Vom Gazprom-Vertrag bis Versorgungssicherheit: Österreichs Winter ohne russisches Gas
Die heimischen Energieversorger stellen sich auf den ersten Winter ohne russisches Gas seit fünf Jahrzehnten ein. Das hat nicht nur mit dem drohenden Lieferstopp zu tun, sondern auch mit einer Reihe von Schiedsverfahren gegen Gazprom.
„Es ist vorbei.“ Die Worte von Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang September in Richtung Moskau waren eindeutig. Damit meinte er den 2019 zwischen der Ukraine und Russland abgeschlossenen Gasliefervertrag, der Ende 2024 ausläuft. Ab 2025 will die Ukraine kein russisches Gas mehr durchleiten. Für Österreich könnte das ab Jänner der erste Winter seit gut 56 Jahren ohne russisches Pipeline-Gas werden. Denn jedes Gasmolekül, das in die Gasverdichtungsstation im niederösterreichischen Baumgarten ankommt, muss die Ukraine passieren.
Ob in einigen Wochen tatsächlich gar kein russisches Gas mehr über die Ukraine nach Westeuropa fließt, ist noch immer unklar. Die heimischen Energieversorger haben sich jedenfalls auf einen Ausfall eingestellt. Und viele trommelten in den letzten Monaten medienwirksam die Abkehr von russischen Gaslieferungen. Das hat aber nicht nur mit dem drohenden Lieferstopp über die Ukraine zu tun. Immer mehr europäische Energieversorger halten Schuldtitel aus Schiedsverfahren gegen die russische Gazprom in der Hand und könnten auch bei europäischen Unternehmen, die Verträge mit Gazprom haben, anklopfen, um ihre Schulden einzutreiben. Aber der Reihe nach.
Bis Anfang Oktober mussten die 30 größten heimischen Energiebetriebe dem Regulator E-Control ihre Ver-sorgungssicherheitskonzepte zeigen, Speicherverträge für Haushalte und die Fernwärme hinterlegen und Auskunft darüber geben, woher sie ihr Gas beziehen und was sie tun werden, wenn die größte Gasquelle ausfällt.
Freiwillig erfolgt diese Meldung nicht. Paragraf 121a des Gaswirtschaftsgesetzes verpflichtet seit diesem Jahr alle Energieunternehmen, die mindestens 20.000 Zählpunkte oder eine jährliche Abgabemenge von mehr als 300 Gigawattstunden haben, zur umfassenden Transparenz gegenüber dem Regulator.
„Wir beobachten schon, dass sich die Gasversorger darauf eingestellt haben, dass ab dem 1. Jänner kein russisches Gas mehr nach Österreich kommt“, sagt Carola Millgramm, Leiterin der Abteilung Gas bei der E-Control. Die übermittelten Daten werden gerade final ausgewertet. „Festzuhalten ist, dass alle großen Gasversorger der Verpflichtung nachgekommen sind und Daten zur Diversifizierung und Reduzierung der Abhängigkeit von russischem Gas vorgelegt haben“, sagt Carola Millgramm.
Das wird mitunter auch vollmundig verkündet. Die Wien Energie zum Beispiel verspricht, ab 2025 bilanziell gar kein russisches Gas mehr zu beziehen. Dafür habe man Lieferverträge mit drei nichtrussischen Handelspartnern abgeschlossen, heißt es auf Nachfrage. Die Kärntner Kelag gibt an, sogar der erste Landesenergieversorger zu sein, der seit Juli seine Kunden ausschließlich aus nichtrussischen Quellen beliefert.
„„Ich weiß nicht, woher diese Mär von billigem russischen Gas noch kommt. Das ist einfach falsch“, sagt Carola Millgramm, Leiterin der Abteilung Gas bei der E-Control.
Noch im August kamen aber laut dem Energiedashboard des Klimaministeriums 82 Prozent der Gasimporte aus Russland. Wie kann das sein? Nun ja: Es ist noch nicht Jänner. So banal das auch klingt, aber viele Diversifizierungsmaßnahmen schlagen erst ab 2025 zu Buche.
Zum anderen bezieht Österreichs größter Energiekonzern, die teilstaatliche OMV, nach wie vor beachtliche Mengen Gas aus Russland über die Ukraine-Transitroute. Nämlich ungefähr 60 Terawattstunden (TWh) jährlich. Das sind gut zwei Drittel des heimischen Jahresverbrauchs. Und: Die OMV ist zwar mit Abstand die größte Abnehmerin von russischem Gas, aber bei Weitem nicht die einzige, und sie verkauft ihr Gas auch nicht nur in Österreich. Am Central European Gas Hub (CEGH) in Wien, der österreichischen Gashandels-Börse, sind aktuell 342 Mitglieder gelistet. Also Unternehmen, die hier Gas verkaufen oder einkaufen. Auch die OMV rechnet mit einem Lieferstopp russischer Gaslieferungen ab Jänner, und dem Konzern käme das auch gar nicht ungelegen (siehe Seite 43).
Schiedssprüche gegen Gazprom
„Im Falle einer solchen Zwangsvollstreckung hält es OGMT (OMV Gas Marketing & Trading GmbH, Anm.) für wahrscheinlich, dass Gazprom Export die Gaslieferungen im Rahmen des Gasliefervertrags mit OGMT einstellen und damit den österreichischen Gasmarkt beeinträchtigen wird.“ Am 21. Mai musste die OMV mittels Aussendung vor nichts weniger als einem abrupten Lieferstopp aus Russland warnen.
Grund dafür ist ein Schiedsspruchtitel, den das polnische Energieunternehmen Orlen gegen Gazprom vor einem internationalen Schiedsgericht erwirkt hat, nachdem es 2022 von Gaslieferungen aus Russland abgeschnitten worden war. Das Management hat im Frühling drei Energieversorger in Österreich, Ungarn und der Slowakei gewarnt, dass es auf deren Zahlungen an Gazprom zugreifen könnte, sollte Gazprom seiner Zahlungspflicht nicht nachkommen. Passiert ist das auf Nachfrage bei OMV noch nicht.
Mittlerweile sind zahlreiche europäische Energiefirmen gegen Gazprom vors Schiedsgericht gezogen. Im Sommer bekam etwa die deutsche Uniper 13 Milliarden Euro an Schadenersatz zugesprochen, und dem Konzern wurde erlaubt, die bestehenden Lieferverträge mit Gazprom Export zu kündigen, weil das Unternehmen aufgrund der gesprengten Pipeline Nord Stream 1 kein Gas mehr aus Russland bekommen hatte. Auch die italienische Eni, die heimische OMV und weitere Energiekonzerne zogen vors Schiedsgericht.
Dass die Gazprom Export Zahlungsaufforderungen nachkommt, gilt als unwahrscheinlich. Zumal Russland keine Schiedssprüche aus Ländern anerkennt, die das Land sanktionieren. Außerdem hat sie so gut wie keine Vermögenswerte in der EU, auf die man zugreifen könnte. Gazprom-Gasspeicher wurden enteignet, Vermögenswerte zum Teil wieder nach Russland überführt. Also bleiben nur die Zahlungen, die andere Energieversorger für Gaslieferungen leisten.
Steigen die Gaspreise wieder?
Wenn der Gaspreis an den internationalen Gasbörsen ruckartig nach oben ausschert, ist das nie gut. Genau das ist aber vor nicht ganz zwei Wochen passiert, als die Großhandelspreise für Gas die 40-Euro-Marke (pro Megawattstunde) überschritten. „Die Märkte reagieren gerade etwas nervös, obwohl die Speicher eigentlich voll sind“, sagt der Energieexperte und ehemalige Leiter der E-Control, Walter Boltz. Tatsächlich sind die Gasspeicher derzeit mit 94 Prozent rappelvoll. Das bringt uns über den Winter und darüber hinaus.
„Die Gründe für diese Preisanstiege waren vielfältig, und das hat nicht unbedingt mit dem drohenden Transit-Stopp zu tun.“ Vielmehr liege das an der drohenden Eskalation zwischen dem Iran und Israel. Ein Fünftel des weltweiten Handels mit Flüssiggas (LNG) geht über die Straße von Hormus, die Meerenge zwischen dem Persischen und dem Golf von Oman. Wenn im Iran ein Krieg ausbricht und LNG-Tanker die Meeresenge nicht mehr sicher durchqueren können, steigt der Gaspreis. Außerdem gab es in den vergangenen Wochen Lieferausfälle in Norwegen – Europas größtem Gaslieferanten – und den USA.
„Ein Lieferstopp aus Russland könnte kurzfristig die Gaspreise etwas in die Höhe treiben, aber bei Weitem nicht in dem Ausmaß wie vor zwei Jahren. Und ich denke, dass danach die Preise auch rasch wieder sinken werden“, meint Boltz.
„Ein Lieferstopp aus Russland könnte kurzfristig die Gaspreise etwas in die Höhe treiben, aber bei Weitem nicht in dem Ausmaß wie vor zwei Jahren."
Walter Boltz, Energieexperte
„Ich weiß nicht, woher diese Mär von billigem russischen Gas noch kommt. Das ist einfach falsch“, drückt es Millgramm von der E-Control noch drastischer aus. Im Vorjahr gab Österreich 3,7 Milliarden Euro für russische Gasimporte aus, das berechnete das NEOS-Lab auf Basis von Energiehandelsdaten der Statistik Austria. Außerdem waren russische Gasimporte um gut ein Fünftel teurer als andere. Und auch in der Vergangenheit zahlte Österreich nicht unbedingt wenig für Gas als andere Länder.
Festhalten an russischen Lieferungen
Die Abkehr von russischen Gaslieferungen wird aber nicht überall gern gesehen, einige Akteure wollen die Gasleitung nach Russland weiterhin offenhalten – auch für die Zeit nach dem Krieg. Wie profil aus dem Umfeld der Industriellenvereinigung erfuhr, führen ein paar Industriebetriebe Gespräche mit slowakischen oder ungarischen Energieanbietern über mögliche Gaslieferungen aus Russland.
Zum Hintergrund: Neben Österreich beziehen auch Ungarn und die Slowakei noch beachtliche Mengen russisches Pipeline-Gas und wollen das weiterhin tun. So könnten die dortigen Energieversorger wie zum Beispiel die ungarische MOL eigene Transportkapazitäten buchen und Gas selbst über die Ukraine durchleiten. Auch die slowakische SPP hat zuletzt Interesse bekundet. Eben dort könnten auch heimische Industriekunden anklopfen und sich Liefermengen aus Russland sichern.
Der Gaspreis ist weiterhin über dem Niveau von vor der Ukraine-Krise und deutlich höher als etwa in den USA, was für die strauchelnde österreichische Industrie ein weiterer Wettbewerbsnachteil ist. Deshalb ist dort die Sorge vor weiteren Preisanstiegen groß.
Am härtesten trifft Europas Abkehr von russischem Gas übrigens die Gazprom selbst. 2022 war der Konzern laut Forbes Russland noch das mit Abstand ertragreichste russische Unternehmen. Im Vorjahr war Gazprom mit einem Verlust von umgerechnet sechs Milliarden Euro das am wenigsten profitable Unternehmen.
Das war 2023 – also lange vor einem möglichen Transitstopp.