Gas-Krise: Norwegen als großer Gewinner
Von Julian Kern
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Eine rote Backsteinmauer auf der einen Seite, eine Glasfassade auf der anderen. Es ist ein schlichtes Bürogebäude wie viele andere in Stavanger auch, in dem die norwegische Staatsholding Petoro ihren Firmensitz hat. Von hier aus wird der Betrieb von mehr als drei Dutzend der größten Erdöl- und Erdgasfelder Europas observiert und kontrolliert. Keine zehn Minuten Fußweg vom Bürogebäude entfernt liegen „Island Crusader“, „Sygna Tide“ und „Havilla Clipper“ vor Anker. Die Schiffe unterstützen die Erdöl- und Erdgasplattformen entlang der norwegischen Küste mit Material, Werkzeug und Personal. Sie sind maßgeblich für den Betrieb der Bohrinseln verantwortlich. Und somit auch dafür, dass sich die Einnahmen aus dem norwegischen Gasexport seit Kriegsbeginn in der Ukraine fast versiebenfacht haben.
334 Milliarden Kronen (circa 30 Milliarden Euro; Anm.) und somit rund ein Drittel aller Einnahmen aus dem Verkauf von norwegischem Gas im Jahr 2022 sind kriegsbedingt zustande gekommen. So steht es in einer Studie der Norwegian School of Economics aus dem Vorjahr. Ein Jahr, in dem Norwegen seine fossile Energieproduktion deutlich gesteigert hat. Zwar liegen noch keine Bilanzen aus 2023 vor, Anders Opedal, Chef des größten norwegischen Energieunternehmens Equinor, gab vor wenigen Wochen allerdings Einblicke in die noch unveröffentlichten Zahlen: „Im Jahr 2023 haben wir weiterhin zur Energiesicherheit in Europa beigetragen und ein Produktionswachstum von 2,1 Prozent erzielt“, so Opedal. Geht es also nach dem Vorstandsvorsitzenden des größten Arbeitgebers des Landes, ist die Rolle Norwegens klar: Eine sichere Bank in puncto Energieversorgung Europas. Norwegen als weißer Ritter und Kriegsprofiteur zugleich?
In Oslo trifft profil den Chefökonomen von Offshore Norge, Marius Menth Andersen. Er weiß über die Tätigkeiten der 27 Firmen, die am norwegischen Kontinentalschelf ihren Geschäften nachgehen, bestens Bescheid. Andersen hat sich vorbereitet. Mit einer PowerPoint-Präsentation versucht er die Entwicklungen des nun wichtigsten Erdgaslieferanten Europas einzuordnen. „Wir waren uns unserer Rolle als Energielieferant für Europa schon immer bewusst, sie ist nur in letzter Zeit sehr wichtig geworden“, sagt Andersen, den Blick auf eine Grafik des Brüsseler Wirtschafts-Thinktank Bruegel gerichtet: „Von 25 auf 30 Prozent Erd- und Flüssiggas, das heute aus Norwegen nach Europa kommt.“
Massiv erhöht hat Norwegen seine Gasproduktion seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 also nicht. „Das geht auch gar nicht in so kurzer Zeit“, sagt der Ökonom. Kurzfristig kann man die Produktion allerdings schon etwas steigern. „Wenn man ein Feld hat, das Öl und Gas beherbergt, muss man das Gas wieder einleiten, um den Druck in der Lagerstätte zu erhöhen, damit Öl gefördert werden kann. Wenn man kurzfristig mehr Gas entnimmt, bedeutet das, dass man langfristig weniger Öl gewinnen kann. Das ist ein wirtschaftlicher Kompromiss, den man abwägen muss.“ In Norwegen hat man diesen abgewogen – zugunsten der Gasproduktion. Auch weil der Marktpreis dafür in bisher ungekannte Sphären ausgeschlagen hat: So lag der Spotpreis an der niederländischen Erdgasbörse TTF zu Beginn des Jahres 2022 noch bei rund 85 Euro pro Megawattstunde (MWh). Nach weiteren russischen Gasdrosselungen und Wartungsarbeiten der Nordstream-Pipelines im August erreichte er dann ein Allzeithoch von über 310 Euro/MWh Erdgas. Die Folge: Erdgas war knapp, der Preis hoch – und die Norweger kassierten.
Wir waren uns unserer Rolle als Energielieferant für Europa schon immer bewusst, sie ist nur in letzter Zeit sehr wichtig geworden.
Norwegen und die OMV
Ein weiterer Profiteur befindet sich nur knapp zehn Kilometer von der Petoro-Firmenzentrale entfernt: die norwegische Niederlassung der OMV. Im Jahr 2005 wurde die OMV (Norge) AS im norwegischen Firmenbuch eingetragen, 2008 übersiedelte die Firma dann in das moderne Industrieviertel Hinna Park im Süden von Stavanger. „Unser Ziel war, Norwegen als Kernregion aufzubauen, da wir zu dieser Zeit das Ölgeschäft in Libyen verloren haben. Das war seit den 1960er-Jahren der Gewinnbringer der OMV. Im Zuge des Bürgerkrieges 2011 war dort dann aber endgültig Schluss“, sagt Gerhard Roiss. Von 2001 bis 2011 war er Vorstandsmitglied der teilstaatlichen OMV, von 2011 bis 2015 leitete er das Unternehmen. In Norwegen sah man damals Potenzial: stabile politische Verhältnisse und die Chance, die schon damals bekannte hohe Abhängigkeit von russischem Erdgas zu reduzieren. „Im Jahr 2014 lautete meine Langfriststrategie: Ein Drittel des Gases aus Russland und Österreich, ein Drittel aus Rumänien (Neptun-Projekt; Anm.) und ein Drittel aus Norwegen“, so Roiss.
Im Herbst 2014 schwand dann nicht nur die Macht des Oberösterreichers innerhalb des Konzerns. Auch in Stavanger wehte kurz darauf schon ein anderer Wind. So wollte Roiss’ Nachfolger Rainer Seele im Jahr 2016 fast 40 Prozent des Norwegengeschäfts gegen Beteiligungen an einem sibirischen Erdgasfeld der russischen Gazprom eintauschen. Heute, acht Jahre und eine Absage der norwegischen Regierung an dem Tauschgeschäft später, besitzt die OMV (Norge) AS 35 Lizenzen für norwegische Erdöl- und Erdgasfelder, einige davon betreibt sie auch als Betriebsführerin. Innerhalb des Konzerns ist aber nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine klar, dass das Geschäft in der Nordsee ein höchst erfolgreiches für die OMV ist. Wie viel das Norwegengeschäft heute am Betriebsergebnis ausmacht, wollte die OMV auf profil-Nachfrage nicht beantworten, aber: „Norwegen ist mit einer Förderung von 75.000 boe (Barrel Öläquivalent; Anm.) pro Tag im Jahr 2023 das zweitgrößte Produktionsland im OMV Energy Portfolio“, heißt es im Statement.
Von den derzeit rund drei Milliarden Kubikmeter Gas der Felder Aasta Hansteen, Edvard Grieg ist in den vergangenen Jahren aber lange Zeit kein Gas in Österreich angekommen. Der Grund: der Langzeitvertrag bis 2040 mit der russischen Gazprom. Sechs Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas werden dadurch pro Jahr bis zur Erdgasdrehscheibe im niederösterreichischen Baumgarten geliefert. Womit der heimische Bedarf in den vergangenen Jahren stets zu einem Großteil gedeckt war. Weil die Transportkosten für das norwegische OMV-Gas quer durch Europa die Marge gedrückt hätte, war es lukrativer, dieses vor Ort oder an den Börsen zu verkaufen.
Sollte die OMV aus den Langzeitverträgen mit der Gazprom aussteigen, könnte das eigene Gas aus Norwegen in Zukunft aber eine wichtigere Rolle als bisher spielen, meint Roiss: „Wenn wir von circa sieben Milliarden Kubikmeter Gasverbrauch in Österreich ausgehen, kann die Hälfte davon mit der Produktion aus Norwegen gedeckt werden.“ Hinzu komme eine Milliarde Kubikmeter aus dem Weinviertel und Flüssiggas (LNG), wie es sich die OMV beispielsweise auch schon für den kommenden Winter aus den USA, Qatar und Abu Dhabi gesichert hat. Am Gas aus Norwegen soll es jedenfalls nicht scheitern: Im Sommer des vergangenen Jahres hat die norwegische Regierung den Betriebsplan für das Gas- und Ölfeld Berling abgesegnet, ab 2027/2028 soll dort produziert werden – mit der OMV (Norge) AS als Operator.
Unabhängigkeit von Russland möglich
Dass die Versorgung ohne russisches Erdgas funktioniert, beweist Deutschland. „Das ist ein Extrembeispiel, weil wir zuvor etwa die Hälfte unseres Bedarfs mit russischem Erdgas abgedeckt haben“, sagt der deutsche Energiemarktexperte Andreas Schröder: „Auch Polen und die meisten der baltischen Länder haben das bereits vor dem russischen Angriffskrieg gemacht, die haben das kommen gesehen und Vorbereitungen bereits vor dem Februar 2022 unternommen.“
OMV in Norwegen
Die teilstaatliche OMV ist an zahlreichen norwegischen Gasfeldern beteiligt und hat eine Niederlassung im Land.
Die hohe österreichische Abhängigkeit von russischem Gas wird laut Schröder auch in Deutschland intensiv verfolgt. „Vor allem im Lichte des UkraineTransitvertrages: Jeder weiß, der endet jetzt in zehn Monaten“, so Schröder, der seine Expertise bereits für die Internationale Energieagentur, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sowie die EU-Kommission einbrachte. Insgesamt hält er die Auswirkungen der endenden Durchleitung durch die Ukraine für nicht mehr so groß: „Russisches Erdgas macht derzeit nur noch unter sieben Prozent des europäischen Gasangebots aus, das sind überschaubare Mengen. Allerdings sind die Auswirkungen regional sehr bedeutend, nämlich für Österreich, die Slowakei, Ungarn und zum Teil auch für Italien.“
Kein Ende in Sicht
Zurück in Oslo. Dort erklärt Andersen, dass Norwegens Exportmengen im aktuellen Jahr ihren Höhepunkt erreichen werden, ab 2025 soll die Produktion dann langsam zurückgehen. Festgeschriebene Ausstiegszeitpunkte gibt es hier – anders als von der EU und in zahlreichen Staaten selbst festgelegt – aber nicht. Bis wann also wird Norwegen noch fossile Rohstoffe fördern? „Das ist eine große Frage“, sagt Andersen und überlegt länger als zuvor. „Ich denke, wir werden weiterhin ein bedeutender Öl- und Gasproduzent sein. Die Produktion wird zwar geringer sein und wir werden mehr Vielfalt und Aktivitäten auf dem Kontinentalschelf haben, wie zum Beispiel die Kohlenstoffabscheidung und -speicherung.“ Aber auch ein neuer Geschäftszweig soll laut dem Chefökonomen der Branchenvertretung eine Rolle spielen: „Wir vertreten auch Unternehmen, die die Möglichkeiten der Gewinnung kritischer Rohstoffe aus dem Meeresboden erforschen wollen, die für grüne Technologien verwendet werden sollen.“
Eine weitere Antwort auf die Frage nach dem Ende der norwegischen Fossilindustrie findet sich auch im norwegischen Ölmuseum in Stavanger: „Die künftigen Einnahmen der norwegischen Regierung hängen von politischen Entscheidungen ab – und von globalen Trends, die sich der nationalen Kontrolle entziehen.“ Es werden also noch Jahre vergehen, in denen nicht nur Norwegen mit Öl und Gas Milliarden verdienen wird – sondern auch die heimische OMV vom Geschäft am Kontinentalschelf profitiert.
Julian Kern
ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.