Der Fiskalrat zeichnete schon im April einen Budgetpfad für 2024, der über dem von der EU vorgegebenen Maastricht-Ziel von drei Prozent Neuverschuldung, gemessen an der heimischen Wirtschaftsleistung (BIP) lag. Damals ging man von einem Budgetdefizit von 3,4 Prozent aus. Im kommenden Jahr sollte das Defizit ganz leicht auf 3,2 Prozent des BIP sinken. Das Problem dabei: Das Finanzministerium unter Magnus Brunner (ÖVP) rechnete damals noch mit deutlich niedrigeren Werten. „Alle Wirtschaftsforscher:innen außer Badelt sehen uns noch unter den drei Prozent“, sagte Brunner zwei Tage später in der „ZIB 2“. Und tatsächlich gingen zum damaligen Zeitpunkt die großen Wirtschaftsinstitute und die EU-Kommission noch von einer deutlich besseren Budgetsituation aus.
"Wir hatten im Dezember 2023 sogar noch einen besseren Wert als das Finanzministerium prognostiziert. Einer der wesentlichen Faktoren für die Korrektur war, dass wir rezentere Daten hatten. Wir hatten die Ergebnisdaten für 2023 und aktuelle Quartalsdaten, die das Ministerium in seiner Budgetmeldung nach Brüssel noch nicht eingerechnet hatte. Die beruhte ja auf der Herbstprognose des WIFO. Aber wir konnten die Schätzungen des Finanzministeriums zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr wirklich nachvollziehen."
Fünf Monate später sollte sich Badelt zu einer deutlich schärferen Aussage in Richtung des Finanzministeriums hinreißen lassen. Aber dazu später.
"Am Tag vor der Veröffentlichung hatten wir einen Termin bei Finanzminister Brunner und haben ihm präsentiert, was wir am nächsten Tag kommunizieren würden. Das Gespräch war eine Mischung aus Kritik und Unterstützung. Natürlich hatte er keine Freude mit unseren Zahlen. Mir war klar, dass ich hier viel Gegenwind bekommen werde. Aber ich habe öfter Dinge gesagt, die dem Finanzminister nicht angenehm waren. Und Magnus Brunner war immer fair. Es ist extrem wichtig, dass ein Fiskalratspräsident unabhängig ist. Und ich kann mir durch meinen Hintergrund und durch mein Lebensalter eine gewisse Unabhängigkeit leisten. Ich muss nichts mehr werden, und ich will auch nichts mehr werden. Ich werde bald 74. Und als emeritierter Universitätsprofessor genieße ich ein großes Ausmaß an Freiheit, die ich versuche, verantwortungsvoll zu nutzen."
Tatsächlich stand der Fiskalrat im Frühjahr mit seiner düsteren Budgetprognose noch ganz allein da. Ein höheres Budgetdefizit – ausgerechnet im Wahljahr – konnte niemand brauchen. Aber Badelt wusste, dass die anderen Wirtschaftsforscher schon bald mit neuen Prognosen folgen würden. Monatlich kamen neue Daten. Der Ausblick wurde immer schlechter. Die zwei führenden heimischen Wirtschaftsforschungsinstitute – das WIFO und das Institut für Höhere Studien (IHS) – mussten im Quartalstakt ihre Erwartungen für das Wirtschaftswachstum nach unten korrigieren. Und jene für das Budgetdefizit nach oben. Ging das WIFO im Dezember 2023 noch von 0,9 Prozent Wachstum für 2024 und einem Budgetdefizit von 2,4 Prozent aus, musste die Prognose im März schon auf 0,2 Prozent Wachstum zurückgenommen werden. Heute ist klar: Es kam noch viel schlimmer. Die heimische Wirtschaft schrumpfte heuer laut WIFO um 0,9 Prozent. Und das Budgetdefizit hat Badelts Alarmwert vom April sogar überholt. Der Fiskalrat rechnet in seiner jüngsten Prognose mit 3,9 Prozent, das WIFO und die EU-Kommission mit 3,7 Prozent Neuverschuldung. Zur Ergänzung: Alle diese Zahlen stehen unter der sogenannten No-policy-change-Prämisse. Also unter der Annahme, dass die neue Regierung keine Konsolidierungsmaßnahmen setzt oder dem konjunkturellen Einbruch nicht gegensteuert. Das wird so nicht passieren, schlicht, weil sich das Österreich nicht mehr leisten kann. Sollte die Regierung zu Jahresanfang stehen, werden etwaige Maßnahmen in die neuen Konjunkturprognosen im Frühling eingerechnet.
"Das Paradoxe ist ja, dass Österreich in einem Defizitverfahren weniger konsolidieren muss, als wenn wir ein solches Verfahren vermeiden. Das ist das Verrückte an den EU-Fiskalregeln. Für ein Mitgliedsland, das die Regeln nicht einhält, wird im Sanktionsmechanismus weniger an Einsparungen und Konsolidierung verlangt, als wenn es aus eigener Kraft auf den Budgetpfad zurückkehrt. Wenn wir vom Kommissionswert, also den 3,7 Prozent, auf drei Prozent kommen wollen, müssten wir 0,7 Prozent des BIP einsparen. Weil wir hier aber eine Reihe weiterer Maßnahmen und Effekte einrechnen müssten, kommen wir so auf 6,3 Milliarden Euro für 2025. Ein Jahr später müssten wir nach den Fiskalratsberechnungen wieder weniger sparen. Wenn Sie in ein Budgetsanierungsverfahren gehen, müssten Sie 2025 nur die Hälfte einsparen (weil man so mehr Zeit bekommt, sanft auf den Budgetpfad zurückzufinden, Anm.). Das ist volkswirtschaftlich betrachtet und für den Staat einfacher, denn in einem Jahr der Rezession ein massives Sparpaket zu schnüren, ist weder einfach noch ökonomisch sinnvoll."
Fast fünf Monate nach der ursprünglichen Aussendung, am 5. November, erklärte Badelt: „Ich glaube den Werten des Finanzministeriums schlicht nicht.“ Zu diesem Zeitpunkt hatten auch die Expertinnen und Experten des Finanzministeriums ihre eigenen Berechnungen nach oben korrigiert, nämlich auf 3,3 Prozent. Aber auch das erschien dem Fiskalrat noch zu optimistisch.
"Ich weiß, dass manche Sätze mehr zitiert werden und andere weniger. Dieser Satz war aber nicht so gemeint, wie er rübergekommen ist. Das war keinesfalls ein Vorwurf, dass irgendjemand getrickst hat. Das war eine flapsige, lässige Formulierung und keine besonders glückliche. Aber: Wir haben schon im April bei der Begründung unserer Unterschiede sehr wohl die jüngsten Wirtschaftsdaten angeführt. Später wurde uns klar, dass das BMF die Zahlen der Gebietskörperschaften und Gemeinden noch positiv eingeschätzt hatte, als alle Experten schon warnten, dass die Länder und Gemeinden ein Defizit schreiben werden und dieses das Budgetdefizit erhöhen wird. Zuletzt wurde die Zahl leicht korrigiert, aber ich denke, die Belastung könnte noch höher ausfallen."
Das Finanzministerium musste sich noch einem weiteren Vorwurf stellen: Am 29. September war Nationalratswahl. Zwei Tage später musste auch der damalige Finanzminister und heutige EU-Kommissar Brunner zugeben: Das Budgetdefizit wird nicht 2,9, sondern 3,3 Prozent des BIP betragen und damit die von der EU vorgegebene Grenze überschreiten. Und tatsächlich schlugen die Länderfinanzen bei der Meldung nach Brüssel Ende September mit 597 Millionen Euro negativ zu Buche.
Warum aber die Verzögerung? Alles nur Wahltaktik? „Die Erstellung einer aussagekräftigen Prognose ist ein aufwendiger Prozess. Im BMF werden dafür unterschiedliche aktuelle Daten benötigt. Beispielsweise fließen in die Prognose die aktuellen Budgetvollzugsdaten und WIFO-Wirtschaftsprognosen sowie neue Steuerschätzungen ein“, heißt es auf Nachfrage aus dem Finanzministerium. Das Veröffentlichungsdatum sei schon vor dem Wahltermin festgesetzt worden.
Viel oder noch mehr sparen?
"Man sollte den Konsolidierungsbedarf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der EU-Fiskalregeln beurteilen. Sondern danach, was ökonomisch sinnvoll wäre. Und ökonomisch gesehen brauchen wir noch mehr freie Mittel", sagt der Präsident des Fiskalrats Christoph Badelt. Um den Staatshaushalt wieder auf Kurs zu bringen, muss die neue Regierung 2025 zwischen drei und sechs Milliarden Euro einsparen.
"Die Antwort auf die Frage, warum das Finanzministerium die korrigierte Prognose zwei Tage nach der Wahl bekannt gegeben hat, ist eigentlich recht trivial. Am 30. September musste die Regierung nach Brüssel notifizieren. Das war der Tag nach der Nationalratswahl. Und sobald die Zahlen in Brüssel aufschlagen, sind sie recht schnell auch hierzulande bekannt. Es ist zwar nicht verboten, die aktuellen Budgetdaten auch etwas früher an Brüssel zu melden. Dass man das aber nicht zwei Tage vor den Wahlen in die Öffentlichkeit schmeißt, verstehe ich schon. Das wäre politischer Masochismus gewesen."
Das WIFO und das IHS, die großen deutschen Wirtschaftsinstitute, die EU-Kommission, der Fiskalrat, die Notenbank – alle großen Institutionen warnten seit dem Frühjahr quasi im Monatstakt, dass der konjunkturelle Einbruch noch größer ausfallen würde als ursprünglich angenommen. Dennoch hielt die Regierung, im Speziellen das Finanzressort, lange an den eigenen Budgetzahlen fest und gab vor der Wahl Geld aus, das sie lieber gespart hätte. Fast zwei Milliarden Euro flossen in den Klimabonus, wobei die Einnahmen aus der CO2-Steuer deutlich geringer ausfallen. Die temporäre Agrardiesel-Förderung wurde verlängert. Bundeskanzler Nehammer ließ sich zu der Aussage hinreißen, dass die Wirtschaftsforscher an den zu niedrig angesetzten Defizit-zahlen schuld seien. Was irreführend war, wie ein profil-Faktencheck ergab.
"Letztlich haben das Finanzministerium und der Bundeskanzler zuletzt versucht, die Verantwortung (für das Budgetdefizit, Anm.) auf die Wirtschaftsforscher zu schieben. Grundsätzlich muss man aber schon sagen, dass diese Regierung – weil sie bis zum Schluss im Amt ist – wenige oder kaum Wahlzuckerl verteilt hat."
Jetzt kommt das große Sparen. Am 21. Jänner tagen in Brüssel die EU-Finanzminister. Bis dahin sollte in Österreich zumindest in Grundzügen klar sein, wo und wie viel man einsparen wird.
"Man sollte den Konsolidierungsbedarf nicht nur unter dem Gesichtspunkt der EU-Fiskalregeln beurteilen. Sondern danach, was ökonomisch sinnvoll wäre. Und ökonomisch gesehen brauchen wir noch mehr freie Mittel. Wir haben jede Menge großer Aufgaben vor uns, die Regierung muss Zukunftsprojekte schmieden. Und das ist in einem Verfahren einfacher, als wenn man ganz rigoros konsolidiert. Wir haben selbst eine Reihe von Maßnahmen erarbeitet, wo wir Einsparungspotenzial sehen. Der Klimabonus ist zum Beispiel ein großer Brocken. Ich bin nicht dafür, ihn abzuschaffen, aber sehr wohl für ein Aussetzen."
Keine einfache Aufgabe also für ein neues Jahr, das wirtschaftliche Tristesse royale verspricht. Wenn man den Prognosen glaubt.