Weigelin-Schwiedrzik
Seit dem Krieg in der Ukraine hat alles eine stärkere geopolitische Konnotation. Der Konflikt zwischen China und den USA hat sich in den letzten Jahren auch verschärft. Und das führt dazu, dass man Verbündete sucht. Europa ist sowohl für China als auch für die USA von großem strategischen Interesse. Aus Sicht der chinesischen Regierung darf man Europa keinesfalls fallen lassen, obwohl sich die EU in ihrer Haltung gegenüber China seit dem Krieg in der Ukraine stärker an den USA orientiert.
Ist das jetzt gut oder schlecht für Europa, dass die zwei großen Wirtschaftsblöcke China und USA ihre Interessen auf europäischem Boden durchsetzen wollen?
Weigelin-Schwiedrzik
Das hängt davon ab, wie Europa damit umgeht. Die Politik ist aus einer sicherheitspolitischen Erwägung heraus dazu geneigt, eine sehr enge Partnerschaft mit den USA zu suchen. Während die Wirtschaft nicht immer mit den politischen Entscheidungen konform geht. Europa ist auch deshalb wirtschaftlich so stark geworden, weil es einerseits billige Rohstoffe aus Russland bekommen und andererseits gute wirtschaftliche Beziehungen zu China gepflegt hat. Es wurden Produktionsstätten in China errichtet, der Handel mit China ist stetig gewachsen. Heute sind wir weitgehend von russischen Rohstoffen abgeschnitten, und durch die Zolldebatte fürchten viele, dass der Handel mit China ins Stocken geraten könnte. Wieso haben die USA zuerst Strafzölle auf E-Autos eingeführt, obwohl chinesische E-Autos auf dem US-Markt kaum eine Rolle spielen? Der Grund wird weniger ein wirtschaftlicher als ein geopolitischer gewesen sein. Zumal wenn man bedenkt, dass auch US-Unternehmen wie Tesla in China produzieren und von diesen hundertprozentigen Zöllen auf chinesische E-Autoimporte betroffen sind. Man könnte das auch als Vorgabe an Europa deuten. Hier ist der Anteil an E-Autos aus China viel höher. Außerdem werden von diesen Ausgleichszöllen auch viele europäische Betriebe getroffen, die in China im
Bereich der E-Mobilität produzieren. Das wäre eine geopolitische Betrachtung auf diesen Vorgang.
Eine wirtschaftliche Betrachtung wäre: China subventioniert seine E-Autoindustrie massiv, in einem Ausmaß, in dem europäische Betriebe nicht mithalten können. Die Billigimporte verzerren den Wettbewerb. Deshalb nennt es die EU auch Ausgleichszölle.
Weigelin-Schwiedrzik
Insbesondere das Herzstück des E-Autos – die Batterie – beruht auf Forschungs- und Entwicklungsleistungen aus der Volksrepublik China, die seit über 25 Jahren getätigt werden. China hat gesagt: Im Bereich der Verbrennermotoren können wir wahrscheinlich niemals so gut werden wie jene Nationen, die solche Motoren seit Generationen bauen. Aber die grüne Wende kommt, Erdöl wird irgendwann knapper, also brauchen wir ein Auto mit einem alternativen Antrieb. Es ist richtig, dass die chinesische Führung diesen Wirtschaftszweig subventioniert, wie im Übrigen auch die USA mit dem sogenannten Inflation Reduction Act von Joe Biden. Ob wir das gut finden oder nicht, aber die Chinesen haben die Schlüsselteile für das Automobil, das wir jetzt für die grüne Wende brauchen, über Jahre entwickelt, und wir haben das einfach verschlafen. Auch Japan war immer wieder von Schutzzöllen betroffen und hat es in kurzer Zeit geschafft, Anpassungsmechanismen zu entwickeln, die schneller waren als die Aufholjagd in den geschützten Märkten.
Apropos Anpassungsmechanismen: Chinesische E-Autohersteller wollen jetzt Fabriken in Europa errichten, etwa BYD in Ungarn. Ist das ein Versuch, diese Ausgleichszölle zu umgehen, indem man in der EU produziert?
Weigelin-Schwiedrzik
Ja. Und sie machen das deshalb in Europa, weil sie merken, dass die Nachfrage nach E-Autos hier im Vergleich zu Amerika höher ist. Das hat natürlich auch mit den größeren Distanzen und der Infrastruktur dort zu tun. Deshalb tätigen sie die Investitionen in Europa und hier in Ländern, die ihnen auch politisch wohlgesinnt sind. Und wo die Löhne nicht so hoch sind wie in Westeuropa.
Das Werk könnte auch in Deutschland stehen, aber China hat sich für Ungarn entschieden …
Weigelin-Schwiedrzik
Einerseits sieht sich China in einigen EU-Ländern keiner besonders positiven Stimmung gegenüber. Außerdem hat man den Bau des Tesla-Werks in Brandenburg sehr genau beobachtet und gesehen, dass es Konflikte mit der Zivilgesellschaft, den Behörden, den Gewerkschaften gab. Für Deutschland hätte gesprochen, dass dort wegen der strauchelnden Autoindustrie viele ausgebildete Fachkräfte frei werden. Aber man wollte sich wohl nicht mit Gewerkschaften und Behörden herumschlagen und ist lieber nach Ungarn gegangen, mit dem man seit dem Kalten Krieg gute Kontakte pflegte.
Das klingt so, als hätte man kein Interesse, auf wesentliche europäische Errungenschaften wie Umweltschutz oder Arbeitnehmerrechte Rücksicht zu nehmen.
Weigelin-Schwiedrzik
Da sollte man sich keine Illusionen machen. China ist immer dann für Umweltschutz, wenn sich das wirtschaftlich für China rechnet. Die Solarindustrie ist das beste Beispiel dafür – diese Technologie wird sowohl auf dem eigenen als auch auf dem Weltmarkt stark nachgefragt und in entsprechend großen Mengen produziert.
Welches wirtschaftspolitische Interesse verfolgt China in Europa?
Weigelin-Schwiedrzik
Die chinesische Wirtschaft hat sich nach Corona noch nicht erholt. Es gibt drei Säulen, die das Wachstum in China in den vergangenen Jahren hochgehalten haben: der Export, die staatlichen Investitionen in Infrastruktur und der Immobiliensektor. Der Immobiliensektor ist gerade dabei, sich gesundzuschrumpfen, da gibt es eine Insolvenz nach der anderen. Dieser Bereich hat früher 25 bis 30 Prozent der Wirtschaftsleistung ausgemacht, jetzt liegt er darnieder. Im Bereich der Infrastruktur hat man ab 2008 deutlich über den Kapazitäten gebaut
Es gibt Flughäfen, wo keine Flugzeuge landen, Eisenbahnverbindungen, die sehr wenig genutzt werden. Und jetzt fragt man sich, in welche Infrastruktur man eigentlich noch investieren soll. Hinzu kommt, dass der Staat hoch verschuldet ist. Investitionen in Infrastruktur sind auch zurückgegangen. Also bleibt der Export als dritte tragende Säule übrig. Und umso mehr muss man mit allen Mitteln versuchen, den Export hochzuhalten. Deshalb kommen gerade jetzt so viele E-Autos von China nach Europa.
China wollte doch gerade noch unabhängiger vom Weltmarkt werden und den eigenen Binnenmarkt stärken.
Weigelin-Schwiedrzik
Das ist die Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit. Staatspräsident Xi Jinping hat die Theorie der zwei Kreisläufe propagiert. Man braucht also sowohl den Export als auch die Nachfrage im eigenen Land, um die Wirtschaft stark zu halten. Sie begründet, wie sich die chinesische Wirtschaft von der einseitigen Exportorientierung verabschieden kann. Die Abkopplung hat aber auch eine geopolitische Komponente. China hat sehr genau beobachtet, was Russland vor dem Krieg gegen die Ukraine gemacht hat. Russland hat sich systematisch auf die heutige Situation vorbereitet, indem es vor allem ab den westlichen Sanktionen 2014 seine wirtschaftliche Autarkie gefördert hat, sodass die Folgen der Sanktionen nicht so dramatisch ausfallen, wie man dachte. Würde China heute mit internationalen Sanktionen belegt, würde es viel mehr darunter leiden als Russland. Weil es global viel stärker vernetzt ist. Der Selbstversorgungsgrad der chinesischen Landwirtschaft liegt bei 65 Prozent, also müssen
35 Prozent der Nahrungsmittel importiert werden, auch aus den USA. Wenn sich der Konflikt mit Taiwan zuspitzt und China keine Lebensmittel aus den USA mehr importieren kann, weil es sanktioniert wird, könnte es da zu Engpässen kommen. Dementsprechend wird jetzt die Landwirtschaft stärker ausgebaut. Das betrifft auch industrielle Sektoren.
Ist China aus Ihrer Sicht noch ein kommunistisches Land? Auf der einen Seite schreibt das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei noch immer Fünf-Jahres-Pläne und hält sich auch akribisch daran. Auf der anderen Seite agiert die chinesische Wirtschaft stark marktorientiert.
Weigelin-Schwiedrzik
Also Marx würde wohl nein sagen. In China wird der Marxismus heute nur noch dahingehend genutzt, die politischen Eliten an bestimmte Grundannahmen zu binden. Nach dem Tod von Mao Tse-tung (Chinas Staatsgründer starb 1976, Anm.) war der Führung schnell klar, dass sie die Bevölkerung auf ihrer Seite halten muss. Das konnte nur gelingen, wenn man den Menschen ein besseres Leben ermöglicht und indem man China wieder zu einer Weltmacht macht. China hat ein hybrides Modell geschaffen. Wenn der Markt gerade nicht funktioniert, holt man den Marxismus-Joker und begründet damit staatliche Eingriffe. Und wenn die Staatswirtschaft nicht gut läuft, holt man den anderen Joker und lässt den Markt mal machen. Die staatlichen Eingriffe werden heute aber nicht mehr nur sozial oder wirtschaftlich argumentiert, sondern zunehmend sicherheitspolitisch. Das passiert auch in der EU und in den USA.