Deutschland

Gabriel Felbermayr: "Der Staat hat mit dem Rasenmäher gespart"

WIFO-Chef Gabriel Felbermayr warnt vor einem Niedergang der deutschen Industrie. Dafür sei nicht nur fehlendes Geld verantwortlich, sondern auch schlechte Planung, schlampige Umsetzung und mangelnde Expertise.

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Sie haben bereits vor der Pandemie von Deutschland mehr Zukunftsinvestitionen gefordert und auf die hausgemachte Schwäche der Industrie hingewiesen. Was meinen Sie damit? 
Felbermayr
Die Industrie begann bereits 2017 nachzugeben, das lässt sich am Output und an der Wertschöpfung messen. In Deutschland werden nur noch halb so viele Autos produziert wie vor 2017. Das war schon vor dem großen Hammer der Trump'schen Zollpolitik so, vor dem Ukraine-Krieg und den hohen Energiepreisen. Der Niedergang seit 2017 ist in anderen EU-Staaten nicht beobachtbar, das ist etwas spezifisch Deutsches.
Was haben die Deutschen falsch gemacht?
Felbermayr
In Deutschland sind private und öffentliche Investitionen seit Jahren schwach, die Brutto-Inlandsinvestitionen vergleichsweise sehr niedrig. Das ist überraschend, weil Deutschland einen höheren Industrie-Anteil hat als etwa Österreich. Allein um den Erhalt des industriellen Kerns wegen müssten die Investitionen zumindest ein bisschen höher sein. Dazu kommt, dass große Teile der deutschen Industrie stark technologiegetrieben sind. Hier hat man noch mal extra Investitionsbedarf, Stichwort Elektroauto.
Deutschland investiert also zu wenig in die Zukunft?
Felbermayr
Genau. An den Finanzierungskosten kann es nicht liegen, denn in Deutschland ist Kapital billiger als anderswo. Der Ursprung liegt darin, dass es seit Jahren unglaubliche Schwierigkeiten gibt, Projekte umzusetzen: Sie sind genehmigt, die Finanzierung ist da, aber es scheitert an der Umsetzung, weil Einsprüche und Klagen dazwischenkommen, weil die Expertise fehlt, weil Arbeitskräfte oder Planer fehlen. Die sind den Deutschen abhandengekommen.
Bei Projekten wie Windparks stehen oft Bürgerinitiativen und endlose Gutachten im Weg. Aber betrifft das auch die Autoindustrie?
Felbermayr
Ja. Die Grüne Heide ist dafür ein schönes Beispiel. Tesla hat südlich von Berlin ein großes Werk gebaut. Das ist schnell gegangen, aber selbst da hatte man große Schwierigkeiten. Das Problem war auch hier weniger die Genehmigung als die Umsetzung. Es gibt keine Bauunternehmen mehr, die große Werke bauen können. Damit der Industriestandort funktionieren kann, und damit meine ich durchaus auch den Bau von Autobahnen und Schienen, braucht man Unternehmen und Arbeitskräfte, die solche Großprojekte planen und umsetzen können. Wenn man vor 30 Jahren das letzte Großkraftwerk gebaut hat, ist klar, dass dafür keine Kompetenz mehr da ist.
Der "Inflation Reduction Act", das riesige Investitionspaket der USA, zieht viele deutsche Unternehmen nach Amerika. Gleichzeitig beschwört Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz das neue Wirtschaftswunder in Deutschland. Wie passt das zusammen?
Felbermayr
Das ist absurd. Was die Deutschen brauchen, ist ein Investitions-Boom.

Man hat die schwarze Null zur heiligen Kuh hochstilisiert und mit der Schuldenbremse in der Verfassung abgesichert. Dafür hat man die Investitionen geopfert.

Wo hat Deutschland am meisten gespart?
Felbermayr
Der Staat hat mit dem Rasenmäher gespart: Infrastruktur, Schulgebäude, die Ausstattung von Behörden, die Bundeswehr. Und in der Privatwirtschaft hat die Automobilindustrie den größten statistischen Einfluss.
Aber das ist doch verblüffend. Deutschland ist stolz, Autonation zu sein!
Felbermayr
Das würde man meinen, aber auch hier sind Fehler gemacht worden: Bei den neuen Antrieben etwa ist sehr spät zu wenig gemacht worden. In der Corona-Krise gab es handwerkliche Fehler. Sie haben etwa die Chip-Bestellungen storniert, also Bezugsrechte aufgegeben. Jetzt sind keine Chips mehr da, weil sie anderswo verkauft werden. Das war vollkommen kurzsichtig und ist wahrscheinlich auch aus einem überzogenen Sparwillen heraus geschehen.
Hat die Autoindustrie zu lange am alten Verbrennungsmotor festgehalten und deshalb wichtige Investitionen verpasst?
Felbermayr
Ja, allerdings waren sie wegen des Chipsmangels auch nicht in der Lage, Verbrennungsmotoren zu liefern. Bei der Dekarbonisierung kristallisieren sich die Probleme heraus, aber sie gehen viel weiter. Wenn Deutschland nicht mehr so viele Autos herstellt wie 2017, dann hat das mit sehr viel mehr zu tun als mit dem Umstieg auf Elektromobilität. Und das ist nur eine Branche. Es sind in vielen Bereichen Fehler gemacht worden. Und hier kommt der Staat ins Spiel-mit einer Politik, die sehr viel Unsicherheit geschaffen hat.
Wie?
Felbermayr
Mit großen Projekten, die nicht klar definiert waren, zum Beispiel die Energiewende. Nach dem Reaktorunglück in Fukushima hat man den Atomausstieg beschlossen, zusätzlich zum Kohleausstieg. Betreffend erneuerbare Energien hat man viel versprochen, nur passiert ist nichts. Nach zehn Jahren ist das Vertrauen verloren gegangen. Man sieht, dass abgeschaltet wird, aber das Einschalten neuer Anlagen nicht vorankommt. In Folge steigen die Energiekosten. Zudem ist die öffentliche Infrastruktur verlottert. Der Investitionsbedarf für die Instandsetzung der Infrastruktur ist gigantisch. Da fehlt mehr als das gesamte BIP Österreichs. Nach dem Wiedervereinigungsboom der 1990er-Jahre sind Projekte unterfinanziert geblieben.
Grundsätzlich ist also die deutsche Sparpolitik der Grund des Übels?
Felbermayr
Man hat die schwarze Null zur heiligen Kuh hochstilisiert und mit der Schuldenbremse in der Verfassung abgesichert. Dafür hat man die Investitionen geopfert. Das dürfte in den Augen der Entscheidungsträger das kleinere Übel gewesen sein. Es ist ein Kennzeichen der Politik insgesamt, dass Kosten aus der Gegenwart gerne in die Zukunft verschoben werden.
Welche Auswirkung hat diese Politik auf den Rest Europas?
Felbermayr
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas. Schwächelt das Land, zieht uns das langfristig mit runter. Außerdem sieht man, dass die Politik angesichts der Probleme zu Politiken greift, die für die Nachbarn problematisch sind. 2022 hat die EU deutsche Subventionen in der Höhe von 356 Milliarden Euro genehmigt. Fast so viel wie das ganze österreichische BIP. Und weil Deutschland ein Transitland ist, gefährden fehlende Investitionen in die Infrastruktur auch unsere Versorgung-vom Strom über Schienennetze zu Gaspipelines.
Für Felbermayr gibt es prinzipiell politisch umsetzbare Lösungen

Gabriel Felbermayr

ist Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien).

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.