Inside Sozialversicherung
Mitte Juli 2022 flogen beim Dachverband der Sozialversicherungsträger die Fetzen: Zunächst stellte das oberste Funktionärsgremium den operativen Chef des Hauses, Büroleiter Martin Brunninger, dienstfrei. Die Rede war von einem möglichen Verstoß gegen interne Vorgaben bei Finanzveranlagungen. Als Reaktion darauf legte Brunninger seinen Job zurück – und klagte den Verdienstentgang aus seinem Vertragsverhältnis, das noch knapp ein Jahr gedauert hätte, ein. Im profil-Interview wies er alle Vorwürfe zurück. Brunninger geht davon aus, dass es von Funktionärsseite einen Plan gab, ihn – einen Quereinsteiger in der von politischen Funktionären getriebenen Welt der Sozialversicherung – loszuwerden.
Verhärtete Fronten auf beiden Seiten, eine endgültigen Klärung wird wohl erst vor Gericht stattfinden. Doch wie man es dreht und wendet: Die Causa kann Auswirkungen auf Versichertengelder haben. Und da ist es natürlich schon jetzt relevant, einen Eindruck davon zu gewinnen, was wirklich vorgefallen ist.
Geleakte Aufnahmen
Einen ersten tieferen Einblick ermöglicht nun eine geleakte Tonaufnahme, die profil vorliegt. Erstellt wurde sie allem Anschein nach bei einer – „Townhall“ genannten – internen Informationsveranstaltung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Dachverbands wenige Tage nach dem jähen Abgang Brunningers. Auf der Aufnahme zu hören ist offenbar die rot-schwarze Funktionärsspitze des Dachverbands bestehend aus der hochrangigen Gewerkschafterin Ingrid Reischl und dem Obmann der Selbständigen-Sozialversicherung Peter Lehner (ehemals ÖVP-Stadtrat in Wels).
Das hätte mich alleine nicht sehr beunruhigt. Wir wissen alle, dass es Herausforderungen gibt mit Veranlagungen. Auch in der AUVA, wo ich stellvertretende Obfrau bin, haben wir schon Krisensitzungen gehabt. Das hätte mich nicht so irritiert.
Laut Aufnahme werfen die Funktionäre Brunninger vor, er habe – kurzgesagt - 65 Prozent der Dachverbandsgelder in sogenannten Spezialfonds veranlagt, obwohl es eine Obergrenze von 45 Prozent gebe. Außerdem soll der Büroleiter die Funktionärsspitze darüber nicht informiert haben, obwohl die Geschäftsordnung dies vorsehe. Das Gefühl, übergangen worden zu sein, störte Reischl offenbar mehr als die Frage, ob daraus tatsächlich Verluste entstehen könnten. Auf der Aufnahme heißt es, sie wäre letztlich informiert worden, dass sich drei Spezialfonds „im Fall“ befänden. „Das hätte mich alleine nicht sehr beunruhigt. Wir wissen alle, dass es Herausforderungen gibt mit Veranlagungen. Auch in der AUVA (Anm.: Allgemeine Unfallversicherungsanstalt), wo ich stellvertretende Obfrau bin, haben wir schon Krisensitzungen gehabt. Das hätte mich nicht so irritiert.“
„Keine wirklichen Befürchtungen“
Eine bemerkenswerte Aussage: Sowohl beim Dachverband als auch bei der AUVA geht es letztlich um Versichertengelder. Gegenüber den Mitarbeitern wurde zunächst in den Raum gestellt, dass der Dachverband durch eine faktische Bindung von Geldern in den Fonds Liquiditätsprobleme bekommen könnte. Brunningers ehemaliger Stellvertreter, der nun selbst als Büroleiter agiert, sagte jedoch bereits bei der „Townhall“, dass man „keine wirklichen Befürchtungen“ habe. War das Veranlagungsthema lediglich ein willkommener Anlass, um Brunninger loszuwerden?
Auf profil-Anfrage erneuerte man seitens des Dachverbands den Vorwurf, Brunninger habe in Zusammenhang mit den Veranlagungen „seine Dienstpflichten wiederholt und grob schuldhaft, wenn nicht (bedingt) vorsätzlich oder gar wissentlich verletzt“. Man habe daher keine Alternative zur Dienstfreistellung gehabt. Dass Verluste entstanden wären, wird nicht behauptet: „Der Dachverband ist finanziell stabil aufgestellt und kann seinen laufenden Verpflichtungen nachkommen.“ In der „Townhall“ hat das von Funktionärsseite noch deutlich bedrohlicher geklungen. Da hieß es laut Aufnahme noch: „Das Cashmanagement wird herausfordernd werden.“ Möglicherweise müssten andere Sozialversicherungsträger Unterstützung leisten. Schon damals wurde übrigens klargestellte, dass die Finanzveranlagungen nicht gegen das Sozialversicherungsgesetz (ASVG) verstoßen hätten.
Brunninger bestreitet Vorwürfe
Was heißt all das für das laufende Gerichtsverfahren? Brunninger erklärt auf Anfrage, dass die interne Veranlagungsleitlinie mit der 45-Prozent-Beschränkung aus einer Zeit stammte, in der noch keine Negativzinsen auf Bankguthaben anfielen. Die Leitlinie habe sich bereits „aufgrund der Empfehlung und unter Einbindung von externen Kapitalmarktexperten“ in Änderung befunden und sei lediglich vor der Veröffentlichung im Intranet umgesetzt worden, um durch die stärkere Veranlagung in Fonds Negativzinsen zu vermeiden: „Es war zu jedem Zeitpunkt genügend Liquidität vorhanden.“ Brunninger teilte auch mit, er habe die Funktionärsspitze regelmäßig über die Veranlagungen des Dachverbands informiert – etwa in Form von Quartalsberichten oder bei Besprechungen. Verluste könnten bei den Fonds nur dann entstehen, wenn sie vorzeitig aufgelöst würden. Dafür bestehe jedoch „nicht einmal ansatzweise die Notwendigkeit“.
Der studierte Biochemiker und Gesundheitsökonom Brunninger war, bevor er Büroleiter des Dachverbands wurde, viele Jahre lang bei Investmentbanken im Ausland tätig gewesen. Von Anfang an lastete ihm die Nachrede an, er habe seinen Job auf einem FPÖ-Ticket erhalten. Er selbst betont jedoch, kein Blauer zu sein. Der Aufstieg Brunningers und seines – als ÖVP-nahe geltenden - Stellvertreters ist eng mit der türkis-blauen Kassenreform verknüpft, die von Anfang an unter Umfärbeverdacht stand und der Öffentlichkeit von der Politik mit falschen Versprechen wie einer angeblichen Patientenmilliarde verkauft wurde. Rote Gewerkschafter bekämpften die Reform vom ersten Tag an und ließen seither nichts unversucht, ihren jahrzehntelangen Einfluss in der Sozialversicherung wieder zurückzugewinnen. Unlängst erhielten die Arbeitnehmervertreter vor dem Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Recht, was ihre Kritik an bestimmten Umständen der Bestellung Brunningers und seines Vizes anbelangt. So sei etwa die Gewerkschafterseite nicht zeitgerecht zu Sitzungen eingeladen worden und hätte nicht in alle relevanten Unterlagen Einsicht erhalten, urteilte der VwGH.
Wer verkauft die Leistung nach außen?
Zuletzt schien es allerdings so, als hätten sich Arbeiternehmer- und Arbeitgebervertreter an der Sozialversicherungsspitze wieder besser miteinander arrangiert. Brunninger hingegen blieb ein Fremdkörper im funktionärsgetriebenen System. Auch die Tonaufnahme deutet darauf hin, dass Dachverbands-Obfrau Reischl insgesamt wenig glücklich mit dem eigenständigen Agieren des Managers gewesen sein dürfte: „Er hat sich schwergetan, Selbstverwaltung zu akzeptieren, und hat sich schwergetan mit unserem Regelwerk.“ Unter „Selbstverwaltung“ versteht der gelernte Österreich die – durch und durch politische – Verwaltung der Sozialversicherung durch Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter.
Kurioserweise setzte Reischls Stellvertreter Peter Lehner laut Aufnahme bei der „Townhall“ zu einer wahren Lobrede darauf an, was in den vergangenen Jahren durch den Dachverband bewerkstelligt worden sei. Dabei fielen Wörter wie „hervorragend“, „sensationell“ oder „international großartig“. Dann hieß es, Brunninger würde sich nun als Projekttreiber für viele Dinge darstellen, wo doch normalerweise unter anderem „die Selbstverwaltung“ – gemeint wohl: die Funktionäre – die Leistungen des Dachverbands nach außen verkaufe.
profil hat Reischl, Lehner sowie Brunningers Stellvertreter mit Aussagen von der Tonbandaufnahme konfrontiert. Bestritten wurden diese nicht. Die Pressestelle des Dachverbands teilte lediglich mit: „etwaige dachverbandsinterne Kommunikationsinitiativen, deren Echtheit in dieser Form nicht geprüft werden können“, seien „unerheblich und werden nicht kommentiert“.
Die AUVA wiederum teilte – gefragt nach allfälligen Veranlagungsproblemen und Krisensitzungen – mit: „Aufgrund der Veranlagungsvorschriften für Sozialversicherungsträger sind Rücklagen sehr Risikoavers zu veranlagen. Dadurch ist auch in einem außergewöhnlichen Marktumfeld (Corona- und Ukrainekrise) ein hohes Maß an Sicherheit gegeben.“ Krisensitzungen habe es nicht gegeben.