Fachkräfte: Woher die neuen Arbeitsmigranten kommen
10.000 neue Fachkräfte wollte Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) in diesem Jahr mit der Rotweißrot-Karte (RWR-Karte) aus Drittstaaten nach Österreich holen. „Die Reform der RWR-Karte war ein wichtiger erster Schritt, um qualifiziertem Personal den Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt zu erleichtern“, verkündete der Minister noch im Vorjahr. Die bisherige Bilanz: Laut den aktuellen Zahlen des Arbeitsmarktservice (AMS) wurden bis Oktober 2024 rund 8000 Arbeitsbewilligungen ausgestellt – mehr als im gesamten Vorjahreszeitraum. Doch ein genauer Blick in die Statistik zeigt eine Überraschung: Die größte Gruppe der neuen Zuwanderer kommt neuerdings aus China.
Wie divers der Arbeitsmarkt mittlerweile geworden ist, hat das profil bereits in mehreren Geschichten erörtert – vom brasilianischen Skihüttenwirt bis hin zu kolumbianischen Pflegerinnen. Aktuell zeigt sich, dass mehr als 20 Prozent (rund 1600 Personen) der neuen Arbeitsmigranten aus der Volksrepublik kommen. Sie bilden damit die größte Gruppe vor bosnischen (1100) und indischen Arbeitskräften (550). Kann China den Fachkräftemangel in Österreich lösen?
Mehr Zuwanderung
Ein genauerer Blick auf die Zahlen offenbart, dass sich unter den chinesischen Zuwanderern auch IT-Spezialisten wie Softwareingenieure finden – allerdings nur 18 Personen (Sektor Information und Kommunikation). Die überwiegende Mehrheit (rund 1500) arbeitet im Gastgewerbe. Bereits im Sommer berichtete profil über den Generationenwechsel in den heimischen China-Restaurants. Die erste Generation der chinesischen Einwanderer tritt ihren Ruhestand an. Die Folge: Dem klassischen Gewerbe der fernöstlichen Zuwanderer fehlen Köche. Mit der Aufnahme von Tourismusberufen in die Mangelberufsliste und den damit verbundenen Lockerungen konnten viele Wirte der China-Küche ihre Personalnot zumindest vorübergehend lindern.
Wer verstehen will, woher die neuen Zuwanderer kommen, muss die Situation in der Volksrepublik verstehen
Liwei Sun, Gastronom und Sprecher chinesischer Unternehmer in der Wirtschaftskammer, warb selbst heuer zwei Köche aus der Volksrepublik an. Seit Jahren setzt er sich dafür ein, den Nachwuchs im Inland ausbilden zu dürfen. Aber eine Lehre darf der chinesisch-stämmige Gastronom nicht anbieten, denn in der Lehrordnung sind Speisen strikt vorgegeben (Stichwort: Schnitzelpflicht). Die Generation von Suns Kinder habe dank Ausbildung und Studium, kein Interesse am Gewerbe der Elterngeneration. Die Folge: Fachkundiges Personal muss er in seiner alten Heimat suchen oder eine Agentur beauftragen, die je nach Vermittlung ab 2000 Euro Provision verlange, plus die Kosten für die Übersiedlung der Arbeitnehmer tragen.
„Wer verstehen will, woher die neuen Zuwanderer kommen, muss die Situation in der Volksrepublik verstehen“, sagt Sun. In den chinesischen Megastädten habe sich in den letzten Jahrzehnten ein beachtlicher Wohlstand entwickelt, Personal aus Peking oder Shanghai abzuwerben, sei quasi unmöglich. Immer noch möglich sei es, Arbeitskräfte aus den ländlichen Regionen der Volksrepublik anzuheuern – aber auch dort werben die Großstädte um die wenigen Fachkräfte. Für österreichische Betriebe bedeutet das, dass sie in direkter Konkurrenz mit den Megastädten Chinas stehen.
Aber warum kommen genau jetzt so viele Chinaköche? Der chinesische Wirtschaftsmotor stocke, so Sun: „Viele chinesische Arbeitnehmer müssen schauen, wo sie bleiben.” Die schwächelnde Konjunktur und die restriktive Coronapolitik habe am chinesischen Arbeitsmarkt Spuren hinterlassen. Als Folge sei der europäische Arbeitsmarkt inzwischen wieder attraktiver geworden.
Dass chinesische Zuwanderer die größte Gruppe der Arbeitsmigranten sind, sorgt sogar innerhalb der austro-chinesischen Community für Verwunderung. Die neuen Zuwanderer sind in der lokalen Community wenig aktiv. Viele der neuen Arbeitsmigranten sind nur temporär in Österreich, viele kommen, um Geld zu verdienen. Die Arbeitsbewilligungen sind befristet. Ohne die Möglichkeit, langfristig zu bleiben oder Familien nachzuholen, fehlt der Anreiz am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder gar Deutsch zu lernen.
Für Gastronomen wie Sun könnte das mittelfristig zu einem Problem werden. Zwar wurde die Personalnot vorerst gelöst, doch ohne Perspektiven für die Mitarbeiter drohe das Problem wiederzukehren.
Weniger Zuwanderung
Laut Aussagen einiger Gastronomen dürfte den Behörden die massive Zuwanderung aus Fernost auch aufgefallen sein. Und obwohl man offiziell Fachkräfte anwerben will, setzte das AMS zuletzt Maßnahmen, um den Zuzug von Köchen aus China zu erschweren. Für eine Arbeitserlaubnis werde für chinesische Antragsteller inzwischen ein „Versicherungszeitennachweis“ verlangt. Doch in der Volksrepublik gibt es keine Pflichtversicherung, weshalb sich Bewerber schwertun, ein solches Dokument vorzulegen. Warum dieser vor einem halben Jahr noch nicht und bei anderen Herkunftsländern gefordert werde, ist für die Unternehmer nicht nachvollziehbar – sie fühlen sich ungerecht behandelt. Ob das eine bewusste Verschärfung von Behördenseite ist, um Arbeitsbewilligungen für chinesische Einwanderer einzudämmen, bleibt vorerst ungeklärt.
Für das Wirtschaftsministerium ist der Fachkräfte-Zuzug aus dem Reich der Mitte nicht verwunderlich. „In Österreich besteht eine hohe Nachfrage nach Fachkräften in Mangelberufen, insbesondere im Tourismus“, hält das Ministerium in einer schriftlichen Beantwortung gegenüber profil fest. Immerhin sei die Volksrepublik (wie Indien) einer der bevölkerungsreichsten Länder der Welt – das spiegle sich nun in den Antragszahlen wider. Ein Ausschließen einzelner Nationen sei nicht vorgesehen und wäre auch rechtlich bedenklich. Warum bei einzelnen Bewerbern, dennoch ein „Versicherungszeitennachweis“ gefordert wird, ließ das Ministerium unbeantwortet.
Mario Pulker, Obmann des Gastronomieverbands in der Wirtschaftskammer, zeigt sich jedenfalls überrascht über den Zuzug aus Fernost. „Das ist eine geschlossene Community, da bekommen wir nur schwer Einblick“, sagt der Branchenvertreter. Gleichzeitig betont er, dass die Rotweißrot-Karte allein die strukturellen Probleme seiner Branche nicht lösen könne. Bürokratie, Abgaben und staatliche Leistungen, mit denen Wirte zu kämpfen haben, sind laut dem Branchenvertreter hausgemachte Probleme.
Während ein Teil der Gastronomie kurzfristig von der Anwerbung der Chinesen profitiert, fehlt es an Perspektiven für die Arbeitsmigranten selbst: Befristete Aufenthaltsgenehmigungen und wenig Chancen, Familien nachholen zu können, werden sie wohl weiterziehen lassen.
Dieser Artikel wurde am 09.12.2024 um 16:30 Uhr um die Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums ergänzt.