Gabriele Graumann
Interview: Reden wir über Pflegeplätze

Österreich, deine Produkte: Reden wir über Pflegeplätze

Gabriele Graumann, Geschäftsführerin des Kuratoriums Wiener Pensionisten-Wohnhäuser, über Gewinne auf Kosten der Senioren und Hygienevorschriften beim Erdäpfelschneiden.

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INTERVIEW: CHRISTINA HIPTMAYR

profil: Wie wollen Sie persönlich einmal Ihren Lebensabend verbringen? Graumann: Ich habe noch keine Vorstellung davon, wie meine Wohnsituation sein wird, aber ich möchte nicht alleine leben. Keinesfalls möchte ich jedoch meiner Tochter die Verantwortung dafür aufbürden - das ist mir sehr wichtig. Gar nicht vorstellen kann ich mir, in einer Wohngemeinschaft zu leben. Das konnte ich schon zu Studentenzeiten nicht. Und wenn ich sehe, wie die Gesellschaft mit Demenz umgeht, würde ich mir wünschen, dass ich trotzdem noch als Mensch wahrgenommen werde. Vielleicht kann ich dann viele Dinge nicht mehr; vielleicht erinnere ich mich nicht mehr; ganz sicher bin ich nicht mehr der Mensch, der ich einmal war, aber immer noch jemand, der atmet und eine Seele hat.

profil: Die Rahmenbedingungen, die Sie skizzieren, führen uns direkt hierher, in ein Pflegeheim. Graumann: In eine Pflegeinstitution, ja. Wenn es mich einmal trifft, wird sich der Sektor vielleicht auch schon weiterentwickelt haben. Es sind ganz unterschiedliche Wohnformen denkbar. Ich stelle mir eine Weiterentwicklung dessen vor, wo wir heute mit unseren Häusern stehen.

profil: Was macht für Sie einen qualitativ hochwertigen Pflegeplatz aus? Graumann: Wenn wir über Pflege reden, dann meinen wir vermutlich unterschiedliche Dinge. Was wir hier im KWP (Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser, Anm.) darunter verstehen, hat nicht nur mit Pflege im engeren Sinne zu tun, sondern auch mit Betreuung und Versorgung. Wir müssen uns von dem Expertensystem wegbewegen, das die Biografie, die Krankengeschichte aufnimmt und dann bestimmt, was die jeweilige Person benötigt. Für mich ist gelingende Pflege, ein Umfeld bereitzustellen, in dem der Mensch, der Unterstützung braucht, sich noch einbringen und teilhaben kann - und zwar nicht in einer Art Animation, sondern tatsächlich.

Je besser die Kommunikation innerhalb des Teams funktioniert, desto besser funktioniert auch die Betreuung der Bewohner.

profil: Wie soll das aussehen? Graumann: In unseren Tagfamilien beispielsweise, in denen Menschen mit Demenz betreut werden, wird gemeinsam gekocht. Das ist kein Therapiekochen, sondern es wird in den Alltag integriert. Die Leute schneiden ihre Erdäpfel selbst, richten den Salat an, machen eine Suppe. Für Expertensysteme ist das eine große Herausforderung, denn wir haben etwa eine Idealvorstellung von Hygiene, die sich dabei aber nicht zu 100 Prozent umsetzen lässt. Wir sind also damit konfrontiert, dass es Beschwerden geben könnte. Und es gibt Menschen, die sagen: "Ich habe mein ganzes Leben lang gekocht, ich will nicht mehr." Gelingende Pflege besteht darin, diese unterschiedlichen Bedürfnisse zu organisieren und auch nebeneinander stehen zu lassen. Das bedeutet aber auch, dass die Mitarbeiter viel mehr als jetzt in der Lage sein sollten, sich selbst zu organisieren. Das geht nur über Beziehungsarbeit. Je besser die Kommunikation innerhalb des Teams funktioniert, desto besser funktioniert auch die Betreuung der Bewohner. Und je besser die Kommunikation mit den Angehörigen funktioniert, desto entspannter wird es. Es geht also um wesentlich mehr, als den Personalschlüssel und andere Bestimmungen zu erfüllen. Denn all diese Vorgaben treffen die eigentliche Qualität, die wir liefern müssen, nicht.

profil: Lässt sich das, was Sie schildern, in einer so großen Organisation wie der Ihren überhaupt leben? Schließlich geht es immer auch um Effizienz. Graumann: Ja, es geht, aber es geht nicht immer so weit, wie wir uns das vorstellen würden. Ein Beispiel: Wir versuchen, das Leben hereinzuholen, die Häuser als Teil des Grätzels zu verankern und zu öffnen. Dabei stehen uns ganz viele Dinge im Weg, mit denen wir umgehen müssen - etwa das Sicherheitsbedürfnis unserer Bewohner. Das heißt, wie viel Leben lasse ich wann herein? Wie laut ist dieses Leben, das ich hereinlasse? Wenn ich sage, ich mache unseren "Marktplatz" - das ist Greißlerei und Kaffeehaus in einem - öffentlich zugänglich, damit sich auch der Student ums Eck seine billige Wurstsemmel kaufen und das WLAN kostenlos nützen kann, komme ich sofort mit dem Gewerberecht in Berührung. Wenn ich sage, wir kochen in der Tagfamilie gemeinsam, legen mir die Mitarbeiter ein ganze Latte an hygienerechtlichen Bestimmungen hin. Die Frage ist auch, wer das alles organisiert. Wer ist die Schnittstelle und macht das Projektmanagement? Es ist schwierig, das alles mit dem vorgegebenen Personalschlüssel in den Tarif hineinzurechnen. Denn solche Sachen sind nicht vorgesehen. Aber ja, es kann gelingen, wenn wir es schaffen, allen 4000 Personen, die bei uns arbeiten, zu vermitteln, dass das, was wir hier leisten, mehr ist als Pflege - wenn möglichst viele davon überzeugt sind, dass das der richtige Weg ist.

profil: Das kostet allerdings nicht wenig. Graumann: Das Finanzierungssystem ist so, wie es ist, das kann ich nicht ändern. Und in einigen Bereichen kommt man halt schnell an die Grenzen. Was mich stört: Wenn wir von Pflege reden, reden wir immer über die Kosten. Wir reden nie darüber, was die Pflegeinstitutionen leisten und welche Wertschöpfung etwa das KWP erbringt. Wir verhindern zum Beispiel jede Menge Krankenhausaufenthalte, durch eine ganzheitliche Sicht, durch medizinische Betreuung, durch Rücksichtnahme auf die seelische und soziale Gesundheit. Was früher im Spital stattgefunden hat, verlagern wir ins Haus. Das sieht man auch an unseren Spitaleinweisungsraten, die kontinuierlich nach unten gehen. Wenn wir es schaffen, unsere Bewohner zu aktivieren, sehen wir, dass nicht nur der Betreuungs- und Redebedarf zurückgeht, sondern auch weniger beruhigende Medikamente benötigt werden. Im Haus Rudolfsheim versuchen wir gerade nachzuweisen, dass gesundheitsfördernde Maßnahmen wie kognitives Training, Bewegung oder Ausflugsangebote einen Wert haben, der sich in Euro ausdrücken lässt. Das ist wirklich spannend, denn mit den üblichen betriebswirtschaftlichen Konzepten ist das schwer fassbar. Und es gibt noch weiteres Wertschöpfungspotenzial, das wir aber derzeit nicht heben.

Studien prophezeien der Branche in Deutschland allein bis 2030 einen Umsatz von 84 Milliarden Euro. Das ist natürlich ein Geschäft.

profil: Welches ist das? Graumann: Wir könnten mit Teilbereichen wie zum Beispiel der Gastronomie Gewinne machen und damit die Kernaufgabe stützen. Und naturgemäß verfügen wir über sehr viel Expertenwissen, was Geriatrie und Gerontologie betrifft. Wir könnten ein eigenes Beratungsunternehmen etablieren. Pro Jahr werden wir Dutzende Male von ausländischen Betreibern angefragt, ob wir sie nicht beraten könnten. Wir könnten. Wir könnten diese Leistung sogar verkaufen. Aber wir tun es nicht.

profil: Warum nicht? Graumann: Es ist nicht immer einfach, gute Ideen umzusetzen.

profil: In Deutschland haben große internationale Fondsgesellschaften die Pflege als lukratives Investment entdeckt, denn in kaum einer anderen Branche lässt sich die Nachfrage so gut prognostizieren. Die Investoren wollen natürlich Rendite sehen. Kann man mit Pflegeplätzen Gewinne machen? Und soll man das überhaupt? Graumann: Studien prophezeien der Branche in Deutschland allein bis 2030 einen Umsatz von 84 Milliarden Euro. Das ist natürlich ein Geschäft. Vor Kurzem beklagte sich der Bürgermeister von Fohnsdorf darüber, dass private Betreiber auf Kosten der Senioren Gewinne machen, indem sie tiefgefrorenes Essen günstig zukaufen und teuer verkaufen. Man kann also ganz offensichtlich Gewinne machen. Soll man es auch? Da bin ich gespalten. Wenn jemand in einer Seniorenresidenz alt werden will und es für ihn kein Problem darstellt, monatlich 5000 oder 7000 Euro zu bezahlen, dann soll er das machen - vorausgesetzt, die Pflege und Medizin wird nicht öffentlich finanziert. Wenn er jedoch nur für jene Leistungen bezahlt, für die der Betreiber eine gute Rendite erzielen kann, und alles andere muss vom öffentlichen Gesundheitssystem getragen werden, bin ich dagegen.

profil: Beobachten Sie auch in Österreich, dass Investmentgesellschaften versuchen, sich in Pflegeinstitutionen einzukaufen? Graumann: Ich befürchte, dass die Tendenz in diese Richtung gehen könnte, und bin froh, dass ich derzeit in Wien tätig bin. Denn hier geht man einen anderen politischen Weg.

profil: Sind Pflegeheime Selbstläufer, oder müssen Sie auch Kundenakquise betreiben? Graumann: Wir sind kein Pflegeheim, sondern ein Wohnhaus. Wir haben derzeit eine Auslastung von knapp 96 Prozent. Also nein, wir müssen keine Kundenakquise betreiben. Sehr wohl aber holen wir proaktiv Leute aus der Migranten-Community in unsere Häuser. Der Schwerpunkt liegt auf Menschen, die in Bosnien, Serbien, Kroatien und Polen geboren wurden. Diese werden naturgemäß auch alt, aber sie nehmen selten institutionelle Pflege in Anspruch. Das liegt nicht etwa daran, dass die gesünder wären, sondern es fehlt einfach an Wissen. Wir bemühen uns auch um Wienerinnen und Wiener mit türkischem Hintergrund, aber das ist noch einmal ein anderes Thema, weil hier der Anteil der Gläubigen höher ist. Da muss man sich darauf einstellen, etwa was das Beten betrifft.

Wir brauchen eine Aufwertung dessen, was wir hier tun. Menschen, die in der Pflege arbeiten, sind auch für andere Wirtschaftsbereiche interessant.

profil: In Bezug auf Essen wohl auch. Graumann: Wir arbeiten an einer Küche, in der wir sowohl halal als auch koscher kochen können. Die wird es 2019 geben. Wenn wir Bewohner haben, die koscher essen, holen wir es derzeit von einer jüdischen Organisation.

profil: Die Volksanwaltschaft meinte kürzlich, in 60 Prozent der österreichischen Heime seien die Pflegezustände zu kritisieren, was unter anderem an akutem Mangel an qualifiziertem Personal liege. Teilen Sie diese Einschätzung? Graumann: Wir haben in Österreich insgesamt 650.000 Pflegefälle. Zwei Drittel davon werden zu Hause gepflegt. Das verbleibende Drittel wird zu 60 Prozent durch mobile Dienste betreut -lediglich 40 Prozent sind in stationären Einrichtungen. Aber darauf wird das Schlaglicht geworfen. Völlig unterbelichtet bleiben hingegen jene, die zu Hause betreut werden. Auf die Qualität der informellen Pflege schaut niemand. Wenn die Volksanwaltschaft nun feststellt, dass es in 60 Prozent der österreichischen Heime einen Pflegenotstand geben soll, dann frage ich mich, wie man neun unterschiedliche, durch gesetzliche Vorgaben der Länder definierte Rahmenbedingungen in einen Topf schmeißen kann. Generell ist es so, dass im stationären Bereich der Pflegeschlüssel am höchsten ist. Wir haben kein Pflegeproblem - die Gesellschaft hat ein Problem mit dem Altwerden.

profil: Es ist also kein Problem, qualifiziertes Personal zu finden? Graumann: Wir erfüllen einen Pflegeschlüssel und die damit verbundenen Vorgaben. Das heißt, wir brauchen soundso viel Diplomierte und soundso viele Pflegeassistenten. Und dieses Personal finden Sie nicht einfach auf der Straße. Wir brauchen eine Aufwertung dessen, was wir hier tun. Menschen, die in der Pflege arbeiten, sind auch für andere Wirtschaftsbereiche interessant. Sie sind Profis in der Frage, wie man Konflikte löst und Menschen motiviert. Das sind Fähigkeiten, bei denen andere viel Geld investieren, um ihre Mitarbeiter entsprechend zu schulen. Im KWP haben wir ein eigenes Fortbildungszentrum, in dem wir jedes Jahr eine knappe Million für Aus- und Weiterbildung ausgeben. Wir haben Führungskräfteentwicklungsprogramme, denn gute Mitarbeiter können Sie nur halten, wenn sie gute Chefs haben. Wenn Pflege jedoch ununterbrochen damit in Zusammenhang gebracht wird, dass hier mit knappen Ressourcen sabbernde, demente, alte Leute betreut werden müssen und das auch noch schlecht bezahlt ist, dann wird keiner kommen.

Gabriele Graumann Die gebürtige Oberösterreicherin studierte Soziologie und Internationale Betriebswirtschaft an der Universität Wien. Nach diversen Funktionen im Magistrat der Stadt Wien übernahm sie 2005 die operative Führung im Pensionisten-Wohnhaus Augarten. 2008 wurde Graumann in die Geschäftsführung des KWP berufen und treibt seither die Neuausrichtung des gemeinnützigen Fonds voran.

Kuratorium Wiener Pensionisten - Wohnhäuser

Das KWP wurde 1960 durch Beschluss des Wiener Gemeinderates gegründet. Drei Jahre später eröffnete der gemeinnützige Fonds sein erstes Haus. Heute betreibt er mit über 4000 Mitarbeitern 30 Häuser in der Bundeshauptstadt, die Platz für rund 8900 Bewohner bieten. Damit ist das KWP österreichweit der größte Anbieter in der Seniorenbetreuung.

Drei Assoziationen zum Thema

-1,66 Millionen Österreicher sind über 65 Jahre alt. 2030 werden bereits 2,15 Millionen dieser Altersklasse angehören. Die Lebenserwartung steigt im Schnitt um zwei Jahre pro Jahrzehnt. In Österreich ist bis 2030 bei Männern ein Anstieg der Lebenserwartung von 77,7 auf 81,4 Jahre zu erwarten und bei Frauen von 83,2 auf 86,2 Jahre.

-Die ersten Pflegeeinrichtungen gab es schon im 13. Jahrhundert. In ihnen wurden Kranke, Waisen aber auch Alte von den Ordensgemeinschaften versorgt. Die Altenpflege ist indes ein relativ junger Beruf. Die ersten Ausbildungsgänge entstanden in den 1960er-Jahren.

-Als aktuell ältester Mensch der Welt gilt die Bolivianerin Julia Flores Colque. Sie wurde am 26. Oktober 1900 geboren. Während ihres langen Lebens hat Colque mehrere Revolutionen in ihrem Heimatland miterlebt. Ihr hohes Alter ist besonders erstaunlich, da im armen Bolivien die Lebenserwartung aktuell bei 70 Jahren liegt.

Dieser Text ist Teil 8 der Serie "Österreich, deine Produkte" im profil.

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Christina   Hiptmayr

Christina Hiptmayr

war bis Oktober 2024 Wirtschaftsredakteurin und Moderatorin von "Vorsicht, heiß!", dem profil-Klimapodcast.