Joseph Stiglitz: „Das ist verrückt!“
Von Marina Delcheva
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Für Joseph E. Stiglitz ist die Welt schon eine Weile nicht mehr in Ordnung. Der Wirtschaftsnobelpreisträger forscht seit Jahrzehnten zum Thema Globalisierung, Marktversagen und Ungleichheit. Sein Buch „Die Schatten der Globalisierung“ wurde 2002 zum Bestseller. 20 Jahre später sind wir inmitten einer Phase der Deglobalisierung und der Zollkriege. profil traf den US-Ökonomen am Rande des Europäischen Forum Alpbach und sprach mit ihm über grüne Entwicklungshilfen aus China, das „Ende der Hyperglobalisierung“ und was an Trump „irrsinnig“ ist.
Herr Stiglitz, wann war die Welt aus Ihrer Sicht das letzte Mal in Ordnung?
Stiglitz
Ich denke, das war, als der Eiserne Vorhang fiel. Da herrschte noch sehr viel Optimismus. Damals sprachen wir von Wohlstandsgewinn, von Demokratie und dem Ende der Geschichte.
Marktwirtschaft und Globalisierung waren damals Synonyme für persönliche Freiheit und Demokratie. Wie sehen Sie das 30 Jahre später?
Stiglitz
Wir haben die Ereignisse nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lange missinterpretiert: Wir dachten, dass ganz freie Märkte etwas Wunderbares sind. Aber tatsächlich hat sich nur bewahrheitet, dass Kommunismus etwas Furchtbares ist. Meine eigene Forschung hatte schon vor 1989 die Grenzen des freien Marktes aufgezeigt. Das Zweite, das wir übersehen haben: Autoritäre Regime können Marktmechanismen zu ihrem eigenen Vorteil nutzen. China war zum Beispiel sehr erfolgreich darin, wirtschaftlich zu wachsen und Armut zu reduzieren, aber nicht darin, demokratischer zu werden. Und es hat am meisten von der Globalisierung profitiert.
Das klingt ein bisschen wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet das kommunistische China von der Globalisierung profitiert.
Stiglitz
Ja, tatsächlich. Aber das ist keine überraschende Entwicklung. In meinem Buch „Die Schatten der Globalisierung“ (erstmals erschienen 2002, Anm.) habe ich davor gewarnt, dass die Ungleichheit vor allem in den hoch entwickelten Volkswirtschaften steigen wird und das irgendwann zu politischen Verwerfungen führen wird.
Was wir aber heute sehen, ist eine Art Deglobalisierung. Handelshemmnisse und Zölle werden wieder hochgezogen, die großen Wirtschaftsblöcke werden immer protektionistischer. Das wiederum führt zu höheren Preisen und Inflation. Bringt das nicht eine Reihe neuer Probleme mit sich?
Stiglitz
Dani Rodrik (türkischer Ökonom und Harvard-Professor, Anm.) hat dazu gesagt: „Es ist das Ende der Hyperglobalisierung.“ Es geht nicht um die Globalisierung an sich, sondern darum, wie wir sie managen. Eines der Probleme des zu schnellen globalen Wandels war, dass Zölle und Handelsbarrieren sehr schnell abgebaut wurden. Und das hat zu Verdrängungseffekten geführt und dazu, dass einige Menschen ihre Jobs verloren haben und nicht schnell genug eine neue, produktivere Arbeit finden konnten. Das war weder gut für die betroffenen Volkswirtschaften noch für die Individuen. Wir könnten bei einer rapiden Deglobalisierung auf ähnliche Schwierigkeiten treffen: nämlich dass sich Volkswirtschaften nicht schnell genug anpassen. Sollte Donald Trump Präsident werden und wie angekündigt chinesische Güter mit 50- bis 60-prozentigen Zöllen belegen, würden die Lebenshaltungskosten für die unteren und mittleren Einkommensschichten in den USA steigen. Kleidung, Computer – alles würde sich massiv verteuern. Und das würde auch zu hoher Arbeitslosigkeit führen. Wenn US-Fabriken keine günstigen Fertigungskomponenten mehr aus China bekommen, wären sie auf anderen Märkten nicht konkurrenzfähig.
Fürchten Sie ein globales Wettrüsten um Subventionen und Schutzzölle?
Stiglitz
Ja, absolut. Das wird vor allem kleine, ärmere Länder treffen. Der „Inflation Reduction Act“ (Investitionspaket für die grüne Industriewende, Anm.) in den USA wird mit 1 bis 1,3 Billionen US-Dollar beziffert. Sogar die EU beschwert sich schon, dass sie als Union nicht mithalten kann. Ärmere Regionen haben da absolut keine Chance mehr. Ich unterscheide zwischen zwei Arten von Subventionen: Von deutlich niedrigeren Preisen für Solarpanels profitiert die ganze Welt, weil sie uns helfen, unser Energiesystem schneller auf Erneuerbare umzustellen. Und wenn China unbedingt die ganze Welt subventionieren will, dann sollten wir das Geschenk annehmen. Solange das keinen vorsätzlichen Charakter hat, in dem Sinne, dass sie zuerst die Preise massiv senken, um die Abhängigkeit zu erhöhen. Und später die Preise anheben. Aber ich denke nicht, dass China das vorhat.
Auch dann, wenn Firmen in anderen Ländern mit diesen sehr niedrigen Preisen gar nicht mehr mithalten können und zusperren müssen?
Stiglitz
Meiner Ansicht nach macht uns China damit ein Geschenk. Wir wollen keine Deindustrialisierung, und wir wollen Unternehmen und Produktionskapazitäten erhalten. Es ist ein Unterschied, ob man von Hightech-Mikrochips aus Taiwan abhängig ist. In diesem Bereich würde es vermutlich ein Jahrzehnt dauern, konkurrenzfähige Produkte zu entwickeln. Aber ein Solarpanel herzustellen, ist nicht so kompliziert. Sollte China irgendwann seine Marktmacht ausnutzen und die Preise anheben, können wir noch immer beschließen, das selbst zu produzieren. Bei hoch entwickelten Nano-Chips können wir das nicht machen. Aber wenn wir sehr günstige Solarenergie bekommen, dann kann das in anderen Bereichen ein Wettbewerbsvorteil für die Industrie sein.
„Wenn China unbedingt die ganze Welt subventionieren will, dann sollten wir das Geschenk annehmen.“
Sie haben im Zuge der Finanzkrise 2008 und 2009 einige europäische Länder für deren Austeritätspolitik kritisiert, etwa Deutschland. Während der Coronapandemie haben die EU-Länder wiederum sehr viel Geld ausgegeben, um die negativen Folgen für die Wirtschaft abzufedern; auch um den Preis, dass die Staatsverschuldung gestiegen ist. Welche Krise wurde besser gemanagt?
Stiglitz
Europa hat die Corona-Krise in so vielen Bereich sehr viel besser bewältigt als die meisten anderen Länder weltweit. Es wurde nicht gespart, es gab gemeinsame Euro-Bonds (die EU-Länder haben 2020 eine gemeinsame EU-Anleihe begeben, Anm.). Es gab Programme wie Kurzarbeit, um die Arbeitnehmer in den Betrieben zu halten, damit man nach den Lockdowns die Produktion sofort wieder hochfahren kann. Und vieles davon hätte man auch während der Finanzkrise machen können, etwa die Euro-Bonds. Ich war kritischer, was die Reaktionen auf Russlands Angriff auf die Ukraine betrifft.
Was genau ist Ihre Kritik daran?
Stiglitz
Die EU dachte in puncto Sanktionen, dass die gleichen Regeln für normale Volkswirtschaften gelten wie für eine Kriegswirtschaft.
Denken Sie, dass Russland schon eine Kriegswirtschaft ist?
Stiglitz
Oh, absolut. Wir haben nicht bedacht, dass schon die Ankündigung von Sanktionen etwa den Ölpreis massiv anheizen wird. Und zwar womöglich noch mehr, als es der Fall gewesen wäre, hätte man einfach viel weniger russisches Öl nachgefragt. Russland hatte dadurch noch höhere Einnahmen, was ja eigentlich nicht beabsichtigt war.
Meinen Sie etwa, man hätte Russland nicht sanktionieren sollen?
Stiglitz
Doch, natürlich. Aber es hat sehr lange gedauert, die Sanktionen zu implementieren, und man hat im Vorhinein zu viele Ankündigungen gemacht.
Viele EU-Länder waren oder sind noch sehr von russischen Energieimporten abhängig.
Stiglitz
Umso besser. Dann wären die Preise für diese Länder auch nicht so stark gestiegen. Es ist sehr schwierig, Sanktionen so zu gestalten, dass sie tatsächlich effektiv sind. Wenn nur der Westen russisches Öl sanktioniert, Russland es aber weiterhin an Indien und China verkauft, wird das weder den Ölpreis senken noch die Mengen, die Russland am Weltmarkt verkauft. Bei den Sanktionen von Mikrochips ist der Effekt hingegen größer.
Apropos Erdöl. Rechnen Sie damit, dass der Ölpreis wieder stark steigen könnte, sollte der Krieg in Gaza eskalieren oder der Iran auch zur Kriegspartei werden?
Stiglitz
Absolut! Die geopolitische Situation ist so instabil, dass die Preise jederzeit wieder steigen könnten. Das ist auch ein Grund, warum wir schneller Erneuerbare ausbauen müssen. Autoritäre oder instabile Staaten sind weniger verlässliche Lieferquellen als die Sonne.
Harris oder Trump?
Sollte Trump die US-Wahl gewinnen, wird der Wind auch wirtschaftlich rauer, meint US-Ökonom Stiglitz - sowohl für die USA, als auch für Europa.
Marina Delcheva
leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".