Fischfabrik in Senegal: Wo Fischabfall zu Mehl gemahlen wird
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Von Fabian Federl, Senegal
Jeden Tag, wenn die Sonne über dem Strand von Kayar untergeht, beginnt Mor Mbengue seine Runde. An den Strand, um Streit zu schlichten; Streit um einen Fisch, der noch vor wenigen Jahren als wertlos galt: die Sardinelle. Jeder hat seine Rolle bei der Ankunft der Fischer. Hunderte junge Männer stehen im Wasser, tragen runde Hüte aus festem Stoff, auf denen sie Kisten balancieren. Dahinter sitzen Frauen in gemusterten Gewändern im Schneidersitz, vor ihnen Bretter, Messer, Körbe. Dutzende An- und Verkäufer, Händler, Vermittler – die ganze Stadt Kayar ist hier am zweitgrößten traditionellen Fischerhafen des Senegal.
Mor Mbengue schlängelt sich durch ein Labyrinth aus geparkten Pirogen – das sind ortsübliche Fischkutter. Die Ankunft der Fischer ist auch der Beginn des Streits. Am Horizont tauchen nach und nach Pirogen auf. Die Fischer winken den Trägern mit den Stoffhüten zu, ein Wettrennen beginnt. Die Männer werfen sich ins Wasser, schreiten mit langen Schritten auf die Boote zu. Wer zuerst mit seiner Kiste an der Piroge ankommt, darf entladen, pro Kiste gibt es 500 Francs, rund 80 Cent. Ein Träger stürzt vorwärts in eine Welle, im letzten Moment wirft er seine Kiste mit Wucht nach vorn, sie fliegt durch die Luft, prallt am Bug der Piroge ab und landet im Fußraum. Er hat gewonnen. Der junge Mann füllt seine Kiste mit Sardinellen, kleinen heringsähnlichen Fischen, Senegals Grundnahrungsmittel.
Dass sich die Träger einmal derart um die Sardinellen streiten würden, hätte sich Mor vor ein paar Jahren nicht vorstellen können. „Der Fisch wird knapper, es gibt mehr Streit“, sagt Mor Mbengue. Denn jene Sardinellen, die die Frauen früher umsonst oder sehr billig bekamen, um sie zu verarbeiten und zu verkaufen, kann sich hier heute kaum mehr einer leisten. Es gibt nämlich einen Konkurrenten, der hungrig auf Sardinellen ist. Seit einigen Jahren werden laufend neue Fischmehlfabriken in der Region eröffnet. Mittlerweile gibt es über 50 davon. Auch eine hier in Kayar. In der Fabrik wird Fischabfall zu Mehl gemahlen oder zu Öl gepresst und zu Fischfutter verarbeitet: Köpfe, Gräten, Schalentiere, Muscheln, das sagen die Betreiber.
Fischzucht ist das am schnellsten wachsende Segment der weltweiten Nahrungsmittelproduktion, mit derzeit 160 Milliarden Euro Umsatz. Die Hälfte der weltweit verzehrten Fische kommt aus Aquakultur. Zucht wird von Naturschutzorganisationen als die Lösung für das Ozeansterben gesehen. Im Gegensatz zur Hochseefischerei ist Fischzucht regulier- und kontrollierbar. Sie ist auch umweltschonender als Tierzucht, die Produktion von einem Kilogramm Fisch benötigt halb so viel wie die von Schweinefleisch. „Die Fischerei hat Probleme, und Aquakultur ist die Lösung“, sagt Barbara Janker, General Manager für die DACH-Region beim ASC, dem Aquaculture Stewardship Council, dem wichtigsten Zertifizierer für Fischzucht.
Mor Mbengue – wie alle hier – sagt etwas ganz anderes: In der Fischmehlfabrik werden frisch gefangene Sardinellen verarbeitet. Die Fabrik mahlt das Essen der Senegalesen zu Fischmehl, mit dem dann das Essen von Europäern ernährt wird. Der Lachs oder Pangasius, der bei uns im Supermarkt liegt, raube den Armen hier die Nahrung.
Mor ist gerade 40 geworden, sein Leben lang ist er Fischer, seit 2009 Präsident des Fischerverbandes von Kayar. Er hat die Schule abgebrochen, um wie sein Vater Fischer zu werden. Fischer gelten im Senegal als Ernährer der Landes. Es gibt Schätzungen, dass bis zu einem Viertel aller Westafrikaner direkt oder indirekt von der Fischerei leben. Kayar liegt rund zwei Stunden nördlich von Dakar. Der Ort wurde 1885 als Fischerort gegründet. In den 1980er-Jahren fingen die Fischer so viel, dass sie sich selbst Quoten auferlegten: nur drei Kisten Fisch am Tag. Kayar zog die Armen aus der Umgebung an, sie wurden Fischer, die Söhne wurden Fischer, die Ehefrauen und Töchter transformatrices, traditionelle Verarbeiterinnen.
„Es geht um unser Essen“
Das Ende der goldenen Zeit begann in den frühen 2000er-Jahren. 1998 waren in Kayar 100 Pirogen gemeldet. Heute sind es 15 Mal so viel. Die Drei-Kisten-Regel wurde abgeschafft. Und während die Überfischung den Fischern langsam dämmerte, verkaufte die senegalesische Regierung Fischereilizenzen für ihre Gewässer nach Europa und China. „Damals ging es um unsere Wirtschaft“, sagt Mor. Es müsse nachhaltiger werden, das weiß man hier, daran arbeite man. Und die Fischereilizenzen zu vergeben, sei falsch. Eine korrupte Regierung in Dakar bereichere sich daran, sonst niemand. „Heute geht es nicht mehr darum, womit wir unser Geld verdienen“, sagt Mor, „es geht um unser Essen.“ Denn das Essen für Mor, für die Familien der Fischer, der Händler, für ganz Kayar, ist die Sardinelle.
In den Monaten vor der Recherche im Senegal haben wir zahlreiche Fischmehlfabriken kontaktiert. Nur die Fabrik der baskischen Firma Barna S.A. in Kayar antwortete. Es ist auch die einzige, deren Mutterfirma in einem EU-Land ansässig ist. Von den acht Fabriken ist eine marokkanisch, eine senegalesisch, die anderen chinesisch. Wir durften die spanische Fabrik besuchen, unter der Voraussetzung, dass wir nicht den Namen unseres Gesprächspartners nennen.
Alle Mitarbeiter hier sind Senegalesen, unser Gesprächspartner ist ein Spanier, der alle zwei Monate vom Konzern nach Kayar entsandt wird. Die Anlage ist sauber und voll mechanisiert, nur eine Handvoll Menschen arbeiten hier, machen die Instandhaltung, transportieren Säcke mit Gabelstaplern oder überwachen im Kontrollraum. In der ersten Halle wird der Fischmüll angeliefert. Es riecht bestialisch, aber unverkennbar nach Thunfisch. Die Masse wird durch Rohre gepresst, erhitzt, Festes wird von Flüssigem getrennt, die Maische wird getrocknet und gemahlen. Aus vier Kilo Fisch wird so ein Kilo Fischmehl. Ein Tonne Fischmehl wird für 1000 bis 1200 Euro verkauft, erst nach Spanien und von dort weiter in andere EU-Länder. Fischmehl aus dem Senegal wird in Aquakulturen in Deutschland, Spanien, Norwegen genutzt. Es ist im Lachs, in den Forellen, im Tilapia, der in europäischen Supermärkten landet. Barna betreibt bereits zwei Fischmehlfabriken in Spanien. Beide arbeiten mit Resten aus der Konservenindustrie. In der Konservenindustrie für Thunfisch gebe es eine 50-prozentige Verschwendungsrate.
„Aquakultur hat ein riesiges Potenzial, die wachsende Weltbevölkerung mit tierischem Protein zu versorgen“, sagt Barbara Janker vom ASC. Der ASC zertifiziert Lachs aus Norwegen, Garnelen aus Vietnam, Tilapia aus Chile. Man findet das türkise ASC-Logo auf rund 70 Prozent der Meeresprodukte in deutschen oder österreichischen Supermärkten. Zur Prüfung verlassen sich alle auf Siegel wie das des ASC. Der Standard habe über 100 einzelne Anforderungen, es geht um Antibiotika, Abwasser und Müll, Lebensraum und Wasserqualität, Arbeitsbedingungen für die Zuchtmitarbeiter. Und Futtermittel.
„Fischmehl und Fischöl kann eine sehr nachhaltige und nachwachsende Ressource sein“, sagt sie, „wenn es richtig gemanagt und gefischt wird – wie bei Holz oder Biomasse.“ Im Senegal gibt es mehrere Konservenfabriken für Thunfisch. Sie sind am Hafen von Dakar angesiedelt, dort gibt es auch seit 1967 eine Fischmehlfabrik, betrieben von Senegalesen. Nun steht aber die Fabrik von Barna nicht neben der Konservenfabrik, sondern zwei Stunden entfernt davon. Aber nur fünf Minuten entfernt vom zweitgrößten traditionellen Fischereihafen des Landes.
Nach mehrmaliger Nachfrage bekommen wir eine Erklärung: Barna habe diesen Standort genutzt, weil er günstiger ist und die Fabrik auch die Abfälle der traditionellen Fischerei nutzen wolle. Müll, der sonst am Strand herumliegt, ins Meer geworfen wird, Köpfe, Gräten, Innereien. Fischer sollen einen Anreiz bekommen, den Müll zu sammeln und an die Fabrik zu verkaufen. Es ist wahr, dass der Strand von Kayar vermüllt ist mit Fischereiabfällen. Doch kann man allein mit diesen Abfällen ein Pulver herstellen, das 60 Prozent Protein hat? Gräten, Knochen, Flossen haben rund 10 bis 20 Prozent Protein.
Der Direktor sagt: Die Fabrik halte sich nicht nur an alle Regeln, sie setze sich extra Regeln auf, um vorbildlich zu sein. Die Anwohner störten sich an dem Gestank. Deshalb habe Barna eine Abwasseranlage und einen Luftfilter eingebaut. Barna habe sich nichts vorzuwerfen. Und die Sardinelle? Die lande ab und zu in der Fabrik, ja. Aber nur, wenn sie Müll ist oder Überschuss. Als „Müll“ deklariert, darf alles in die Fabrik. Und was Müll oder Überschuss ist, das definiert der Fischer. Nicht die Fabrik.
Gefahr für Nahrungssicherheit
„Um das Problem mit dem Fischmehl zu verstehen, muss man global darauf blicken“, sagt Karim Sall und schließt eine Hintertür im Fischereikontor von Joal-Fadiouth auf, dem größten Fischereihafen im Senegal, fünf Stunden südlich von Kayar. Karim ist Generalsekretär des Docks. Es liegen Hunderte Kisten Fisch auf dem Boden, edle Fische wie Thiof (Zackenbarsch), Oktopus und immer wieder kistenweise Sardinellen. „Für mich als Fischer sollte die Fabrik eigentlich wunderbar sein“, sagt Karim, „denn der Preis für Fisch erhöht sich bei erhöhter Nachfrage.“ Es gebe jedoch zwei Arten von Fischern: „Die, die an jetzt denken, und die, die auch an morgen denken.“
Im Senegal arbeiten 600.000 Männer in der Fischerei und noch einmal so viele Frauen in der Verarbeitung. 430.000 Tonnen Fisch werden jährlich in den Docks im Senegal registriert, ein Drittel davon hier in Joal-Fadiouth. 97 Prozent von dem, was hier an Land geht, sind Sardinellen, ein Prozent sind Tintenfische und Oktopus, der Rest Sonstiges. Mit diesen drei Prozent werde aber fast die Hälfte des Umsatzes des Hafens gemacht, sagt Karim.
Die Sardinellen hier waren nie ein Wirtschaftsgut für die Fischer. Der Verkauf lohnte sich nicht. Der Markt war informell, erst die Verarbeitung gab dem wertlosen Fisch einen Wert. Vor Joal-Fadiouth liegt die größte Fischverarbeitungsstation des Landes. Burkinabe, Guineer und Malier holen die Sardinellen vom Dock, trocknen, salzen und fermentieren den Fisch hier für die Reise in ihre Heimatländer, wo es oft das einzige günstige tierische Protein ist. Rund 10.000 Menschen leben von der Verarbeitungsstation. Und ganze Regionen und Länder vom Produkt. „Sardinellen ernähren ganz Westafrika“, sagt Karim. Und wenn die Fische weg sind, fällt die Arbeit weg.
„Sardinellen ernähren ganz Westafrika.“
Alassane Samba, der ehemalige Leiter des Ozeanografischen Instituts von Dakar, war bei der Öffnung der ersten Fischmehlfabrik im Senegal 1967 beteiligt. „Es gab strenge Auflagen“, sagt er, „und die erste war: Nur Fischmüll!“ Bei Kontrollen sei von Anfang an aufgefallen, dass etwas nicht stimmen kann. „Wir fanden heraus, sie kauften frischen Fisch direkt an den Fischereidocks“, sagt Samba, „das machen sie noch heute.“ Wenn jemand kontrolliere, können sie sagen, der Fisch sei schon verfault gewesen, denn so gilt er als Fischmüll. Und viele Fischer spielten mit. Sie fahren mit den Pirogen raus, zwei, drei Tage, fangen 15 bis 20 Tonnen Fisch. Wenn sie wieder am Dock ankommen, ist die Hälfte verfault. So dürfen sie offiziell an die Fabrik verkaufen und die Fabrik offiziell kaufen.
Sophie Nodzenski von der Changing Markets Foundation sagt: „Die Zukunft unseres Nahrungsmittelsystems steht auf dem Spiel. 33 Prozent der Fischbestände sind überfischt, 60 Prozent am Maximal-Level gefangen. Aquakultur sollte das eigentlich verbessern. Aber momentan sehen wir, dass wegen der Abhängigkeit vom Wildfang die Aquakultur das Problem nur noch verschlimmert.“ Weltweit arbeiteten Unternehmen an Lösungen, aber die seien bisher noch nicht bereit für den breiten Einsatz. Für jedes Kilo Aquakultur-Fisch verbrauchen die Farmen mehrere Kilo Fischmehl. Lachse etwa fressen in ihrer Zuchtzeit das 15-Fache ihres Körpergewichts. Was zu der absurden Bilanz führt: Eine Fischfarm verbraucht mehr Fisch, als sie produziert.
Marine Trust ist der größte Zertifizierer für Fischmehl und Fischöl. Auch der ASC ist abhängig von den Zertifizierungen von Marine Trust. Laut einer Studie, die Changing Markets 2021 veröffentlicht hat, waren mehrere von Marine Trust zertifizierte Unternehmen in Peru und anderswo beteiligt an illegalem Fischfang für die Fischmehlproduktion. Marine Trust hat auf mehrere Interviewanfragen nicht geantwortet.
Darauf angesprochen, sagt Barbara Janker vom ASC: „Die Lieferketten sind sehr komplex.“ Der ASC fordere in seinen Standards die Rückverfolgbarkeit bis hin zu einer konkreten Fischerei. Ein Akteur könne das nicht allein lösen. Es brauche gesetzliche Regelungen.
Caroline Roose, Abgeordnete im Europaparlament für die Grünen, versucht das seit Jahren, ohne Erfolg. „Wir müssen die Kontrollen endlich verbessern“, sagt sie. „Der Fischereicode wird weltweit nicht respektiert.“ Das aktuelle System der Fischzucht gefährde die Nahrungsmittelsicherheit einer ganzen Region.
Nodzenski appelliert an die Konsumenten: „77 Prozent der Europäer kaufen Fisch im Supermarkt“, sagt sie, „hier kann Druck ausgeübt werden.“ In einem umfangreichen Report aus dem Jahr 2021 schnitten nahezu alle europäischen Supermärkte schlecht ab in Fragen der Transparenz ihrer Lieferketten beim Zuchtfisch. Kein einziger Supermarkt setzt sich für eine Reduzierung von Fischmehl aus wild gefangenem Fisch ein.
Nach der Recherche, am 19. September 2022, erreicht uns ein E-Mail aus Kayar. Mor Mbengue und Maty Ndao, eine Mitstreiterin, schreiben: „Wir haben gekämpft, bis die Spanier ihren Anteil an der Fischmehlfabrik verkauft haben.“ Barna Senegal heißt jetzt Touba Protéine und gehört einer senegalesischen Firma. Mor und Maty haben Touba im Namen aller Einwohner von Kayar geklagt. Wegen Umweltverschmutzung. Das Gerichtsverfahren sollte am 22. September am Obersten Gericht in Thiès beginnen. Es wurde in letzter Minute bis auf Weiteres vertagt. Die Fabrik läuft noch immer.
HINWEIS: Die Recherche wurde von der Otto-Brenner-Stiftung unterstützt und läuft als ARD-Radiofeature mit dem Namen „Fische zu Fischfutter“.