Kampf um jeden Nanometer
Von Moritz Gross und Kevin Yang
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Sie sind überall. Im Handy, Bankomat, der elektrischen Zahnbürste, dem Laufband im Fitnessstudio. In einem Pkw werden rund 900 verbaut, in einem E-Auto rund 1400. Ohne Mikrochips steht die Industrie still, inklusive sicherheitsrelevanter Bereiche wie der Rüstungsbranche.
Die Abhängigkeit der Wirtschaft von den kleinen Platinen zeigt sich anhand ihrer geopolitischen Verflechtung. Die jahrzehntelange Auslagerung von Bauteilen nach Asien verdeutlicht inzwischen die Fragilität der europäischen Wertschöpfung – einen europäischen Hochleistungschip suchte man lange vergeblich. Nun setzt die EU viele Hebel in Bewegung, um unabhängiger von Krisen und Konflikten zu werden.
Der Mikrochip ist das Hirn der elektronischen Bauteile. Der immer größer werdende Hunger nach solchen Gütern lässt den prognostizierten Bedarf explodieren. 5G, grüne Transformation und künstliche Intelligenzen (KI) haben im Kern die leistungsfähigen Mikrochips der nächsten Generation. Der Halbleiter ermöglicht den Durchfluss von Strom. Durch eine effiziente Schaltkreisarchitektur eines Chips können dann Berechnungen ausgeführt werden. Je komplexer die Schaltkreise und je geringer die Nanometer werden, desto effizienter und schneller wird die Befehlsausführung.
Elektronik wird dank Mikrochips kleiner, leistungsfähiger und „smarter“. Damit folgt sie dem Mooreschen Gesetz von 1965. Der US-amerikanische Ingenieur Gordon Moore definierte die Faustregel, dass sich etwa alle zwei Jahre die Anzahl der Transistoren auf Chips verdoppelt. Um die Jahrtausendwende hatte der Prozessor eines Heim-PCs etwa 40 Millionen Transistoren, heuer bewegt man sich im zweistelligen Milliardenbereich. „Bis Ende des Jahrzehnts wird es eine Billion sein“, prophezeite Intel-Chef Pat Gelsinger im Jänner auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Mehr Technik auf kleinerer Fläche führt zu ausgefeilterer Technik, aber auch zu profitablerem Wirtschaften. Doch es ist auch die Sorge vor internationalen Konflikten, die dafür sorgt, dass Milliarden investiert werden.
Große Summen für kleinste Technologie
Laut einer Studie des Fachverbands Elektro- und Elektronikindustrie (FEEI) ermöglichen Halbleiter knapp die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. Wie wichtig dieses Bauteil ist, zeigen die Bemühungen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten, die Versorgung mit Halbleitern zu sichern. Jenseits des Atlantiks fließen durch den „CHIPS and Science Act“ umgerechnet etwa 260 Milliarden Euro.
Diesseits bewilligte die EU mit dem „Europäischen Chip-Gesetz“ etwa 43 Milliarden Euro Förderung. Das politisch erklärte Ziel ist ambitioniert: Europa möchte den Eigenanteil der weltweit gefertigten Chips von derzeit zehn auf 20 Prozent steigern. Doch nur etwa drei Milliarden Euro steuert die EU zusätzlich bei. Das meiste Geld stammt aus Umschichtungen anderer Fördertöpfe sowie den Etats der Mitgliedsländer. Das Wirtschaftsministerium (BMAW) will dazu „bis 2031 insgesamt 2,8 Milliarden Euro zur Verfügung“ stellen, heißt es auf Anfrage.
In Österreich nahm mit dem im Jahr 2021 eröffneten Infineon-Werk in Kärnten-Villach eine heimische Produktionsstätte den Betrieb auf. Das BMAW ist darauf sichtlich stolz: „Österreich hat sich aufgrund von unternehmerischer Tatkraft sowie der umsichtigen Standortpolitik zu einem starken Halbleiterstandort entwickelt.“ Auch andernorts geht es vorwärts. Im irischen Leixlip eröffnete 2023 ein neues Intel-Werk, in dem Vier-Nanometer-Chips hergestellt werden. Für eine baugleiche Fabrik in Magdeburg soll heuer der Spatenstich erfolgen. Zehn Milliarden Euro soll die Förderung der deutschen Bundesregierung betragen. Intel-CEO Gelsinger kündigte auf dem Weltwirtschaftsforum gar die Produktion von 1,5-Nanometer-Chips an, wenn das Werk voraussichtlich 2027 den Betrieb aufnimmt. Damit will Intel „nicht nur die fortschrittlichste Produktion in Deutschland, sondern weltweit“ auf den Weg bringen, so Gelsinger. Die Weiterverarbeitung der in Irland und Deutschland gefertigten Wafer – eine Art Chip-Rohling – soll in Wrocław (Polen) erfolgen. Ein Werk um 4,6 Milliarden Euro ist für die niederschlesische Metropole in Planung.
Ob angesichts des doppelten Bedarfs an Mikrochips bis 2030 die Werke die Nachfrage stillen können, ist fraglich. Fest steht: Neben Produktionsstätten sind vor allem Arbeitskräfte und Spezialisten, die die Chips fertigen können, nötig. Sabine Herlitschka von Infineon Austria schätzt den eigentlichen Investitionsbedarf auf „rund 500 Milliarden Euro an privaten und öffentlichen Geldern in allen EU-Ländern“. Die Vorstandsvorsitzende des Tech-Riesen am Standort Villach lobte den Chips Act in einem profil-Interview 2023 zwar als „wichtigen Beitrag“, doch seien „weitere Schritte sind nötig“.
Ein Kind der Globalisierung
Es liegt in der Natur von Unternehmen, Kosten zu senken und Bauteile in Fernost produzieren zu lassen. Zwar verstreuen sich Forschung, Design und die Maschinenfertigung für die Halbleiterproduktion über den gesamten Globus, doch konzentriert sich die weltweite Produktion des Bauteils Mikrochip selbst auf China, Taiwan und Südkorea. Eine gefährliche Abhängigkeit. Als während der Coronapandemie Fabriken in Asien den Betrieb einstellten, geriet die Elektroindustrie weltweit ins Stottern. Doch standen nicht nur bei den europäischen Autobauern die Bänder still, auch moderne Panzer und Raketen sind so sehr von Halbleitern abhängig, dass die Verteidigungsarchitektur in Wanken geraten kann.
Den russischen Angriff auf die Ukraine betrachtet man im Westen als eine mögliche Analogie zu China und Taiwan. Die Volksrepublik China unter der autokratischen Führung von Xi Jinping strebt die „Wiedervereinigung“ mit dem abtrünnigen Inselstaat an, notfalls auch mit militärischen Mitteln. Für die weltweite Halbleiter-Versorgung ein nicht zu vernachlässigender Risikofaktor, denn die taiwanische Chipindustrie profitiert seit Jahrzehnten von der Produktionsauslagerung nach Asien und ist mittlerweile führend in der Branche, allen voran der Tech-Gigant Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC). Das 1987 gegründete Unternehmen positionierte sich mit knapp 69 Milliarden Euro Umsatz im Vorjahr an der Spitze der Industrie. Heute stellt TSMC bereits über die Hälfte aller weltweit erhältlichen Mikrochips her. Der weltweit drittgrößte Chip-Fabrikant United Microelectronics Corporations (UMC) sitzt mit 6,5 Prozent Weltmarktanteil ebenfalls auf der pazifischen Insel.
Drohgebärden
Chinas Präsident Xi Jinping richtet immer wieder warnende Worte an Taiwan. Die Chips gelten als Sicherheitspfand.
In Taiwan nimmt man die Drohgebärden vom Festland ernst. Zwar rüstet die Insel militärisch auf, um einen Angriff der Volksrepublik standhaft abzuwehren, doch sind die möglichen Szenarien für die Weltwirtschaft denkbar schlecht: Verleibt sich die Volksrepublik die Insel mit Militärgewalt ein, stehen damit auch fast zwei Drittel der globalen Halbleiterindustrie unter chinesischem Einfluss. Dass die USA es freiwillig dazu kommen lassen, gilt als unwahrscheinlich.
Milliardeninvestitionen
„Ich habe schon vor Jahren gefordert, dass die EU die eigene Chip-Produktion fördern muss“, sagt Sebastian Kummer vom Institut für Transportwirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien. Zeit wird es, denn käme es zum jetzigen Zeitpunkt zu einem Krieg, wäre die Industrie im Westen unvorbereitet.
Aus Voraussicht investieren die Vereinigten Staaten und die Europäische Union stark in den Wiederauf- und Ausbau ihrer eigenen Halbleiterindustrie. Die bekundete Solidarität mit dem demokratischen Taiwan hängt möglicherweise unmittelbar mit dem Monopol der dortigen Halbleiterproduktion zusammen. Die Insel hält jedenfalls das Faustpfand mit seinen gewaltigen Fabriken.
Der Befürchtung, die Republik könnte von ihren Verbündeten im Stich gelassen werden, sobald der Westen seine eigene Produktion aufgebaut hätte, sehen die Taiwaner hingegen gelassen entgegen. „Der Bau von Fabriken andernorts wird Taiwans Führungsrolle nicht beeinflussen“, heißt es auf profil-Anfrage von der taiwanischen Auslandsvertretung in Österreich. Zudem sei die taiwanische Halbleiterindustrie „in ihrer Struktur einzigartig. Kein Land (gemeint ist die Volksrepublik China, Anm.), noch die USA, Japan oder Deutschland“, wäre in der Lage, ihren hoch entwickelten Industriezweig zu kopieren.
„Ich habe schon vor Jahren gefordert, dass die EU die eigene Chip-Produktion fördern muss“,
Tatsächlich ist Taiwan nicht nur in der Masse, sondern auch in der Qualität tonangebend. Hoch spezialisierte –meist in Europa gebaute – Maschinen fertigen mehr Schaltkreise auf den kleinen Chips. Schon für 2025 plant TSMC die Fertigung von zwei Nanometer großen Halbleitern. Zum Vergleich: Ein Coronavirus misst zwischen 60 und 140 Nanometer im Durchmesser. Mit bloßem Auge sind die Schaltkreise nicht zu sehen.
Sebastian Kummer sieht für den Ausbau einer europäischen Chip-Industrie Potenzial. „Die niederländische Firma ASML ist Weltmarktführer für die Fertigungsmaschinen der Chips.“ Damit habe Europa bereits wesentliches Know-how, betont der Professor. Dass es möglich ist, in kurzer Zeit solche Entwicklungen anzustoßen, zeige das Beispiel des amerikanischen Grafikkartenherstellers Nvidia, der innerhalb weniger Jahre eine eigene Chipproduktion auf die Beine gestellt hat.
Analysten gehen von einer Vervierfachung der aktuellen Kapazitäten aus, um die von der EU angepeilten 20 Prozent zu erreichen – das kostet. Ein Chip „made in Europe“ wäre zwar ein hoch subventioniertes Produkt, das aber unter gewöhnlichen Marktumständen nicht konkurrenzfähig wäre. Doch sieht Ökonom Kummer den Aufpreis als Versicherung: „Die Gefahr für einen Abriss der Lieferkette ist so groß, dass die EU gut beraten wäre, viel Geld in die Hand zu nehmen.“
Der kostspielige Aufbau einer eigenen Industrie dürfte ein Kraftakt für Politik und Wirtschaft werden, doch ist er für den Fortbestand der liberalen Demokratie überlebenswichtig. Als Beispiel dient der Staatsbankrott der DDR, der den westlichen Embargos auf Technologie geschuldet war. Nicht in der Lage selbst zu produzieren und auf teure Umgehung der Sanktionen angewiesen, erwiesen sich die Mikrochips als mitentscheidend für den Untergang des Systems.
Moritz Gross
hat im Rahmen des 360° JournalistInnen Traineeship für das Online-Ressort geschrieben.
Kevin Yang
seit November 2024 im profil Digitalressort.