Inside Wirecard: Von "Korpsgeist" und "Treueschwüren"
Ist es denkbar, dass der langjährige Vorstandschef eines deutschen DAX-Konzerns nicht mitbekommt, dass in seinem Unternehmen eine Schattenstruktur existiert, eine Firma in der Firma, die auf Kosten von Gläubigern und Anlegern eigene Zwecke verfolgt? Geht es nach Markus Braun, dann lautet die Antwort sinngemäß: ja.
Braun, ein Österreicher, Jahrgang 1969, war zwischen 2002 und 2020 Geschäftsleiter des kollabierten Finanzdienstleisters Wirecard AG mit Sitz in Aschheim nahe München; er selbst sitzt derzeit in deutscher Untersuchungshaft.
Brauns bisherige öffentliche Verantwortung war sparsam, aber unzweideutig. Er sieht sich als Opfer der Malversationen seines ehemaligen Vorstandskollegen Jan Marsalek, auch er ein Österreicher. Der 40-Jährige ist seit dem Vorjahr auf der Flucht, die deutsche Justiz hat ihn europaweit zur Verhaftung ausgeschrieben.
Braun und Marsalek stehen im Zentrum staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen in Deutschland (StA München I) und Österreich (WKStA Graz). Im Kern geht es um den Verdacht des Betrugs, der Untreue und der Bilanzfälschung. Gemeinsam mit weiteren Beschuldigten sollen die Manager ein Konstrukt aus Scheingeschäften geschaffen haben, um so Verluste zu verschleiern. Und das über mehrere Jahre. Unter den Augen des eigenen Aufsichtsrats und der Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young sollen sie Umsätze und Guthaben erfunden und damit immer neues Geld bei Financiers aufgestellt haben. Als Wirecard im Juli 2020 kollabierte, hatte das Unternehmen Verbindlichkeiten bei Banken und Anleihezeichnern in einer Größenordnung von 3,2 Milliarden Euro angehäuft.
Der vorgeworfene Betrug hatte System und Struktur – das jedenfalls vermutet die deutsche Justiz. profil und den deutschen Medien „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR liegen zahlreiche Dokumente vor, die Einblick in das Innere einer Fälscherwerkstatt geben.
Gemäß der der Staatsanwaltschaft München I soll den Beschuldigten spätestens Ende 2015 klar gewesen sein, dass Wirecard aus dem laufenden Geschäft nur Verluste erwirtschaftete. In weiterer Folge hätten sie sich zu einer „Bande“ zusammengeschlossen, um die Bücher zu verfälschen und Geldgeber zu täuschen. Nachzulesen ist das in einer an die österreichischen Behörden gerichteten „Europäischen Ermittlungsanordnung“ vom 30. Juli des Vorjahres.
Zu den Beschuldigten zählen neben Braun und Marsalek unter anderem der frühere Chef der Wirecard-Dependance in Dubai. Er kooperiert mit den deutschen Behörden und sitzt ebenso in U-Haft wie Markus Braun und ein weiterer ehemaliger Manager aus der Konzernzentrale. Die Ermittlungen richten sich darüber hinaus auch gegen einen IT-Techniker aus Indien und den ehemaligen Leiter des Wirecard-Geschäfts in Singapur. Gemeinsam sollen sie ein „Geschäftssystem aus realen Kontakten, Partnerunternehmen und Vertragsbeziehungen“ aufgebaut haben, über das fiktive Geschäfte abgewickelt wurden. Mit „Kenntnis und Billigung“ von Braun und Marsalek soll die zweite Ebene „nach außen verdächtig wirkende Transaktionsbestandteile wie Transaktionsbeteiligte, Mailadressen, Beträge oder Währungen ausgetauscht und die Daten angereichert“ haben, so die Staatsanwaltschaft.
Wie schon gesagt: Markus Braun will mit all dem nichts zu tun gehabt haben. Die StA München I gewichtet seine Rolle allerdings etwas anders: „Er installierte ein hierarchisches System nach dem Prinzip ,Teilen und Herrschen, in Bezug auf die Geschäftsbereiche und dort handelnden Personen. Dieses System war geprägt von militärisch-kameradschaftlichem Korpsgeist und Treueschwüren gegenüber ihm als Führungsperson. Der Beschuldigte Dr. Braun hatte jederzeit Kenntnis aller Vorgänge in der operativen Fälschung und gab diesbezüglich strategische Weisungen in Form von ,guidances’ und konkreten Geschäftsaktionen.“ Widerspruch? Schwierig. „Bei Anzeichen des Abweichens vom gemeinsamen Tatplan wirkte der Beschuldigte Dr. Braun im Zusammenwirken mit dem Beschuldigten Marsalek auf die anderen Beschuldigten ein.“ Die Münchner Staatsanwälte beschreiben Braun zudem als „soziodynamischen Fixpunkt und väterlich anmutende Leitfigur“.
Jan Marsalek wiederum, dessen offenkundig gute Kontakte zum österreichischen Verfassungsschutz bereits eine Menge Fragen aufgeworfen haben, soll nach Erkenntnissen der deutschen Justiz als „Bindeglied zwischen der operativen Fälschung und der Vorstandsebene“ fungiert und die „Weisungen“ von oben nach unten weitergegeben haben.
Wenn es so war, dann war das Organisationsprinzip gar nicht einmal komplex. Das Management setzte stetig steigende Zielvorgaben (auch mit Blick auf den Aktienkurs, ab September 2018 war Wirecard im deutschen DAX vertreten), die Differenz auf die tatsächlichen Umsätze soll von einigen wenigen Eingeweihten mittels Luftbuchungen ausgeglichen worden sein. Um das System abzusichern, sollen auch Protokolle, Kontoauszüge und Saldenbestätigungen systematisch gefälscht worden sein.
Am 1. Oktober des Vorjahres erließ das Amtsgericht München einen „Europäischen Haftbefehl“ gegen Jan Marsalek, der zuletzt in Russland vermutet wurde (wofür es allerdings keine Bestätigung gibt). Auch dieses Dokument liegt den recherchierenden Medien vor. Und es ist insofern von Bedeutung, als es erstmals Hinweise auf nennenswerte Vermögensverschiebungen und Bereicherung liefert. Die deutschen Ermittler gehen davon aus, dass zwischen 2018 und 2020 insgesamt 505 Millionen Euro aus dem Vermögen des Wirecard AG „ausgeleitet“ wurden. In Form von unbesicherten Darlehen, die an finanziell schwach ausgestattete Empfänger auf den Philippinen, in Dubai, Singapur und Litauen gingen. Dies, nachdem Wirecard bereits 2015/2016 ein Unternehmen in Indien für rund 326 Millionen Euro erworben hatte, das kurz zuvor um gerade einmal 37 Millionen Euro den Besitzer gewechselt hatte.
Eine Spur führt direkt zu Jan Marsalek. Laut dem Amtsgericht München soll er zumindest 35 Millionen Euro aus dem Wirecard-Vermögen „zu eigenen Zwecken“ verwendet haben. Marsaleks Münchner Anwalt Frank Eckstein wollte sich dazu auf Anfrage nicht äußern.
Am 6. Juli des Vorjahres, kurz nachdem Wirecard implodiert war, setzte die Geldwäschemeldestelle des österreichischen Bundeskriminalamts eine interne Mitteilung zu bestehenden Kontoverbindungen von Markus Braun in Österreich ab. Demnach hatte Braun damals zwei Konten bei der Erste Bank. Ein privates (Kontostand Ende Juni: 37.843,92 Euro) sowie eines für seine deutsche Firma MB BeteiligungsgmbH (24.762,14 Euro). Die vorliegende Meldung lässt erahnen, dass es bei Brauns an Haushaltsgeld nicht mangelte: „Vor dem Hintergrund der aktuellen medialen Berichterstattung zur verdächtigen Aktivität des Herrn Markus Braun, wurden auch die o.a. Konten einer erneuten Analyse unterzogen und es zeigt sich, dass Herr Markus Braun auf seinem Girokonto … Eingänge von Wirecard in Höhe von ca. EUR 95.000 pro Monat erhält. Das Geld wurde für Abgaben- und Gebührenzahlungen, für Konsumausgaben, für Löhne und für Überträge an die Ehefrau … verwendet.“
Am 1. Juli des Vorjahres rückte Österreichs Polizei an zwei Markus Braun zuzurechnenden Privatadressen in Wien und Kitzbühel zu Hausdurchsuchungen an und stellte mehrere Datenträger sicher. Einer davon war mit einem beziehungsreichen Passwort geschützt: „Virus$2015“.