IHS-Chef: "Vier-Tage-Woche ist derzeit Luxusthema"
Der neue IHS-Chef Holger Bonin über gute und böse Teuerungsmaßnahmen, was ChatGPT und Pflege gemeinsam haben und warum Professoren länger arbeiten sollen als Bauarbeiter.
Holger Bonin
Wenn wir über die Inflation sprechen, dann brauchen wir eine Mischung aus beiden. Wir haben auf der einen Seite ein Angebotsproblem. Sie haben die Lieferketten angesprochen, wir haben eine Verknappung bei den Fachkräften. Darauf reagieren Arbeitsmärkte, etwa durch höhere Löhne oder Anpassungen bei der Ausbildung. Daneben kann aber auch der Staat bessere Rahmenbedingungen schaffen, um zum Beispiel das Arbeitskräfteangebot voll auszuschöpfen. Auf der anderen Seite hatten wir nach Corona einen starken Nachfrage-Schub. Und gleichzeitig haben wir eine Energiekrise, wo aus geopolitischen Gründen in den Markt eingegriffen wurde. Hier kann der Markt nichts dafür, man muss politische Lösungen suchen und Sozialpolitik machen.
Wie stehen Sie denn zu Markteingriffen wie etwa einer Gas- und Strompreisbremse oder einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel?
Bonin
Ich bin Empiriker. Wir müssen uns anschauen, wo ein Marktversagen vorliegt und ob das der Staat durch einen Eingriff besser machen kann. Die Antwort für oder gegen Markteingriffe kann von Fall zu Fall ja oder nein sein. Bei der Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel wäre ich vorsichtig, weil wir in Österreich verhältnismäßig wenig Wettbewerb zwischen den Supermärkten haben. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die Kostenvorteile nicht an die Kunden weitergegeben werden, wenn ich nicht mit massiven Kontrollen in den Markt reingehe. Es ist außerdem keine zielgenaue Maßnahme. Wir haben ja die Debatte um die Gießkannenförderungen, die Inflation zusätzlich antreiben.
Was wären aus Ihrer Sicht drei gute und wichtige Maßnahmen, um die Inflation nachhaltig zu dämpfen?
Bonin
Die Tarifparteien, also die Sozialpartner, haben eine große Verantwortung. Ich würde empfehlen, die Laufzeiten der Kollektivverträge von zwölf auf 24 Monate zu verlängern. Es geht nicht darum, Reallohnverluste einzufordern, sondern den Inflationsausgleich auf eine längere Phase zu strecken. Dadurch senkt man die Wahrscheinlichkeit einer Lohnpreisspirale. Zweitens müssen wir über die Indexierung nachdenken. Eine automatische Anpassung an den Verbraucherpreisindex bei Mieten, kommunalen Diensten, bei der Energierechnung sind für jemanden, der von außerhalb kommt, ungewöhnlich. Man muss zum Beispiel in einer Krise nicht das Realeinkommen eines Vermieters absichern, der über mehr finanzielle Mittel verfügt und die Inflation anders zu spüren bekommt, als ein Mieter. Wobei es als Staat schwierig ist, in einen privatrechtlichen Mietvertrag einzugreifen. Bei der Müllabfuhr könnte man das einfacher umsetzen und überlegen, wie man den Gemeinden tatsächliche Kostensteigerungen kompensiert, ohne die gesamte Inflationsrate weiterzugeben. Und drittens brauchen wir gezielte Kompensationsmechanismen für Menschen, die sie tatsächlich brauchen, also im untersten Einkommensbereich. Und wir müssen die Mittel tatsächlich nur auf diese Gruppe beschränken. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir die Kosten der Inflation als Staat komplett abfedern können.
Welche drei Maßnahmen sollte die Regierung auf jeden Fall lassen?
Bonin
Die Gießkannenmaßnahmen befeuern die Inflation, aber das ist schon bekannt. Ich rate auch von pauschalen Preiseingriffen ab: In Deutschland haben wir keine guten Erfahrungen mit dem Mietpreisdeckel gemacht. Das entzog dem Mietmarkt Wohnungen. Und auch bei einer Absenkung der Mehrwertsteuer bin ich skeptisch. Das sind sehr breite Maßnahmen, die auch massive budgetäre Auswirkungen haben und die Staatsverschuldung nach oben treiben können.
Ihr Fachgebiet ist die Arbeitsmarktökonomie. Wir diskutieren gerade über Fachkräftemangel und qualifizierte Zuwanderung. Gleichzeitig haben wir viele zugewanderte Menschen im Land, die bei der Jobsuche Schwierigkeiten haben; teils auch gut qualifizierte.
Bonin
Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Die ersten Monate sind für zugewanderte Arbeitskräfte entscheidend. Je länger ein qualifizierter Zuwanderer seinem eigentlichen Beruf nicht nachgehen kann, desto eher gerät er bei der Integration auf eine schiefe Bahn. Qualifikationen gehen verloren, ganz ähnlich wie bei Langzeitarbeitslosen. Bei den Zugewanderten, die schon hier leben und nicht gut in den Arbeitsmarkt integriert sind, bleiben Weiterbildung und Umschulung, bevorzugt in Engpassberufe, sehr wichtig – auch wenn sie mühselig zu erreichen sind. Andererseits: Zu sagen, jetzt warten wir mal ab, bis wir alle, die in der Vergangenheit gekommen sind, in den Arbeitsmarkt integrieren und deshalb keine Migration in Mangelberufe zulassen, fände ich falsch. Allerdings ist auch klar: Mit Zuwanderung allein werden wir das Engpassproblem nicht lösen. Wir brauchen generell mehr Mobilität, nicht nur geografisch, sondern auch zwischen den Berufen. Und wir müssen über Arbeitsbedingungen nachdenken. Viele Pflegekräfte sind in der Pandemie in andere Berufsfelder gewechselt, weil die Arbeitsbedingungen nicht gut sind. Oder aus dem Gastgewerbe heraus und in Verkaufsberufe. Beides sind einfachere Jobs, die Bezahlung ist ähnlich, aber die Arbeitsbedingungen sind unterschiedlich. In den USA beobachten wir, dass wegen der Engpässe die Löhne in unattraktiven Bereichen besonders steigen. Und das wollen wir ja eigentlich. Wir wollen keine schlecht bezahlten Jobs mit miserablen Arbeitsbedingungen.
Man sollte nicht erwarten, dass der starke Wunsch der jungen Generation nach mehr Work-Life-Balance dadurch verschwindet.
Stichwort Arbeitsbedingungen: Viele junge Menschen haben heute keine Lust, Vollzeit zu arbeiten, aus unterschiedlichen Gründen. Was halten Sie von Forderungen nach einer Vier-Tage-Woche?
Bonin
Wir haben heute auch keine Sechs-Tage-Woche mehr und deshalb kann ich nicht ausschließen, dass wir irgendwann eine kürzere Woche haben werden. Aber im Moment ist das kein Phänomen für die Breite, sondern mehr eine Luxusdiskussion. Wenn wir über eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich sprechen, setzten wir voraus, dass die Produktivität in vier Tagen genauso hoch ist, wie in fünf. Das gilt aber bei weitem nicht für alle Berufe. Ein Koch kann nicht in vier Tagen genauso viele Essen kochen, wie in fünf. Viele Studien behaupten, dass weniger Arbeitstage ohne Produktivitätsverluste möglich sind, manche erwarten sogar Produktivitätssteigerungen. Wenn man sich die Daten genauer anschaut, hängen die Produktivitätsgewinne aber wohl eher mit organisatorischen Veränderungen in Verbindung mit der Arbeitszeitverkürzung zusammen als mit der Vier-Tage-Woche an sich. Im Übrigen ist die realisierte Arbeitszeit aber auch eine Wertefrage, junge Menschen haben heute andere Ziele. Wegen des demografischen Wandels ist diese Generation kleiner als die vorhergehende. Das führt zu steigenden Löhnen und die Pro-Kopf-Erbschaften nehmen zu. Es gibt viele Menschen, die es sich einfach leisten können, weniger zu arbeiten. Arbeitgeber müssen daher auch mehr sinnstiftende Arbeit anzubieten. Der Staat kann versuchen, Strukturen (Stichwort Kinderbetreuung, Anm.) und steuerlich Anreize für mehr Arbeit zu schaffen. Aber man sollte nicht erwarten, dass der starke Wunsch der jungen Generation nach mehr Work-Life-Balance dadurch verschwindet.
Bis 2050 wird sich der Anteil der über 65-Jährigen fast verdoppeln, während der Anteil der Erwerbstätigen stagniert oder sogar sinkt. Müssen wir länger arbeiten?
Bonin
Das hängt von der Produktivitätsentwicklung ab. Jeder Erwerbstätige muss pro Kopf in Zukunft viel mehr Ältere finanzieren. Ansonsten gilt: Wenn die Lebenserwartung steigt, müssen wir später in Pension gehen. Die unpopuläre Faustregel ist: Pro ein Jahr, das wir statistisch gesehen länger leben, sollten wir acht Monate später in Pension gehen. Dabei müssen wir aber unbedingt beachten, dass die Lebenserwartung nicht für alle Berufsgruppen gleich ist. Deshalb brauchen wir statt eines einheitlichen Pensionsantrittsalter ein ausdifferenziertes Rentensystem. Professoren können problemlos länger arbeiten. Der Bauarbeiter, der körperlich sehr schwer arbeitet, kann das nicht und soll es auch nicht. Weil er auch wahrscheinlich nicht so lange lebt, wie der Universitätsprofessor.
Die KI wird gerade zur fünften industriellen Revolution hochstilisiert, die massive Auswirkungen auf unser Arbeitsleben haben soll. Eine Studie der Investmentbank Goldman Sachs sieht in den USA gar 300 Millionen Jobs in Gefahr. Interessant ist, dass vor allem hoch qualifizierte, intellektuelle Arbeit davon betroffen sein soll und kaum das Handwerk oder die Care-Arbeit. Wie sehen Sie das?
Bonin
Die gleiche Debatte hatten wir schon vor zehn Jahren mit der Digitalisierung. 70 Prozent der Berufe, die es 1940 in den USA gab, gibt es heute nicht mehr. Dafür sind ganz neue Berufe entstanden. Wir müssen auch beobachten, was mit der freiwerdenden Zeit passiert, wenn KI gewisse Tätigkeiten im Arbeitsalltag übernimmt. Die Leute werden nicht zwangsläufig entlassen, ihre Berufsbilder ändern sich. Für Wissenschaftler ist ChatGPT eine enorme Hilfe, weil sie in der gleichen Zeit nicht ein, sondern drei wissenschaftliche Paper schreiben. Man sollte aber nicht denken, dass die durch KI ausgelöste Veränderung der Tätigkeiten nur die höher qualifizierten Arbeitnehmer trifft. Und ich meine das im positiven Sinn. Wenn jemand sich bisher schwertut, einen komplexeren Text zu verfassen, kann er oder sie das jetzt dank ChatGPT. Eine Pflegedokumentation ist zum Beispiel ein absolut routinisierter Text. Für eine Pflegekraft, die Deutsch nicht als Muttersprache hat, ist das mit ChatGPT einfacher und es geht auch schneller. Auch da würde sich das Berufsbild ändern und es kann neue berufliche Chancen für geringer qualifizierte Menschen bedeuten.
Professoren können problemlos länger arbeiten. Der Bauarbeiter, der körperlich sehr schwer arbeitet, kann das nicht und soll es auch nicht. Weil er auch wahrscheinlich nicht so lange lebt, wie der Universitätsprofessor.
Sie sind ein Arbeiterkind. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeiterkind in Österreich ein Masterstudium beginnt, liegt bei rund sieben Prozent. Abgesehen von der Gerechtigkeitsfrage, birgt das nicht volkswirtschaftliche Nachteile, wenn sich intellektuelles Potenzial nur aufgrund der Herkunft nicht entfalten kann?
Bonin
Ja, absolut. Wir haben ja schon über den Fachkräftemangel gesprochen. Es müssen nicht alle Institutsleiter werden. Es würde schon helfen, wenn junge Menschen mit einer beruflichen Qualifikation in den Arbeitsmarkt kommen. In vielen Fällen scheitert das aber. Das ist in Deutschland übrigens ganz ähnlich. Ein wesentlicher Grund für den misslingenden sozialen Aufstieg sind übrigens fehlende Netzwerke. Ob man beruflich nach oben kommt, hängt auch davon ab, wen ich kenne. Ich war der erste in meiner Familie, der eine Universität besucht hat. Ich konnte niemanden fragen, wie es dort zugeht und was dort passiert.
Was kann man dagegen tun?
Bonin
In der Schule ist es oft zu spät. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass es am besten ist, soziale Benachteiligung schon während der Schwangerschaft zu identifizieren. Wir haben an meinem früheren Institut eine Langzeitstudie dazu ausgewertet. Wir sehen sogenannte Risikounterschiede schon nach zwei bis drei Jahren in der frühkindlichen Entwicklung. Der Wirtschaftsnobelpreiseträger Jim Heckmen kam etwa zum Schluss, dass 50 Prozent des Lebenseinkommens in den ersten zwei Lebensjahren determiniert werden. Es lohnt sich also, schon ganz früh hinzuschauen und Eltern durch Sozialarbeit zu unterstützen. Natürlich muss sich auch in den Schulen etwas tun. Die Ganztagsschule mit gezielter Lernförderung ist sicherlich ein gutes Instrument. Und ich halte auch eine gute soziale Durchmischung für sehr wichtig. Das ist bei besser qualifizierten Eltern unpopulär; für Kinder aus bildungsfernen Familien aber sehr wichtig und da sind wir wieder bei den Netzwerken. Kenne ich jemanden, für den es ganz selbstverständlich ist, auf die Universität zu gehen? Der Wohnort – also ein besseres oder schlechteres Viertel - ist oft eine Quelle für soziale Segregation. Das müsste man aufbrechen und schwächere Schüler gezielt an die Hand nehmen, die zu Hause nicht die nötige Förderung bekommen.
In Deutschland verteilt die Leibnitz-Gesellschaft öffentliche Förderungen nach ganz klaren Vergabe- und Evaluierungskriterien an die Forschungsinstitute. In Österreich kommt das Geld oft direkt von der Politik und aus den Ministerien. Haben Sie Sorge vor möglichen politischen Interventionen?
Bonin
Wenn ich Bedenken hätte, dass das passiert, wäre ich nicht gekommen. Wir haben dreijährige Förderperioden und werden durch die Österreichische Nationalbank und das Finanzministerium finanziert. Bei der ministeriellen Grundförderung gibt es immer politische Risiken, die gibt es bei der Leibnitz Gemeinschaft aber auch, weil sie öffentliche Gelder durchreicht. Auch da könnte es passieren, dass Mittel irgendwann einfach gekürzt werden. Im Übrigen haben wir uns als Institut eine Selbstverpflichtung zur Transparenz auferlegt. Das heißt, dass die Studien auch irgendwann veröffentlicht werden. Ich versuche, das Bewusstsein dafür zu schärfen.
Jede Ihrer Studien wird veröffentlicht?
Bonin
Zu einem sehr, sehr hohen Anteil. Im Idealfall sollten es 100 Prozent sein. Es gibt aber auch nachvollziehbare Gründe, warum das nicht immer geht. Wenn man zum Beispiel einen Rahmenvertrag mit einem Ministerium hat, wo man im politischen Prozess kurzfristig Modelle durchprobiert und durchrechnet, die dann sofort wieder verworfen werden, kann ich verstehen, dass die Ergebnisse nicht in Echtzeit an die Medien kommuniziert werden. Das sollte aber die Ausnahme sein. Der zweite Aspekt ist die allgemeine Zuteilung von Mitteln. Wir haben in Österreich allgemein eine hohe Drittmittelquote. Und das ist ein entscheidender Hebel: Wenn die Politik hervorragende Wirtschaftsberatung haben will und die Institute gute Karrieremöglichkeiten für die besten deutschsprachigen Wissenschafter bieten sollen, ist die Grundfinanzierungsquote zu niedrig. In Deutschland ist eine Drittmittelquote von 30 Prozent üblich, hier ist es rund die Hälfte.
Wäre eine Forschungsförderung nach deutschem Vorbild in Österreich sinnvoller?
Bonin
Das deutsche Modell hat Vorteile: Es gelten für alle einheitliche Standards. Über die Gemeinschaft sind mehrere Institute gebündelt und das erhöht auch die Verhandlungsmacht gegenüber Geldgebern. Was ich auch für ein Problem halte: An deutschen Instituten ist es üblich, dass Bereichsleiter auch an deutschen Universitäten als Professoren berufen sind. In Österreich ist das unüblich. Das ist ein Standortnachteil, wenn es darum geht, junge, ambitionierte Forscherinnen für die Forschungsgruppenleitung zu gewinnen. Das alles sind aber größere Veränderungen, die natürlich nicht von heute auf morgen passieren können.
Holger Bonin
leitet ab Juli das Institut für Höhere Studien (IHS). Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Kassel und leitete zuvor das deutsche Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA). Er forscht verstärkt zu Arbeits- und Bildungsökonomie.