Wie russisches Gas weiterhin den Weg nach Österreich findet
Obwohl die OMV kein russisches Gas mehr bekommt, strömt dieses weiter nach Österreich, als wäre nichts gewesen. Die Spuren führen in unsere Nachbarländer und zu einer kleinen, unscheinbaren Gazprom-Tochter in Wien.
Es ist eine helle, unscheinbare Altbaufassade, wie sie in der Wiener Innenstadt ganz häufig anzutreffen ist. Im Erdgeschoß ein Drogeriemarkt, oben Wohnungen und Büros. Hinter den Gründerzeit-Gemäuern des Hauses im vierten Wiener Gemeindebezirk flossen allerdings allein im Vorjahr 817 Millionen Euro an Umsatzerlösen durch. In den Jahren und Jahrzehnten davor sogar Milliarden, allesamt Einnahmen aus dem Gasgeschäft der Centrex Europe Energy & Gas AG, einer hundertprozentigen Tochter der Gazprom Export des staatlichen russischen Gasriesen Gazprom.
Centrex Europe und ihre hundertprozentige Handelstochter, die Centrex Italia sind nur zwei von aktuell 342 Firmen, die am Central European Gas Hub in Wien – das ist die größte Gasbörse in Mittel- und Osteuropa – gelistet sind. Und einige von ihnen vertreiben nach wie vor russischen Pipelinegas, das über die Ukraine-Route kommt, in Österreich und ganz Europa. Trotz des Lieferstopps an die OMV sind die Gasflüsse nach Österreich über die Ukraine-Route fast ungebrochen. Wie kann das sein? profil sprach mit zahlreichen Brancheninsidern und durchforstete das Firmenbuch nach den Spuren des russischen Gases in Österreich.
Krisentreffen ohne Krise
Ortswechsel ins Bundeskanzleramt. Am Vorabend zum 16. November finden Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), Klima- und Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) und hochrangige Vertreter der OMV und der Energiebranche zu einem Krisentreffen zusammen. Der Grund: nur wenige Stunden davor hatte die OMV bekanntgegeben, dass sie kein russisches Gas mehr von der Vertragspartnerin Gazprom bekommen werde. Und das tut sie bis heute nicht. Kanzler Nehammer trat noch am Abend vor die Presse und polterte in Richtung Kreml: „Wir lassen uns von niemandem erpressen. Auch nicht vom russischen Präsidenten.“
Dass auch nach dem Lieferstopp an die OMV weiterhin russisches Pipeline-Gas über die Ukraine-Route fließen würde, dürfte den Beteiligten am Krisentreffen schon damals klar gewesen sein. Dass die Gasmengen, die über den Gasknotenpunkt in Baumgarten aus Russland gute zwei Wochen später fast genauso hoch ausfallen, wie vor dem Lieferstopp an die OMV, überrascht dann doch (siehe Grafik).
Ein Blick auf die Homepage des Verbands Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas (ENTSOG) zeigt: Heute kommt über die Ukraine-Route aus Russland nicht einmal um ein Fünftel weniger Gas an, als das vor dem Lieferstopp an die OMV der Fall war. Und: Die Gasflüsse aus Russland in die Slowakei sind nahezu unverändert. Auch Ungarn und Bulgarien bekommen wohl derzeit mehr russisches Gas, die Preise dort sind leicht gesunken.
„Wir gehen davon aus, dass die Liefermengen, die vorher an die OMV gingen, heute von anderen Energieunternehmen übernommen werden und diese können damit natürlich auch an der Gasbörse handeln“, sagt Leo Lehr vom Regulator E-Control dazu. Welche das sind? „Zu einzelnen Unternehmen können wir keine Auskunft geben.“
In der Slowakei ist in den vergangenen zwei Wochen tatsächlich etwas ungewöhnliches für die Jahreszeit passiert, erklärt ein Brancheninsider. Das Einspeichern von Erdgas ist gestiegen, während das Ausspeichern, also die Entnahme aus den Gasspeichern des Landes, etwas zurückgegangen sind. „Wir gehen davon aus, dass die slowakischen Gaskunden jetzt mehr russisches Gas bekommen und dass vieles davon in die slowakischen Erdgasspeicher fließt“, sagt der Brancheninsider, der über russisches Gas lieber nur anonym spricht. Keine Seltenheit bei dieser Recherche.
Eine Anfrage an den slowakischen Gasnetzbetreiber eustream blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Mögliche Hinweise auf die Frage, ob nun andere Energiefirmen größere Mengen russisches Pipelinegas kaufen, liefern die Daten des „Central European Gas Hub“ (CEGH), also der internationalen Gasbörse mit Sitz in Wien. Sie ist nicht ganz so groß wie die Niederländische TTF, aber immerhin der bedeutendste Gashandelsplatz in Zentraleuropa und seit vielen Jahren Drehscheibe für russisches Gas.
Im Vorjahr wurden hier 575,10 Terawattstunden (TWh) Gas gehandelt, im ersten Halbjahr heuer waren es schon 320,5. Und auch in den vergangenen zwei Wochen, also seit dem Lieferstopp an die OMV, sind die Gasvolumina, die über Wien vermarktet werden, jedenfalls nicht gesunken. Obwohl die OMV einen Teil ihres Russland-Gases selbst an der Börse handelte.
Nur zur Einordnung: Österreich, also alle Haushalte und Betriebe zusammen, haben im Vorjahr 75 TWh Gas verbraucht. Das waren rund 17 Prozent weniger als im Jahr davor. Das bedeutet aber auch: Das Gas, das hier gehandelt wird, fließt zu großen Teilen in unsere Nachbarländer weiter. Daran hat auch Russlands Krieg gegen die Ukraine wenig geändert.
Die eigene Gasleitung
Unter den 342 Firmen, die hier gelistet sind, finden sich heimische Industriebetriebe wie die Voest oder die Energieversorger Verbund und OMV. Aber auch die ungarische MOL, die slowakische eustream, Gazprom Austria und eben auch die Centrix sowie ihre Tochter Centrix Italia. Ein Blick in die Firmenbilanzen und dem letzten Bericht des Wirtschaftsprüfers gibt Einblicke, wie die hundertprozentige Gazprom-Tochter, die auch für die Bewirtschaftung des mittlerweile enteigneten Gasspeichers in Haidach zuständig war, selbst beachtliche Mengen Gas nach Österreich importierte und auch an der Gasbörse vertrieb.
Auf Konzernebene setzte Centrix im vergangenen Jahr 817 Millionen Euro um, der Gewinn vor Steuern betrug 22 Millionen Euro. Über 80 Prozent seines Umsatzes erwirtschaftete das Unternehmen am österreichischen Markt. Und noch etwas interessantes führt der Jahresabschluss zutage: Obwohl sich der Umsatz auf Konzernebene insgesamt von 1,9 Milliarden Euro 2022 auf 817 Millionen im vergangenen Jahr fast halbiert hat, ist er in Österreich deutlich gestiegen, nämlich von 454 Millionen auf 670 Millionen.
Im Aufsichtsrat der Centix Europe sitzen laut Firmenbuch auch hochrangige Manager der Gazprom Export. Und Centrix hatte selbst einen langfristigen Gasliefervertrag mit ihrer Konzernmutter, der vor gar nicht allzu langer Zeit aufgelöst wurde. Er wurde im Juli des Vorjahres beendet, nach fast 17 Jahren. Und zwar weil die Konzernmutter ihre eigene Tochter nicht mehr mit Gas belieferte, wie aus dem Konzernlagebericht 2023 hervorgeht.
Das Geschäftsmodell dürfte nun ein anderes sein: „Centrex Italia S.p.A (die hundertprozentige Handelstochter der Centrex Europe, Anm.) erwirbt Gasvolumina von Gazprom Italia auf Tagesbasis am österreichischen virtuellen Handelspunkt (AVTP) im Rahmen des abgeschlossenen EFET-Rahmenvertrages und veräußert weiter über die European Energy Exchange (EEXX)“, so der Bericht. Also über die Wiener Gashandelsbörse CEGH. Nur zur Einordnung: Die 1.891 Millionen Kubikmeter Gas, die im Vorjahr laut Konzernbericht gehandelt wurden, sind nur ein winziger Teil dessen, was an der hiesigen Gasbörse gehandelt wird oder über die europäischen Gazprom-Vertragspartner in EU fließt.
Eine Anfrage zum eigenen Gashandel ließ Centrix erst gar nicht zu. „Wir kommentieren das ganz grundsätzlich nicht", sagte eine Mitarbeiterin auf Nachfrage.
Aber klar ist: Nicht nur die heimische OMV hat ihre Lieferquellen diversifiziert. Gazprom braucht auch längst nicht mehr die OMV, um ihr Gas weiterhin in Österreich und weiter in ganz Europa zu vertreiben. Der eigentliche Schicksalstag steht noch bevor. Ab 1. Jänner will ja die Ukraine kein russisches Gas mehr durchleiten. Und wenn die Gasleitung tatsächlich gekappt wird, verliert wohl auch Wien seinen Status als Gas-Umschlagplatz für Europa.