Herlitschka: „Fragmentierung ist keine gute Entwicklung“
Infineon-Österreich-Chefin Sabine Herlitschka über den Mikrochip-Krieg zwischen den USA und China, Österreich zwischen den Fronten und warum sie heimische Bildungspolitik aufwühlt.
So, wie wir hier zu dritt zusammensitzen, wie viele Mikrochips haben wir bei und an uns?
Herlitschka:
Im Handy haben Sie die Mikrofone, das sind meist vier Chips. Dann haben Sie beim Energiemanagement eine Reihe von Chips dabei. In den Antennen sind Mikrochips, sie sind Hochfrequenztechnologie. Wenn wir in unsere Handtaschen schauen, gibt es dort Kreditkarten, die Bankomatkarte, die Gesundheitskarte. Im Reisepass ist auch ein Mikrochip eingeschweißt. Wenn Sie einen Computer dabeihaben, sind dort noch mal eine ganze Menge Chips eingebaut. Sehr viele also.
Aus wie vielen Ländern stammen all die Komponenten dafür?
Herlitschka:
Entlang der gesamten Lieferkette: aus vielen; in der Chipherstellung, im Design, in der Warenproduktion, in der Integration der Chips. Dann gibt es noch eine Testphase, bevor man einen Halbleiter schlussendlich einbauen kann, zum Beispiel in ein Auto oder in ein Handy. Beim Chipdesign sind direkt zwölf Länder beteiligt, indirekt sind 27 Länder weltweit involviert. Bei der eigentlichen Produktion, die ein sehr komplexer Vorgang mit vielen Komponenten ist, kommen die Teile und Verfahren oft aus bis zu 40 Ländern. Sie sehen, das ist eine hoch spezialisierte, globalisierte Industrie. Jeder ist ein Stück vom anderen abhängig.
Sie haben am Infineon-Standort in Villach im Vorjahr 9,4 Milliarden Chips produziert. Wo werden diese jetzt verbaut?
Herlitschka:
Der Großteil findet sich beispielsweise in Windrädern, in Photovoltaik-Elementen, in Motorsteuerungselementen, also im Auto, in Zügen wieder. Wir stellen sogenannte Leistungselektronik her, also Mikrochips, die so effizient leiten, dass möglichst wenig Energie verloren geht. Und damit sind wir auch in der Lage, sehr viel CO2 einzusparen. Die etwas mehr als neun Milliarden Chips können so sieben Millionen Tonnen CO2 einsparen, das ist die Hälfte der jährlichen Pkw-Emissionen in Österreich. Deshalb nennen wir sie Energiesparchips.
Die EU hat mit dem European Chips Act 43 Milliarden Euro in die Hand genommen, um die europäische Chips- und Halbleiter-Produktion zu stärken. Das Ziel ist ein Weltmarktanteil von 20 Prozent bei der Produktionsleistung, derzeit sind es zehn.
Herlitschka:
Seit der Pandemie ist vielen Menschen bewusst geworden, wie essenziell Mikroelektronik, sprich Chips, sind. Ganze Automobil-Bänder sind gestanden, weil Chips gefehlt haben. Mikroelektronik ist eine strategische Schlüsseltechnologie, die in fast alle großen Anwendermärkte einwirkt. Rund die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung hängt direkt oder indirekt von der Halbleiter-Industrie ab. Deswegen haben viele Länder Programme aufgelegt, um in dieser mittlerweile geopolitisch relevanten Technologie über Know-how und Produktionsstätten zu verfügen. Es geht dabei um strategische Autonomie. Deshalb auch der Europäische Chips Act. Das ist grundsätzlich ein sehr guter Schritt. Gleichzeitig ist er in einem Zusammenspiel von europäischen und nationalen Geldern aufgesetzt. Das heißt, von den 43 Milliarden fließen rund 3,3 Milliarden in Forschung und Entwicklung. Die restlichen rund 40 Milliarden für innovative Investitionsaktivitäten müssen von den einzelnen Mitgliedsländern finanziert werden. Deutschland oder Frankreich haben das schon intensiv gemacht. Österreich bereitet sich intensiv vor, dazu gab es den Chips-Gipfel der Bundesregierung. Für Österreich ist das ein sehr wichtiger Schritt, denn im Europavergleich hat sich Österreich in der Mikroelektronik eine herausragende Spitzenposition in Forschung, Entwicklung und Produktion erarbeitet.
Ich finde es gut, sich ambitionierte Ziele zu setzen. Aber wir haben derzeit etwas unter zehn Prozent des weltweiten Produktionsanteils. Und das vor dem Hintergrund, dass sich der Halbleiter-Markt in den nächsten Jahren insgesamt verdoppeln wird.
Ist eine Verdoppelung des Marktanteils bis 2030 überhaupt realistisch?
Herlitschka:
Ich finde es gut, sich ambitionierte Ziele zu setzen. Aber wir haben derzeit etwas unter zehn Prozent des weltweiten Produktionsanteils. Und das vor dem Hintergrund, dass sich der Halbleiter-Markt in den nächsten Jahren insgesamt verdoppeln wird. Das heißt, es ist eigentlich eine Vervierfachung, die wir hier in Europa anstreben. Wir haben als Fachverband der Elektro- und Elektronikindustrie geschätzt, wie viele Investitionen bis 2030 nötig sind, um dieses Ziel zu erreichen. Es werden geschätzt rund 500 Milliarden Euro an privaten und öffentlichen Geldern in allen EU-Ländern sein. Vor diesem Hintergrund ist der Chips Act mit 43 Milliarden ein wichtiger Beitrag, aber weitere Schritte sind nötig.
Nur drei der 20 größten Halbleiterproduzenten weltweit haben ihr Headquarter in Europa. Woran liegt das?
Herlitschka:
Die Halbleiter-Industrie ist eine globale Industrie. Vieles wurde in den vergangenen Jahren insbesondere nach Asien verlagert, das hatte für Endkunden den Vorteil deutlich billigerer Produkte, nachvollziehbar an der Preisentwicklung von vielen elektronischen Geräten. Europäische Unternehmen müssen sich durch noch bessere Produkte und Prozesse im Wettbewerb mit Billiglohnländern durchsetzen. Gleichzeitig braucht es wettbewerbsfähige Standortbedingungen auch in Europa, Stichwort Energiekosten, Inflation, Automatisierung und Digitalisierung. Ein europäischer „Green Deal“ für die grüne Transformation ist ein wichtiger Schritt. Europa ist hier im Vergleich gut, wir reduzieren schneller CO2 als andere Regionen und emittieren deutlich weniger. Er wird aber nur dann für uns alle, Gesellschaft und Wirtschaft, gelingen, wenn er auch unsere globale Wettbewerbsfähigkeit stärkt.
Der Ökonom Simone Tagliapietra vom Brüsseler Thinktank Bruegel meinte zuletzt: Das Problem der EU ist nicht, dass es ihr an einer grünen Industriepolitik fehlt, sondern dass sie 27 davon hat. Hat er recht?
Herlitschka:
Ja, absolut. Wir müssen unsere Ressourcen zusammenlegen, stärker als Europäische Union denken und agieren. Das europäische Wettbewerbs- und Beihilfenrecht ist in den 1950er-Jahren entstanden, als es darum ging, den Wettbewerb zwischen den EU-Ländern zu regeln. Heute sind wir aber in einem geopolitischen Wettbewerb mit China und den USA. Und hier muss Europa seine Stärke auf die Waage bringen. Und wir müssen stärker und positive Anreize steuern als über Regulierung. Die USA tun das sehr erfolgreich, etwa mit dem „Inflation Reduction Act“.
Stichwort geopolitischer Wettbewerb: Der US Chips Act sieht neben den von Ihnen genannten Investitionen auch ein Verbot für den Verkauf von Mikrochips an Fabriken in China vor. Welche Auswirkungen hat das auf Ihr Unternehmen?
Herlitschka:
Wir halten uns selbstverständlich an die bestehenden Regelungen und Vorgaben.
Aber dürfen Sie aufgrund dessen jetzt weniger Chips an China verkaufen? Wie viel kostet Sie das?
Herlitschka:
Ich möchte die Frage so beantworten: China ist weltweit der größte Markt für Halbleiter, 29 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet Infineon auf Konzernbasis mit China. Und die Hälfte der Produkte, die aus diesem Umsatz dort entstehen, werden dann aus China woandershin exportiert. Und noch ein Punkt: China hat natürlich auch erkannt, wie wichtig die grüne Transformation ist. Und hier kommt wieder unsere Leistungselektronik ins Spiel. Eine konkrete Zahl kann ich aktuell nicht nennen.
Der Handelskrieg zwischen China und den USA wird immer aggressiver. Was bedeutet das für ein global tägiges europäisches Industrieunternehmen?
Herlitschka:
Die zunehmende Fragmentierung ist keine gute Entwicklung. Aus zwei Gründen nicht: Die Mikroelektronik ist eine globale Industrie. Bei einer globalen Industrie erzielt man Vorteile für die Kundinnen und Kunden, weil man die Wertschöpfungskette optimieren kann. Das heißt, wenn es hier zu einer Einschränkung kommen würde, dann besteht die Gefahr, dass es damit auch Nachteile für Kundinnen und Kunden gibt. Zweitens: Die größte globale Herausforderung ist gerade der Klimawandel. Das kann man nur gemeinsam lösen.
China drohte auch immer wieder mit einem Einmarsch in Taiwan. Das ist eine Schlüsselregion für die globale Halbleiterproduktion. Welche Auswirkungen hätte eine Eskalation für die Halbleiter-Industrie?
Herlitschka:
Ein Konflikt zwischen China und Taiwan hätte ganz massive, weit reichende Auswirkungen in wirtschaftlicher, in politischer, aber auch in sozialer Hinsicht. Taiwan hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr viel Kompetenz auf dem Gebiet der Halbleiter aufgebaut und ist führend bei der reinen Auftragsfertigung von Mikrochips.
In öffentlichen Diskussionen äußern Sie sich immer wieder emotional zum Thema österreichisches Bildungssystem. Was genau wühlt Sie denn so auf?
Herlitschka:
Wir leben in einer Zeit massiver technologischer Veränderungen, die auch mit vielen Chancen einhergehen. Mir geht es darum, dass das Bildungssystem die Menschen fit macht für die Herausforderungen und für die Chancen, die das Leben bietet. Und das fängt bei den kleinen Kindern an. Infineon engagiert sich intensiv in diversen Bildungsinitiativen. In den vergangenen Jahren hatten wir so Kontakt mit rund 90.000 jungen Menschen. Zusätzlich haben wir mit Partnern eine internationale Kindertagesstätte mit rund 250 Plätzen in Villach für Kleinkinder und Kindergartenkinder mit einem Schwerpunkt auf Naturwissenschaften und Technik. Warum? Alle Eltern bemerken, Kinder sind eigentlich geborene Naturwissenschafter:innen. Jeder, der Kinder hat, weiß, wie nachdrücklich sie sind, wenn sie fragen: Warum scheint die Sonne? Warum regnet es? Warum ist das Gras grün? Wir als Erwachsene geben nicht immer gute Antworten darauf. Aber jedes Kind will das wissen, Buben und Mädchen. Später stellen wir fest, dass wir zu wenig junge Menschen in Technik und Naturwissenschaften haben, vor allem Frauen. Wenn ich lese, dass 55 Prozent der Kinder nach der achten Schulstufe nicht die Bildungsstandards in Deutsch und Mathematik erfüllen können, dann bringt mich das in Rage.
In Salzburg wird gerade flächendeckend über eine Herdprämie für Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen, statt in den Kindergarten zu schicken, diskutiert. Was sagen Sie dazu?
Herlitschka:
Wir fordern seit geraumer Zeit als Sozialpartner plus Industriellenvereinigung den Ausbau der ganztägigen Kinderbetreuung. Warum? Es geht hier nicht primär um Kinderbetreuung, sondern um Kinder und Bildung. Es gibt unzählige Studien, die zeigen, dass Kinder mit Möglichkeit zur frühkindlichen Betreuung und Bildung deutliche Vorteile daraus ziehen. Und wir setzen uns seit Langem massiv dafür ein. Wenn das gelingt, werden auch mehr Frauen aus der „Teilzeitfalle“ mit allen damit verbundenen negativen Auswirkungen kommen können. Echte Freiwilligkeit beginnt mit einem deutlich stärkeren Angebot für qualitätsvolle ganztägige und ganzjährige frühkindliche Betreuung und Bildung. Ich plädiere sehr dafür, dass sich hier nach dem Modell der Schulen die Gemeinden beim Ausbau von Kindergärten stärker zusammentun; natürlich inklusive der betrieblichen Ebene. Das wäre eine sinnvolle Maßnahme gegen den massiven Fachkräftemangel. Allein in der Elektro- und Elektronikindustrie fehlen 14.000 Fachkräfte. Das gefährdet das Erreichen der Klimaziele, weil schlicht zu wenig Leute zum Beispiel Windräder und PV-Anlagen montieren können.
Zur Person
Sabine Herlitschka (57) ist seit 2014 Vorstandsvorsitzende der Infineon Technologies Austria AG und im Präsidium des Fachverbands der Elektro- und Elektronikindustrie.