline North Stream 2 zu beteiligen.
Roiss: Und heute stellt sich die Frage, ob man in Russland eine Milliarde, zwei oder mehr in den Sand gesetzt hat.
profil: Die OMV muss sich nun Gedanken über enorme Abschreibungen machen. Die hatten Sie übrigens auch zu verantworten. Nach Ihrem Abgang mussten mehrere Milliarden wertberichtigt werden.
Roiss: Ja, 2016 lag der Ölpreis bei 40 Dollar pro Barrel, nachdem er viele Jahre über 100 Dollar gelegen hatte. Durch den plötzlichen, aber andauernden Preisverfall hatte die weltweite Ölindustrie gigantische Wertanpassungen zu tätigen, so auch die OMV. Heute liegt der Ölpreis wieder über 100 Dollar. Im Vergleich zu den 40 Dollar ergibt sich für die OMV ein positiver Ergebniseffekt von drei bis vier Milliarden Dollar pro Jahr. Das nennt sich Windfall-Profit.
profil: Apropos Windfall-Profit. Der faktische OMV-Eigentümervertreter ist der Finanzminister. Der hieß zwischen 2014 und Ende 2017 Hans Jörg Schelling und kam von der ÖVP. Schelling, Seele und Wolf haben sich gerne in Russland mit Putin gezeigt. Sebastian Kurz übrigens auch.
Roiss: Das war allgemein bekannt und hat damals niemanden gestört.
profil: Nach seinem Ausscheiden aus der Politik bekam Schelling dann auch noch einen Beratervertrag bei Gazprom. Er sollte offenbar für North Stream 2 lobbyieren.
Roiss: Hier zeigt sich ein generelles Problem, das in den vergangenen fünf, sechs Jahren sichtbar wurde – die enge Verzahnung von Politik und Wirtschaft. Wir haben nun nicht mehr nur Oligarchen aus dem Osten, wir haben längst auch kleine Austro-Oligarchen.
profil: Das „klein“ wird Siegfried Wolf nicht gern hören.
Roiss: Das haben Sie gesagt.
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